Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

Notizen aus Medienland – Der Tod ist das Geschäft. Oktober 2011. Von W.K.Nordenham

24. Oktober 2011 | Kategorie: Artikel, Journalisten, Notizen aus Medienland, Was man so lesen muss

Gaddafi ist tot. Die Bild-Zeitung und Spiegel  zeigen das Bild des Erschossenen. Dazu die

Süddeutsche Zeitung.

Toter Gaddafi im „Spiegel“. Wenn ein Diktator zur Trophäe wird 24.10.2011

Von wegen kritische Distanz im Journalismus: Im aktuellen „Spiegel“-Heft ist ein Foto zu sehen, das den toten Muammar al-Gaddafi als Trophäe zeigt. Und auf eigenartige Weise an Hemingway erinnert. Das höchste  Glück des Großwildjägers ist das Foto zum Schluss. Es zeigt den Waidmann mit Gewehr neben dem erlegten Tier, der Trophäe. Hemingway ließ sich so gerne ablichten (mit Leopard). Der Trophäen-Journalismus dieser Tage lebt davon, tote Gruselgestalten abzubilden, Diktatoren etwa.   Im  aktuellen   „Spiegel“  posiert,  gleich  vorn  in  der  „Hausmitteilung“,  eine  Redakteurin  neben  dem  toten  Muammar  al-Gaddafi. Der libysche Schreckensherrscher liegt auf einer Matratze, in einem „gut  gekühlten  Raum  von  den  Ausmaßen  einer  Autogarage“, wie  es  hausmitteilt;  die  Reporterin  trägt  eine  Art  Shopper-Bag. Keine Rolle spielen ethische Fragen, die Agentur AFP hat sich sogar des „weltweiten Scoops“ gerühmt, die Fotos des Toten verbreitet zu haben. Der Deutsche Journalistenverband hat einst festgehalten, Journalisten sollten zu Akteuren „kritische Distanz“ bewahren, sich politisch nicht instrumentalisieren lassen. Die Würde der betroffenen Menschen sei zu achten, hieß es.

Das war 2002, in der Steinzeit des „modernen Journalismus“.

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Wenigstens gut gekühlt hatte es die Redakteurin, deren Namen die „Süddeutsche“ nicht mitteilt und die wohl eiskalt genug für den Auftrag war. Das sei der Grundparagraph solcher Journalisten :

Die Würde des Menschen ist antastbar. Sie zu missachten und zu benutzen ist Aufgabe aller medialen Gewalt.

Dass sie keinen Respekt vor einem toten Gaddafi haben, der sicherlich ein Verbrecher war und dem sie als bedrohlich Lebenden zu seinen Machtzeiten doch sonst wohin hinterher- und  hineingekrochen wären, verwundert nicht. Aber die Achtung vor der Würde eines Toten und vor allem der Majestät des Todes hätten die Veröffentlichung eines solchen Bildes verboten. Mich werden sie dafür als weltfremd abtun und machen doch mir die Welt fremd.

Nun gehörte Würde und Achtung noch nie zum Anstandskatalog der Bild-Zeitung und wie man da sieht,  auch  nicht zu der des „Spiegel“, dessen Journaille- Ethos, falls es so etwas überhaupt gibt, vor dem Bild des toten Gaddafi ungerührt kollabiert. Das fällt sogar der Münchner Konkurrenz auf.  Leider verharmlost die „Süddeutsche“ unzulässig. Sie macht eine journalistische Würde im Jahr 2002 aus, in der Fehleinschätzung, der Journalismus habe  damals die zu achtende Würde noch zu berücksichtigen gehabt, die er doch längst auf dem Boulevard erledigt hatte. Vermutlich wurde sie im dafür besonders erwähnten Shopper-Bag mitgeführt.  Der noch an jedem Thema oder Foto sich willig prostituierende journalistische Informationsgehalt, der schon beim toten Saddam als rechtfertigende Notwendigkeit herhalten musste, fände das passende Spiegelbild in einem abfälligen Grinsen aus den Redaktionszellen, an dem solcher Einwand abtropfte. Dort sitzt beisammen, was eine Klientel bedient, der gleich ihnen von jeher der Geifer zu leicht von den Lefzen troff, zurechtgeknüppelt mit  den Schlagzeilen ungezählter Millionenauflagen, gepresst noch aus jedem Kadaver, zum tagtäglichen Abfüllen der Großbuchstabenkonsumos.

