Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

Notizen zur Zeit: Ralph Giordano – Von der Aktualität eines besonderen Zeitgenossen. Von W.K. Nordenham

25. April 2016 | Kategorie: Artikel, Notizen zur Zeit

Jetzt erst fiel mir Ralph Giordanos Buch  in die Hände über seinen Aufenthalt in Jerusalem im Jahre 1990, der ihn durch das ganze Land und auch in die besetzten Gebiete führte. Aber er spricht auch von arabischem Denken und erklärt uns damit gleichzeitig eine Geisteshaltung, die uns mit den Flüchtlingen soeben millionenfach erreicht. Die Hellsicht dieses Reiseberichtes mit dem Titel „Israel um Himmels Willen Israel“ ist von solcher Aktualität, dass ich mir mehrfach klarmachen musste: Dies ist ein Buch von 1991 und nicht 2016 und reicht von Israel bis zur aktuellen Weltpolitik. Man versteht die merkwürdige arabische Weltsicht von heute. Solche Hellsicht erscheint undenkbar ohne Wahrhaftigkeit. Das seinen Texten eigene Pathos bezeugt zudem seine Leidenschaft und spiegelt die Liebe zur Sache, eine Liebe und Leidenschaft, die in unbedingter Menschlichkeit wurzelte, einer für ihn unteilbaren „Humanitas“. Im Moment  erlaube ich mir ohne Genehmigung ein paar Seiten aus seinem Israelbuch von 1991 zu veröffentlichen und empfehle es als Lektüre jedem, der schon glaubt, etwas zu wissen.  Rita Süßmuth sagte 1990 in Jerusalem: “ Es wird kein Frieden sein in der Region, bis Israels Nachbarn aufhören es zu bedrohen.“ Das zitiert Ralph Giordano. Da geht es nicht nur um die Palästinenser und Israel, sondern um ganz Arabien und den Iran, also jene die schon 1948 den Staat für die Palästinenser über deren Kopfe hinweg abgelehnt haben und sie heute trotz ihrer Öl-Milliarden komplett allein lassen. EU und USA zahlen mehr als die Golfstaaten. Bemerkenswert Giordanos prophetische Analyse  des islamischen Fundamentalismus, der inzwischen die Welt erfüllt mit sinnlosen Mordtaten. Die menschlichen Opfer verfehlter Nahost-Politik gelangen in ihrer Not zu uns, aber sind sozialisiert in arabisch-muslimischen Raum. Da herrscht eine komplett andere Weltsicht. Diese in Richtung unseres Grundgesetzes zu ändern wird Hauptaufgabe einer Integration sein, die als solche von der Politik bisher kaum verstanden wurde und wird.  Das muss begriffen werden, darum der nachfolgende Text. Ralph Giordano verstarb 2014 in Köln. Am 20 März 2016  wäre er  93 Jahre alt geworden. Für sein Buch möchte ich werben.

Ralph Giordano „Israel um Himmels willen Israel“  Kiepenheuer&Witsch, 1991 und 2002  410 S. bzw. 416 S.

(…) Schon wenn westliche Politiker Gott anrufen, dreht sich mir der Magen um. Die Beschwörung Allahs jedoch und die Trommelei zum „Heiligen Krieg“ in den islamischen Gesellschaften verursacht mir eisiges Entsetzen. Die Aufforderung der schiitisch-iranischen Ayatollahs, den Schriftsteller Salman Rushdie eines Buches (1) wegen zu töten, und die weite Zustimmung, die sie auch unter Sunniten gefunden hat, werfen ein Schlaglicht auf eine Vorstellungswelt, die sich beliebig zum Herrn über Leben und Tod aufwerfen zu können glaubt und eine Kluft zur Weltgesittung aufreißt, die unschließbar scheint. Die Ursachen von Ohnmacht und Rückständigkeit werden immer woanders gesucht, nur nicht im eigenen Versagen, Selbstkritik ist unbekannt. Es sind immer der Kolonialismus und seinen Folgeprobleme, es sind, noch einmal, stets die anderen, die „Weißen“, die Europäer, die Amerikaner, die verantwortlich gemacht werden – alle Übel kommen von außen.

Ein weiteres Charakteristikum des Nahostkonflikt besteht darin, dass er nicht zwischen Demokratien ausgetragen wird, sondern die Feinde Israels Staatsformen und Geschichtsüberlieferungen repräsentieren, in denen Begriffe wie Menschenrechte, Wert des Individuums, gar der Frauen, Gleichberechtigung, Gedankenfreiheit, Säkularisierung Fremdwörter geblieben sind. Einheimische Einparteiendespotien, auf dem Reißbrett nach 1918  künstlich konstruierte Königreiche, mittelalterlichen Traditionen verhaftete Monarchien oder innenpolitisch dauergefährdete Ölscheichtümer, sie haben jede freie Entwicklung unterdrückt, ungeheure Mittel für Prestigebauten und gewaltige Armeen verschwendet und zu phantastischer persönlicher Bereicherung geführt. Dass sich dadurch die schweren sozialen Spannungen noch verschärften, bedarf keiner Erwähnung. Ohne den zionistischen Gegner wäre dieses Pulverfass wahrscheinlich längst in die Luft geflogen(2). So erkennbar die innenpolitische Funktion des sogenannten Antizionismus ist, von den arabischen Ländern dürfte sie bisher kaum erkannt sein.

