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Notizen zur Zeit: Warum posthum Genscher, Herr Steinmeier? Von W.K. Nordenham

27. April 2016 | Kategorie: Artikel, Notizen zur Zeit, Was ein Mensch wert ist

Neue Züricher Zeitung

«Colonia Dignidad» in Chile

Deutscher Aussenminister gibt Akten zu Auswanderer-Siedlung vorzeitig frei

26.4.2016, 15:53 Uhr

(dpa)Das deutsche Auswärtige Amt gibt seine Akten über die berüchtigte frühere Deutschen-Siedlung «Colonia Dignidad» in Chile vorzeitig für die Öffentlichkeit frei. Das kündigte Aussenminister Frank-Walter Steinmeier in Berlin an. Normalerweise wäre das Material noch bis zu zehn Jahre unter Verschluss geblieben. Zugleich gab Steinmeier zu, dass die deutsche Diplomatie zu wenig unternommen habe, um den Opfern der «Colonia Dignidad» zu helfen.Die Siedlung liegt etwa 350 Kilometer südlich der Hauptstadt Santiago und war Anfang der 1960er Jahre von deutschen Auswanderern gegründet worden. Ihr Anführer Paul Schäfer machte daraus eine Art Sekte, deren Grundstück mit Stacheldraht abgeriegelt wurde. Ohne Schäfers Erlaubnis durfte niemand das Lager verlassen. Während der chilenischen Militärdiktatur (1973-1990) wurde dort auch gefoltert.

Hochanständig, dass die dpa den vielfachen Kindesmissbrauch Paul Schäfers unerwähnt lässt und sein Terrorregime als eine Art Sekte verniedlicht. Was treibt das Auswärtige Amt die Akten jetzt freizugeben? Liegt es an dem in Kürze erscheinenden Kinofilm über Colonia Dignidad, der das komplette Versagen der deutschen Botschaft aufzeigt? Auch wegens des Todes von  Hans Dietrich Genscher fällt der Zeitpunkt der Freigabe der Akten  günstig, soeben posthum. Ein Zufall? Verantwortlicher Außenminister für „die deutsche Diplomatie“ war von  1974 bis 1992 mit Unterbrechung von einem halben Jahr nämlich Hans Dietrich Genscher, einer deutschen Diplomatie, die laut Steinmeier „zu wenig unternommen“ habe. Dem muss in anderem Sinne widersprochen werden, denn sie hat einiges unternommen um den Sachverhalt zunächst konsequent zu verschleiern. Nett, wenn man sich dann mit dem Begriff „deutsche Diplomatie“  so mir nichts dir nichts in Anonymität flüchten kann. Gerade trug man noch die ganze Verantwortung, einen Moment später, wenn sie übernommen werden soll, weiß man von nichts. Ist der Wind vorbei, dann trägt man sie wieder, wie einen Hut, den man nach gusto aufsetzt. Es macht nämlich einen Unterschied, ob die Verantwortung bloß wichtig herumgetragen und vorgezeigt wird oder ob man sie tatsächlich annimmt, sich zu ihr bekennt. Es ist der zwischen Charakter und Chuzpe, zwischen Sein und Schein und viel zu oft zwischen Leugnen und Schuld. Der da 1989 in Prag auf dem Balkon der Botschaft stand, wusste von der Colonia Dignidad schon früh. Amnesty International und die UNO berichteten seit 1977 über das deutsche Folterlager in Chile. Bis 1985 geschah trotz etlicher Hinweise nichts. Erst danach gab es die seit Jahren überfälligen Interventionen, wenigstens dann, wenngleich mit schmalem Erfolg. Aber da waren hundert weitere Kinder dem Schänder Paul Schäfer zum Opfer gefallen. Sein ärztlicher Mittäter war der Arzt Hartmut Hopp, der wegen Beihilfe zum Kindesmissbrauch von einem chilenischen Gericht zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde. Er setzte sich nach Deutschland ab und lebt hier geschützt vom deutschen Staat. Ein Strafverfahren hier zieht sich  trotz unstrittiger Schuld seit 2015 diplomatisch hin.  Aber der deutsche Außenminister Genscher wusste 1977 auch von von einer jungen Frau in Argentinien in Folterhaft mit Namen E l i s a b e t h   K ä s e m a n n . „Ach, das Mädchen Käsemann“, soll Hans-Dietrich Genscher einmal bei einer Besprechung gesagt haben(1). Mehr nicht, das geriet zum Todesurteil. De mortuis nihil nisi bene, über die Toten nichts Schlechtes, aber es hätte dem Herrn Genscher mehr als gut angestanden, die causa Colonia Dignidad selbstkritisch zu bewerten und zu Lebzeiten das Versagen im Fall Käsemann  einzugestehen. An Versuchen, ihn zum Sprechen zu bewegen, hat es nicht gefehlt. Nicht nur den Triumph genießen, sondern auch das mea culpa aussprechen, es hätte mehr gewogen als ein halbes Dutzend Prager Balkons und eine Größe bewiesen,  zu der er offenbar unfähig war. So groß er schien, er hätte größer sein können. Wie üblich erblickte der große Moment ein kleines Geschlecht. Über die Schreckensherrschaft der Colonia Dignidad gibt es, wie oben angeführt, einen aktuellen Film von Florian Gallenberger. Das Martyrium von Elisabeth Käsemann wird beschrieben in dem deutschem Dokumentarfilm aus dem Jahr 2014 von Regisseur Eric Friedler “ Das Mädchen – Was geschah mit Elisabeth K.?“

Die komplette Freigabe der Akten zu diesem Fall dürfte noch dauern, nachdem man schon den Dokumentarfilm darüber 2014 ministerlich-diplomatisch unbeschadet ausgesessen hat. Nunmehr wird eine sehr lange posthume diplomatische Anstandsfrist gewahrt werden. Darauf möchte ich wetten, Herr Steinmeier.

https://de.wikipedia.org/wiki/Colonia_Dignidad_%E2%80%93_Es_gibt_kein_Zur%C3%BCck

https://de.wikipedia.org/wiki/Elisabeth_K%C3%A4semann

http://www.welt.de/politik/deutschland/article128745445/Warum-rettete-Genscher-deutsche-Studentin-nicht.html

(1 ) http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/die-bravouroese-ard-dokumentation-das-maedchen-12972669.html