Um den Wegstrecke der Zeitungskilometer zu ermessen, die bis in die Untiefen solchen Geschmacks führte, sei eine kurze Bemerkung eingefügt. Ein NDR-Redakteur berichtete von einem Geburtstag seiner etwa zehnjährigen Tochter, als Fernsehen noch nicht überall die Schule der Nation darstellte. Es waren Kinder vom Dorfe eingeladen und der Vater besaß ein Filmvorführgerät. Zur Feier des Tages wurde ein Film gezeigt, der die Dorfkinder mehrfach dazu veranlasste, aus Angst vor den sie aufregenden Bildern, das Gesicht hinter den Händen zu verbergen.  Der Titel des Film lautete: „Der gestiefelte Kater“.

Welche Seelenverbildung, welche optischen Grausamkeiten sind zu erdulden, bis sich eine Leserschaft zu Leichenbildern z. B. ein Mittagessen servieren lässt, um nebenbei ganz angenehm bei laufendem Fernsehbild über Brutalität und Menschenverachtung der Welt zu räsonieren? Hinter jedem Täter, der auf einem Bahnsteig in der U-Bahn einen Mitmenschen erledigt, steht eine lange Reihe von Schreiberlingen und Bildmachern, die den Boden bereiteten auf dem das wuchs. Das Bild des erschossenen Gaddafi passt nahtlos in diesen Kontext. Eine Menschheit daran gewöhnt zu haben, bezeichnet eine Sünde, die nicht vergeben werden kann.

*

Aus DIE FACKEL  Nr. 418—422 8. APRIL 1916 XVIII. JAHR

Wehe, wehe über die Tagespresse! Käme Christus jetzt zur Welt, so nähme er, so wahr  ich lebe, nicht Hohepriester aufs Korn, sondern die Journalisten!

*

Gott im Himmel weiß: Blutdurst ist meiner Seele fremd, und eine Vorstellung von einer Verantwortung vor Gott glaube ich auch in furchtbarem Grade zu haben: aber dennoch, dennoch wollte ich im Namen Gottes die Verantwortung auf mich nehmen, Feuer zu kommandieren, wenn ich mich nur zuvor mit der ängstlichsten, gewissenhaftesten Sorgfalt vergewissert hätte, daß sich vor den Gewehrläufen kein einziger anderer Mensch, ja auch kein einziges anderes lebendes Wesen befände als — Journalisten.

Sören Kierkegaard, 1846.

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Und nach siebzig Jahren, wo es um so viel siebzigmal wünschenswerter wäre, als es siebzigmal mehr Gewehrläufe und Journalisten gibt, stehen sie nicht vor ihnen, sondern dahinter, haben sie laden geholfen und sehen zu, man zeigt ihnen, wie es schießt und fließt, und wartet, bis sie kommen, es zu beschreiben.

Welche Verantwortung nimmt die Erde, die solches will und erträgt, im Namen Gottes auf sich!

Karl Kraus


Ja, so war er, der Karl Kraus ! Aus der Studentenwelt. Von W.K.Nordenham

22. September 2011 | Kategorie: Journalisten, Notizen aus Medienland

So bei ZEIT- online nachzulesen und nicht von mir :

ZEIT ONLINE  Uni-Leben  vom 10.06.11

Studenten von früher

Karl Kraus

Der Satiriker Karl Kraus nahm die verlogene Sprache des österreichischen Establishments auseinander. Was wohl heute aus dem scharfzüngigen Kritiker geworden wäre?

Über ein Wort wie Straßenreinigungsmaschine konnte Karl Kraus sich aufregen. Weil sie den Staub nur aufwirbelt – und nichts reinigt. In einem solchen Fall war mal wieder »der Blick auf die Dinge durch Phrasen verschattet«. Die Phrasen sollten weg, die ganze Welt war voller Phrasen, besonders Wien und seine Zeitungen. Mit seiner Zeitschrift, der Fackel, richtete Kraus das Establishment stilistisch einwandfrei hin.

1874 wird er in Nordböhmen geboren und zieht als Dreijähriger mit seiner Familie nach Wien ins Zentrum der Doppelmonarchie. Wohl auf Wunsch seines Vaters immatrikuliert er sich nach seiner Matura an der Wiener Uni, juristische Fakultät. Während seines Studiums schreibt er für verschiedene Wiener Zeitungen, meistens Feuilletons. Über sein Fach Jura schweigt Kraus sich aus. Was bei jemandem, der sich ansonsten zu allem äußert, nur eins bedeuten kann: allergrößtes Desinteresse. Anstatt sich mit seinen Kommilitonen zu treffen, geht er ins Café Griensteidl. In diesem Literatenladen ringen junge Genies im Zigarettenqualm mit der Kunst: Arthur Schnitzler, Felix Salten, Hugo von Hofmannsthal. Kraus sucht ihre Nähe. Aber er merkt auch: Sie alle hinterlassen dauernd Sprachmüll, den keiner wegräumt.

