Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

Kinder als Zeitungsleser. Von Karl Kraus

11. März 2013 | Kategorie: Artikel

In eigener Sache:

Seit Kurzem bemerke ich, dass irgendein Internet-Lumpenpack bei Aufruf von “ www.das-rote-heft.de“ , Werbung auf meine Seite geschaltet hat, und zwar durch von mir nicht gewollte Hervorhebung von Wörtern.  Ich werde mich dagegen zu wehren, damit zumindest auf dieser Seite die Unkultur ein Ende habe.   W.K.Nordenham.

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Im Jahre 1931 konstatiert Karl Kraus, „dass die Gehirnmasse der Menschheit sich in fünfzig Jahren in Brei und Jauche verwandelt haben wird.“ Die Verlogenheitspostillen von „Neue Freie Presse“ bis zum unsäglichen Naziblatt “ Völkischer Beobachter“ lag ausreichend Beweismaterial vor, um eine solche Prognose zu stellen, deren Schlüssigkeit sich täglich in der Bild-Zeitung manifestiert. Unzählige Ferseh-Formate, die den Begriff vor allen dadurch erfüllen, dass sie bar jeden vernünftigen Inhalts sind, haben sich munter hinzugesellt, rühren die Hirnbrühe um, und wer am besten gerührt hat,  gewinnt.  Worauf Karl Kraus in der Glosse abhebt, ist jene Art von Umfragen, die seither wie eine aufdringliche Krankheit die Menschen ohne jede Distanz der Höflichkeit oder des Anstandes  belästigen. Ungefragt wird umgefragt zu allem und jedem, damit Dummheit ihre Begründung habe. Nichts Neues seit 1931 also.  W.K.Nordenham

 

DIE FACKEL


Nr. 852—856 MITTE MAI 1931 XXXIII. JAHRS. 1 – 4

Glossen

Kinder als Zeitungsleser

Unter dieser Spitzmarke, die den höchsten Triumph bekennt, dessen der Fortschritt habhaft werden konnte, stellt das zufriedene Zentralorgan der Sozialdemokratie fest, dass man die nachteiligen Wirkungen der Sensationsberichterstattung auf den »gesunden Jugendlichen« — welches Wort nach Bonzenfrohsinn schmeckt —, überschätzt habe. Denn er

f r i s s t   z w a r   s e h r   v i e l   i n   s i c h   h i n e i n , verarbeitet es aber doch n u r  in seiner Phantasie, nicht in seiner Moral.

Es werden also weniger Mörder als Schmöcke gezüchtet. Nun wolle jedoch »eine großzügige und objektive Rundfrage des Deutschen Instituts für Zeitungskunde« — denn das gibt es und es ist nicht bloß eine Abteilung des Instituts für kriminalistische Forschung — »noch tiefer schürfen« und festzustellen versuchen,

wie es um die Zeitungslektüre des werdenden Menschen steht, dessen G e i s t  sich erst bildet….

Hunderttausend Fragebogen wurden ausgesandt, indem es sich ja doch von selbst versteht, dass die Jugendlichen statt des Wintermärchens die Generalanzeiger, Vorwärtse und sonstigen Papiere fressen, deren andere Bestimmung, nämlich erfrorene Füße einzuwickeln, mir  kürzlich eine gutmütige Toilettenfrau auf dem Prager Flugplatz vermittelt hat, die es an Menschlichkeit und Sinn für Lebensdinge mit sämtlichen Staatsmännern, Publizisten und sonstigen Missbrauchen des technischen Fortschritts aufnehmen dürfte. Die »Jugendlichen von zwölf bis zwanzig Jahren«  wurden also ausgefragt, ob sie eine Tageszeitung und welche sie lesen, ob sie gar mehrere lesen, »welche Teile der Zeitung interessieren dich am meisten und warum«, ob die Tageszeitung im Schulunterricht herangezogen werde — denn das kommt auch schon vor — und »was hältst du persönlich von der Zeitung?«. Der Zweck dieser Fragen sei leicht ersichtlich, meint das Zentralorgan. Nicht etwa, um schon jetzt zu erkennen, dass die Gehirnmasse der Menschheit sich in fünfzig Jahren in Brei und Jauche verwandelt haben wird, sondern es sollte im Gegenteil einmal

d e r   o f f i z i e l l e n   E i n f ü h r u n g   d e r   Z e i t u n g s l e k t ü r e   i n   d e n  U n t e r r i c h t  v o r g e a r b e i t e t werden, wie von der sozialdemo-  kratischen Pädagogin Dr. Wegscheide- Ziegler m i t   g u t e n   G r ü n d e n   propagiert wird.