Deshalb können politische, soziale, militärische Katastrophen in ihren Augen nur die Folge ausländischer Verschwörungen sein, werden also Missstände und Schlimmeres ganz selbstverständlich in die Verantwortung fremder Mächte delegiert(3). Ich sehe keine Möglichkeit die dortigen Verhältnisse zu verändern, ohne diese Weltsicht zu beseitigen, mag die Hilfe von außen noch so groß sein. Leider hindert ein tiefsitzendes schlechtes Gewissen die meisten Europäer dran, der arabischen Welt diese und andere traurige Wahrheiten vorzuhalten.

Zu ihnen gehört die weitverbreitete Abneigung, die Wirklichkeit unvoreingenommen wahrzunehmen und belastende Realitäten, die mit den eigenen Wünschen und Vorstellungen nicht übereinstimmen, anzuerkennen. Die Palästinenser haben dafür während  des Golfkriegs und danach erschütternde Beispiele (4) geliefert. Und es war dann Saddam Hussein selbst, der mit seiner durch nichts gedeckten Großmäuligkeit von der „Mutter aller Schlachten“ das geradezu klassische Beispiel arabischer Realitätsverweigerung geliefert hat. Diese Unfähigkeit trägt das ihre dazu bei, notwendige Wandlungen und Reformen zu behindern. Sie ist Bestandteil des Nahostkonflikts.(…)

Mehr und mehr entpuppt sich dabei als treibende Negativkraft ein bereits erwähnter religiöser Fanatismus, der sich als Renaissance des Islam ausgibt, realistisch gesehen aber nicht anderes ist als die wütende und fruchtlose Antwort auf eine schwere historische Enttäuschung – auf die fehlgeschlagene „Revolution der Erwartung“. Sie war Ausdruck eines kollektiven Aufbruchs in Asien, Afrika und Lateinamerika schon während de zweiten Weltkriegs, der dann aber noch verstärkt wurde durch die Sehnsucht ehemals kolonial unterdrückter Völker, das weiße Joch abzuwerfen, sozial, kulturell, national wie Phönix aus der Asche zu steigen, nach dem siegreichen Kampf gegen die weißen Drohnen in Licht, Glück und Wohlstand einzutauchen und alles zu überwinden, was sich dabei in den Weg stellte.

Es wurde nichts überwunden, wie schon ein erster Blick auf die zeitgenössischen Hunger-, Not- und Elendsszenarien der Dritten Welt erkennen lässt, und ich war in den vergangene dreißig Jahren in meiner Eigenschaft als Fernsehmann oft genug Zeuge der ebenso weltweiten wie herzzerreißenden Desillusionierung dort. Nahezu überall ist sie gescheitert, die „Revolution der Erwartung“, sind ihre wilden Hoffnungen und ihre verzückten Phantasien zerstört worden, auch in der arabischen Welt.

Die Enttäuschung darüber ist der Humus für Israels gefährlichsten Gegner, den islamischen Fundamentalismus (5). Er entspringt nicht historischer Stärke, wie damals, Mitte des 7. Jahrhunderts, als die Reiterscharen unter der grünen Fahne des gerade verstorbenen Propheten Mohammed aus der arabischen Halbinsel hervorbrachen und in unaufhaltsamem Siegeszug ganze Kontinente vom Indus bis zu den Pyrenäen eroberten. Was sich dagegen heute unter ständiger Berufung auf die einstige Größe als Wiedergeburt des Islam gebärdet, ist nicht als der Reflex auf die historische Schwäche der arabischen Welt, ist Schein und Vorspiegelung, ungedeckt durch reale Energien und die Gunst der geschichtlichen Stunde. Die Aufforderung des islamischen Fundamentalismus, zur Strenge der Frühzeit zurückzukehren, dient der Flucht aus diesseitiger Enttäuschung  in die Verheißung jenseitigen Glücks.  (…)

Das Symbol für die verhasste Überlegenheit aber, die tatsächlichen und die eingebildeten Demütigungen, die fremd- und selbstverschuldeten Untergänge, die schlimme Gegenwart und deprimierende Perspektive, das Symbol also für den „Westen“ und seine Hauptmacht USA, den „Großen Satan“- ist Israel. Das sind die größeren Zusammenhänge seiner Bedrohung durch die Araber.