Im Sommer 1894 wechselt Kraus zur Germanistik. Er hört Vorlesungen zu Opitz, Klopstock, Goethe, so das Übliche. 1898 bietet die renommierte Neue Freie Presse dem Studenten eine Kolumne an – er lehnt kühn ab. Allein das Redigiertwerden empfindet Kraus als Zumutung und Zensur. Das schnelle Urteil und das arrogante Scharfrichtertum zeichnen schon den 24-Jährigen aus. Hierarchien sind nicht seine Sache.

  • Der Steckbrief

Name: Karl Kraus (1874 bis 1936)

Studium: Jura, Germanistik, Philosophie

Abschluss: keiner

Besondere Vorkommnisse: Um seinen Unterhalt musste sich Kraus nie sorgen. Seine Familie zahlt ihm lebenslang eine monatliche Rente

Beruf: Sprachkritiker, Satiriker, Verleger

Wichtigste Auszeichnung: Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof, Gedenkplatte an seinem Haus, digitalisierte Ausgabe der Fackel mit Volltextsuche: bit.ly/campus_fackel

Im gleichen Jahr wechselt er die Fronten, er will seine eigene Satirezeitung machen, in einer Stadt der Prunkfassaden und Maskeraden, in der sich alles um die Kunst und, Freud sei Dank, auch um Sex dreht. Zum Glück ist sein Vater ziemlich wohlhabend, er besitzt eine Papierfabrik und finanziert dem Sohn die erste Ausgabe seiner Fackel im April 1899. Kraus schreibt: „Das politische Programm dieser Zeitung scheint somit dürftig; kein tönendes ‚Was wir bringen‘, aber ein ehrliches ‚Was wir umbringen‘ hat sie sich als Leitwort gewählt.“ Der Scharfrichter lädt durch. Die Kaffeehausliteraten und die „Feuilletonschlampen“ – sie alle werden in nächster Zeit zu Kraus’ Opfern. Er scheut das Indezente nicht, spottet über ihre Namen, ihre Religion und – natürlich! – über ihren Stil.

Im Privaten soll Kraus zahm gewesen sein, liebenswürdig und zur Freundschaft begabt. Er heiratete nie. Aus einigen unglücklichen Liebschaften mit Schauspielerinnen und adeligen Damen sind Briefe erhalten, in denen er schon mal den weiblichen Verstand als „Aphrodisiacum“ preist. In Weltanschauungsdingen ist er eher sprunghaft. Erst tritt er aus der jüdischen Gemeinde aus, konvertiert dann zum Katholizismus, um ein paar Jahre später die Kirche wieder zu verlassen. Er kokettiert mit seinen politischen Überzeugungen, ist zu Beginn des Ersten Weltkriegs zwar Pazifist, jedoch strenger Befürworter der Monarchie, später wird er zum sozialdemokratischen Republikaner – was aber auch nicht für immer hält. Gegen das Kriegsgeschrei 1914 schreibt er an, denn in den kriegstreiberischen Leitartikeln und kitschigen Schützengrabenreportagen zeigt sich jener verlogene Missbrauch der Sprache, den er anprangern will. Doch als man ihn am dringendsten braucht, schweigt Karl Kraus lange: Heute noch hält man ihm vor, dass er nach der Machtergreifung Hitlers 1933 nichts zu sagen hatte. Bloß ein Gedicht erscheint Ende 1933 in der Fackel , der letzte Vers ist berühmt: »Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte.« Den Untergang muss er nicht mehr miterleben. Kraus stirbt mit 62 Jahren 1936 in Wien an Herzversagen.

Was würde ein sprachobsessiver polemischer Menschenfeind wohl heute machen? Er müsste in Berlin leben. Durch seine entlarvenden Beobachtungen in den Zeitungen würde ein Programmdirektor von, sagen wir, 3sat auf ihn aufmerksam. Dann bekäme Kraus eine nächtliche Monologsendung (und weil der frühere Kraus neuen Medien gegenüber aufgeschlossen war, auch noch einen Videoblog), in der er die Sprache von Journalisten, Ministern, Fußballkommentatoren, Künstlern und Dax-Vorständen sezieren würde – bis er die Wahrheit herausoperiert hätte.