Für die Dame, die da offenbar einen Herkulesentschluss gefasst hat — und Vorkämpferinnen führen zumeist einen Doppelnamen — wäre ich ausnahmsweise zu sprechen. Vor allem aber soll sich »ein Bild von dem Verhältnis der Jugend unserer Zeit zur Presse« ergeben, so etwas wie ein »Querschnitt« — das liebt man jetzt — »durch die gesamte geistige Situation der jungen Generation«. Ohne Zweifel muss es doch interessant sein, zu erfahren, wie viel junge Gemüter sich noch für Kerr ( einer à la Reich-Ranicki. Amn. d. Red.) , wie viele sich schon für Hildenbrandt erwärmen, ob sie in der Politik mehr dem Wolff  oder dem Hussong folgen, wie sie gierig aufnehmen, was unser O. K. am Radio erlauscht hat, und ob sie mehr von den täglichen Bulletins über Reinhardt, Jannings, Zuckmayer in Spannung gehalten werden oder durch das, was die sozialdemokratische Presse der Bourgeoisie an Schlafwagenabenteuern abzugewinnen vermochte; wie sie die Sittlichkeit von den Gerichtssaalberichterstattern und die Sprache von den Analphabeten im allgemeinen erlernt haben. Das erfreuliche Ergebnis der Rundfrage zeigt die Tatsache,

dass es unter den Jungen und Mädchen    von  heute f a s t     ü b e r h a u p t      k e i n e    » N i c h t z e i t u n g s l e s e r « gibt.

Aber nicht etwa, dass sie bloß das »Tagerl«, die herzige Filiale des ‚Tag‘, goutieren, nein, solche Kindereien überlassen sie jenen Jugendlichen, die vom Alphabet noch den ersten Buchstaben wiederholen müssen — sie fressen vielmehr alles in sich hinein, was die Erwachsenen fressen.

Von 1854 höheren Schülern zwischen zwölf und achtzehn Jahren teilen nur 27 mit, dass sie keine Zeitung lesen; 1356 sind regelmäßige, 471 unregelmäßige Leser, 437 lesen mehrere Blätter. Und  mehr als 200 lesen nicht die in ihrer Familie gehaltene Zeitung, sondern ein andres Blatt, e i n e   b e m e r k e n s –  w e r t e   g e i s t i g e   S e l b s t ä n d i g k e i t .

Wobei es das zufriedene Zentralorgan gar nicht interessiert, ob diese Revolutionäre nicht vielleicht dem ‚Vorwärts‘, an dem sich die Eltern weiden, schon den ‚Völkischen Beobachter‘ vorziehen oder die schwerindustrielle ‚Börsenzeitung‘, was freilich durch die fesselnde Mitarbeit eines Wiener Genossen entschuldigt wäre.

Besonders interessant sind die Zahlen bei den V o l k s s c h ü l e r n. Von 435 Jungen einer Berliner Gemeindeschule lesen n u r  d r e i  k e i n e  Z e i t u n g,  274 lesen regelmäßig und 158 gelegentlich,

offenbar im Fall des Lustmordes,

62 lesen nicht das Blatt ihrer Eltern, 56 interessieren sich ständig auch für andre Blätter.

Man muss doch auf dem Laufenden sein. Es folgt die Statistik  der Volksschülerinnen, dann noch die der Berufsschüler.

Warum Zeitung gelesen wird, ist oft recht hübsch begründet….. Die politischen Argumente finden sich am meisten.

Es ergebe sich das Bild einer »Generation von werdenden Staatsbürgern«. Die Unfallchronik wird hauptsächlich von Mädchen gelesen:

Sie lesen m e r k w ü r d i g   g e r n  die Berichte über die Katastrophen, Straßenunfälle, Selbstmorde, Morde und ähnliches.

Auf die Frage, warum dieses Thema sie besonders interessiert, erfolgte — nebst Mitleid und anderen Motiven — die Antwort:

»W e i l   e s   s o   s c h ö n   s c h a u r i g   i s t .«

Die Herren vom Institut hatten erwartet, dass Romane und Heiratsanzeigen besonders interessieren würden, aber nein, die stehen erst an neunter, respektive an vierzehnter Stelle. »Der moderne Lehrer weiß«, resümiert das Zentralorgan mit Genugtuung,

d a s s   d i e   Z e i t u n g   e i n   u n e n t b e h r l i c h e s   H i l f s m i t t e l    f ü r   j e d e   E r z i e h u n g s a r b e i t   d a r s t e l l t ….

Ganz abgesehen von der optimistischen Dummheit, die hier stillschweigend auch die Lektüre der kapitalistischen Zeitung als proletarischen Erziehungsfaktor einsetzt, wird doch bei solcher Gelegenheit die volle Hoffnungslosigkeit einer Kulturbetrachtung plastisch, die die Verbreitung des giftigsten aller Bürgergifte, der Druckerschwärze, für einen Fortschritt erachtet und den »Jugendlichen« als eine Kreuzung von Fußballer und Schmock präparieren möchte. Unter ihnen allen aber, die dem Institut für Zeitungskunde antworten mussten, tönt nur den wenigen, die schon in früher Jugend stolz bekennen, »Nichtzeitungsleser« zu sein, glaubhaft die Parole von den Lippen, die ihnen ergraute Bonzen beigebracht haben: »Wir sind jung und das ist schön!« Denen könnte man vielleicht noch das Wintermärchen vorlesen.