Entgegen anderslautenden Zweckbeteuerungen, die sich während des Golfkriegs nur noch einmal als platonisch entpuppten, ist dem Judenstaat, mit der zerbrechlichen ägyptischen Einschränkung, von seinen Gegnern nie etwas anderes entgegengebracht worden als der gemeinsam arabische Wille zu seiner Vernichtung. Er ist die Ursache der israelischen Unnachgiebigkeit, der israelischen Angst. Ohne ihre Aufhebung wird es keine Lösung geben . (…)

Was sind das für Leute, die Flugzeuge vom Himmel herunterholen mit Menschen, die am israelisch-palästinensisch-arabischen Konflikt völlig unbeteiligt und also gänzlich unschuldig sind – wie jene Passagiere des PanAm Flugs 103 am 21. Dezember 1988 (6) über Lockerbie abstürzten? Was ist das für eine Mentalität, die sich da zum Scharfrichter über 271 Menschen machte und den Massenmord mit eigenen Problemen rechtfertigte? Was sind das für Leute, die während einer Flugzeugentführung den Leichnam des erschossenen Piloten aus der Maschine auf das Rollfeld klatschen ließen wie damals in Mogadischu? Oder die auf dem italienischen Kreuzfahrtschiff „Achille Lauro“ einen jüdischen Amerikaner, Leon Klinghofer, erst töteten und ihn dann mit seinem Rollstuhl ins Meer stießen? Was sind das für Leute, die tatsächliche oder angebliche Kollaborateure  auf der Westbank und im Gazastreifen  auf so grausame Weise langsam Glied um Glied sterben lassen, Kinder, Hausfrauen, alte  Männer, dass ich die Wiedergabe solcher Abschlachtungen (7) meinen Lesern nicht zumuten mochte?

Was sind das für Leute, die hoffen, dass die Intifada – ich weiß, wovon ich spreche – möglichst viele „Märtyrer“ hervorbringen wird? Was sind das für Leute, die in Tel Aviv und seinen Hotels nur deshalb nicht das geplante Blutbad anrichten konnten, weil die Motoren ihrer Schnellboote beim Angriff auf die Küste versagten? Was sind das für Leute, die aus der Tatsache, dass ihnen das eigene Leben gleichgültig ist, den Schluss ziehen, es anderen einfach nehmen zu dürfen? Und welchen Einfluss würden sie in einem Palästinenserstaat ausüben?

Das Elend der Palästinenser, in das ich tiefen Einblick nehmen konnte, muss gewendet, ihre Not beseitigt werden. Ich habe nichts davon vergessen, kein Wort und kein Bild ihres Leids. Gaza verfolgt mich bis in die Träume. Die Parole palästinensischer Selbstbestimmung steht auf der Welttagesordung, und von da kommt sie nicht eher herunter, bis sie durchgesetzt sein wird. (…)

Ich mache hier aus meinem Herzen keine Mördergrube, sondern erkläre meine tiefe Skepsis gegenüber der Friedensfähigkeit einer Organisation, deren Antlitz weit mehr geprägt ist von den Fraktionen der Terroristen als von allen anderen. Natürlich gibt es Differenzierungen, ich selbst habe gemäßigte Palästinenser kennengelernt, ja, Freunde unter ihnen gewonnen, wie dieses Buch ausweist. Aber nicht sie haben bisher das Feld beherrscht. Dennoch ist die PLO (8) die Vertretung der Palästinenser, und wie ich diese kennengelernt habe, werden sie an ihr festhalten.“

 

Anmerkungen von mir:

(1)  Soweit ich weiß, besteht  die Todes-Fatwa immer noch

(2)  Es ist in die Luft geflogen im arabischen Frühling, mündete in Autokratie in Ägypten, eine zerbrechliche Demokratie in Tunesien, EU/USA mit induziertes Chaos in Libyen und aus derselben Ursache einen andauernden Bürgerkrieg in Syrien.

(3) Aktuell sieht sogar ein Nicht-Araber wie Erdogan, immerhin Muslim, die EU am Werk, die Türkei unterdrücken zu wollen.

(4) Man erinnert sich Arafat umarmte Saddam Hussein und die Palästinenser standen auf ihren Hausdächern um den Untergang Israels durch Saddams mit Gas bestückte Raketen zu feiern.

(5) Inzwischen trifft  die ganze Welt der Wahnwitz des IS , Al Quaida,  lokal  Al Shabaab, Bokoharam, Jemaah Islamiah und ungezählter  muslimischer Mordbanden.

(6) Kürzlich der Abschuss einer russischen Maschine mit über dem Sinai. An Bord des Flugs Kogalymavia-Flug 9268  am 31. Oktober 2015 befanden sich 224 Personen (darunter 25 Kinder sowie sieben Besatzungsmitglieder).

(7) Hat Al Quaida und IS inzwischen massenhaft in Bildern nachgeliefert.

(8)  Die PLO lehnt Israel 2014 offiziell als Staat ab, will aber selbst einer sein. Hier die Quelle:

http://www.welt.de/politik/ausland/article125657136/Applaus-fuer-Ablehnung-Israels-als-juedischer-Staat.html