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Ein exemplarisches Beispiel für Boulevardjouralismus liegt hier vor. Was nicht passt, wird passend gemacht.  Dieser Versuch einer Biographie in „Zeit online“ offenbart  jenen Mangel an Sorgfalt, der mit  scheinbarer Vielfalt  der Wahrheit ein Schnippchen schlägt.  Ja, so war er halt, der Karl Kraus. Er

nahm die verlogene Sprache des österreichischen Establishments auseinander.

Das insgesamt deutschsprachige Establishment hat er offenbar verschonen wollen, weil die Sprache und Denkweise dort untadelig war? Die Beschränkung auf Österreich  impliziert eine Beschränktheit, die nicht vorliegt. Es war der gesamte deutsche Wortraum gemeint und dessen Presse. Man erinnere nur seine Auseinandersetzung mit Alfred Kerr, um anderer Meinung in Bezug auf die Exklusivität des österreichischen Establishments  sein zu dürfen. Bei Kerr reichte es zuletzt, dass Karl Kraus ihn nur wörtlich abdrucken musste, um die sinnentleerte Phrase zu entlarven.

Über ein Wort wie Straßenreinigungsmaschine konnte Karl Kraus sich aufregen. Weil sie den Staub nur aufwirbelt – und nichts reinigt. In einem solchen Fall war mal wieder »der Blick auf die Dinge durch Phrasen verschattet«. Die Phrasen sollten weg, die ganze Welt war voller Phrasen, besonders Wien und seine Zeitungen.

Aufgeregt hätte er ihn allenfalls die Interpunktion, Weil der Satz nach dem Punkt ein causaler Nebensatz  ist und zudem eine Phrase.

Mit seiner Zeitschrift, der Fackel, richtete Kraus das Establishment stilistisch einwandfrei hin.

Der Satz hätte Karl Kraus gefallen können, wenngleich “ hinrichten“ eine ziemlich starker Vergleich scheint. Aber wenn es „einwandfrei“ geschieht, warum nicht?

Das schnelle Urteil und das arrogante Scharfrichtertum zeichnen schon den 24-Jährigen aus. Hierarchien sind nicht seine Sache.

Schnell ist er also und arrogant, und Hierarchien kann er nicht leiden, obwohl er eben noch einwandfrei hingerichtet hat. Was denn nun? Sicherlich schätzte er die Hierarchien der Zeitungsmacher nicht. Deren Urteil zu vertrauen, war ihm nicht gegeben. Wenn man  Arroganz als mögliche Haltung gegen dünkelhafte Dummheit  nicht nur seiner Zeit erkennt, so dürfte Karl  Kraus durchaus den Richtigen arrogant erschienen sein.  Für Menschen, die es Ernst meinten mit dem „Federleichten, das ein Leben wiegt“,  war er Freund und Helfer, z.B. für Adolf Loos, Oskar Kokoscha, Else Lasker-Schüler, Frank Wedekind, Peter Altenberg um nur einige wenige zu nennen. Was soll  das Adjektiv „arrogant“  im Zusammenhang mit Scharfrichtertum aussagen? Das ist in der Fläche gedacht und flach geschrieben, nicht in die Tiefe. Dass er scharf geurteilt hat Karl Kraus, schnell qua Intellekt, das ist  korrekt. Er nahm sich dafür alle Zeit, war vielleicht ein Richter, aber kein Henker. Erledigt hat er wohlbegründet  und es so angekündigt,  z. B.  bei Maximilian Harden. Er hielt den Zeitgenossen sein Bemühen um das Wort vor wie einen Spiegel vor und das genügte  für die Meisten. Die mochten sich bisweilen ausgesprochen schnell  und arrogant gescharfrichtert fühlen. Karl Kraus schrieb: “ Es ist die tragische Bestimmung meiner Figuren, das sprechen zu müssen, was sie selbst geschrieben haben und so auf eine Nachwelt zu kommen, die sie sich ganz anders vorgestellt haben. Mein Verdienst besteht nicht darin, irgendetwas erfunden zu haben, sondern darin, daß man glaubt, ich müsse es erfunden haben, weil man nicht glaubt, daß man es erlebt haben könne.“

  • Der Steckbrief

Besondere Vorkommnisse: Um seinen Unterhalt musste sich Kraus nie sorgen. Seine Familie zahlt ihm lebenslang eine monatliche Rente

