Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

Was ist Kunst? Von W.K. Nordenham

28. Januar 2014 | Kategorie: Artikel, Kunst, Notizen zur Zeit

Die Notwendigkeit bei einer Vernissage eine Ansprache zu halten, erscheint durch langjährige Gewohnheit unvermeidlich und ist dennoch lässlich. Allenfalls die Vorstellung des Künstlers, des Bildhauers oder des Machers wäre erforderlich – sonst nichts. Häufig und ärgerlicherweise erfolgen zusätzlich Interpretationsversuche der Werke durch Redner und Beurteiler. Aber wer soll etwas über diese wissen, wenn nicht der Hersteller. Der aber lässt seine Bilder oder Skulpturen sprechen, als Raum-Bild Kontinuum, eine Verbindung von Kunst und Raum und Zeit. Alle guten Kunstwerke fangen einen Augenblick der absoluten Reflexion der Menschheitsgeschichte ein, als besondere Antwort auf die ewige Frage der Philosophie und heute mehr und mehr auch der Kunst: Wer sind wir und was haben wir auf dieser Erde zu suchen? Denn Kunst hat lange schon einen Auftrag der Philosophie für sich entdeckt, nämlich die Bewahrung und Demonstration der menschlichen Identität. Kunst hat nur eine Verpflichtung: Wahrheit – und eine Bedingung: Freiheit. Das meint die Loslösung von jeder Fessel. Wenn nichts mehr zwingt, dann entsteht die Bedingung für Kunst. Joseph Beuys hat 1977 Ähnliches in einem Vortrag auf der Dokumenta formuliert. Der Betrachter muss also sehr weit mitgehen, wenn er sich nähern will. Das führt dann zu verfrühter Ablehnung, häufiger noch verfrühter Zustimmung. Beides ist jedoch ohne Bedeutung; denn wenn ein Kunstwerk einen wahren Gedanken trifft und ihn erfasst, dann ist letztendlich nur wichtig, dass es diesen Gedanken gibt, wie den Urwaldriesen mitten im Amazonasbecken, den noch niemand geschaut hat. Er ist dennoch vorhanden! Das Urteil darüber – unwichtig.

Die Sprache hat es da leichter als die bildende Kunst. Einen unsinnigen Gedanken erkennt man. Ein unsinniges Kunstwerk ist schwerer auszumachen, weil es um das Geheimnis des Ursprungs geht. Um Missverständnisse zu vermeiden: Beuys Skulpturen, seine Ensembles, seine Fettecken, seine Aphorismenbilder, wie ich sie nenne, sind sein Geheimnis. Es ist wie bei dem Kind, welches in einem beliebig geformten Sandhaufen ein Tier, eine Stadt, einen Riesen ein Auto oder ein Schiff erblickt. Jeder muss selbst sehen, erfinden. Beuys hat sicherlich seinen „Blitzschlag mit Hirsch“ z.B. und seine Bilder so gesehen. Also muss man werden wie ein Kind. Den Kreis von Sein, Bewusstsein, Wissen, Erkenntnis, Handeln schließen zum Sein, zurück zum Ursprung, in den Zustand der „Unschuld“ wie Kleist in seinem Aufsatz > Über das Marionettentheater< schreibt. Dann kann man sich dem Geheimnis wieder nähern, jeder für sich. Wie viele Menschen, so viele Kunst, die sich selbst genügt wie die Schöpfung. Warum ist ein Berg ein Berg, ein Apfel ausgerechnet ein Apfel? Weil ein Bild ein Bild ist und ein Gedanke ein Gedanke, eine Skulptur eine Skulptur!

Unsere Zeit hat die Frage von „Sein oder Nichtsein“ auf „Sein oder Design“ reduziert und gibt sich mit der Frage die Antwort. Der Mensch genügt als Funktion der Hülle; denn je weniger sich der Mensch ähnelt, desto besser funktioniert er. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt. Kunst aber macht ähnlich. Deshalb kann man einfach weitermachen und sich noch freuen im Angesicht des Abgrunds, weil die Schöpfung ungeheuer ist,… Schöpfung, die sich noch in jedem Stein, in jeder Blume, in jedem perfekt formulierten Gedanken, in jedem wirklichen Bild offenbart, so, wie jeder Tag als unwiederbringlich verstanden und einzig gelebt werden muss. Über das Wesen der bildenden Kunst ist viel Widersprüchliches geschrieben worden, dass nur zu sagen bleibt, sie lässt sich nicht mit einer einzigen Metapher erklären. Kunst spricht selbst, und es ist über sie nichts zu sagen als Überflüssiges. Kunst will nicht verstanden, sie kann nur erfühlt werden, wie die Schönheit eben eines Steines, eines Regentropfens, eines Sonnenstrahls, eines Halms. Wenn sie erklärt werden soll, dann ist es mit ihr vorbei, wie mit einem Witz dessen Pointe man erklären muss. Kunst hat ihre eigene Pointe, die dem Schöpferischen entstammt. Andersherum verstanden wäre Kunst also dem Wesen nach ein Witz, über den ein Gott lacht.

Vorgetragen bei einer Vermnissage – Begegnungen am Ursprung 2001