Beruf: Sprachkritiker, Satiriker, Verleger

Einen Steckbrief gibt es auch, wie  „Gesucht wird…“  und nicht gefunden.  Ein besonderes Vorkommnis stellt erstaunlicherweise dar, dass Karl Kraus sich um seinen Unterhalt  nie sorgen musste. Sorgen muss man sich wohl eher um die Verfasser dieser Bemerkung ob der schlichten Denkweise. Aus Studentensicht vielleicht verständlich, aber die Familienrente war sehr bescheiden und der Preis der Fackel  so bemessen, dass  die  Kosten für seine Mitarbeiter gedeckt wurden. Einnahmen hatte Karl Kraus durch „Die Fackel“ nicht beabsichtigt. Die Vorstellung für Geld zu schreiben bleibt ein Privileg der Journaille. Karl Kraus hattte damit nichts zu tun. Auch die Einnahmen aus seinen vielen Lesungen wurden ausnahmslos gemeinnützig verwendet. Sein Verdienst war unter anderem, dass er am Wort nicht verdienen wollte. Vor allem aber muss bei „Beruf“ hinzugefügt werden: Aphoristiker, Zeitanalytiker, Vortragskünstler, Publizist und  Dichter und mehr als das:  Er war und bleibt das Gewissen der Zeit.

Im gleichen Jahr wechselt er die Fronten,…(…). Die Kaffeehausliteraten und die „Feuilletonschlampen“ – sie alle werden in nächster Zeit zu Kraus’ Opfern. Er scheut das Indezente nicht, spottet über ihre Namen, ihre Religion und – natürlich! – über ihren Stil.

Wechseln kann nur ,wer vorher einer Seite zugehörte. Karl Kraus gehörte immer dem Wort. Der Begriff „Feuilletonschlampen“ wird erst später  verwendet bei seiner Abrechnung mit  Alfred Kerr und geißelt die Schlamperei beim Schreiben von Feuilletons, zu der jener sich hatte hinreißen lassen. Über Religion spottete er nicht, nur über die Bigotterie.

Im Privaten soll Kraus zahm gewesen sein, liebenswürdig und zur Freundschaft begabt.

Was für eine Nettigkeit, wo er etwa  öffentlich wildes Tier war, bei dem, was er als Scharfrichter so trieb.  Man lese einfach die Erinnerungen von Kurt Wolff, streiche das „soll“  und  nehme das Attribut liebenswürdig im Privaten getrost  als gegeben hin. Freundschaft war ihm teuer und  nur sehr  Wenigen vorbehalten.

Gegen das Kriegsgeschrei 1914 schreibt er an, denn in den kriegstreiberischen Leitartikeln und kitschigen Schützengrabenreportagen zeigt sich jener verlogene Missbrauch der Sprache, den er anprangern will.

Das ist ein wahrhaft fundamentales Missverständnis! Nie ging es um etwas anderes als den geschundenen Menschen auf den Schlachtfeldern. Karl Kraus wandte sich nicht gegen die  Mordbrenner, die Kriegstreiber, eine wahnsinnige Soldateska, um nur den Missbrauch der Sprache in den Reportagen anzuprangern, sondern um zu beweisen, dass der Missbrauch der Sprache den Weltmordes ermöglichte. Als  1914 Hurrageschrei über den Kriegsausbruch die Straßen und die Gazetten erfüllte, schrieb Karl Kraus gegen den Wahnwitz dieses Krieges an. Das epochale Drama “ Die letzten Tage der Menschheit“ fasst alles zusammen, was  dazu gewusst werden muss.  Für dieses Werk  wurde Karl Kraus in den zwanziger Jahren mehrfach für den Nobelpreis vorgeschlagen.

In Weltanschauungsdingen ist er eher sprunghaft. Erst tritt er aus der jüdischen Gemeinde aus, konvertiert dann zum Katholizismus, um ein paar Jahre später die Kirche wieder zu verlassen. Er kokettiert mit seinen politischen Überzeugungen, ist zu Beginn des Ersten Weltkriegs zwar Pazifist, jedoch strenger Befürworter der Monarchie, später wird er zum sozialdemokratischen Republikaner – was aber auch nicht für immer hält.

Ja, der Karl Kraus, sprunghaft ist er und kokett pazifistisch auch. Da locken die Abgründe der Vermutung. Er wurde Katholik, was offenbar ehrenrührig ist und verließ die Kirche wieder, als man einen Kirchenraum für ein Theaterschauspiel zur Verfügung stellte und der Mutter Gottes Maria  in der Folge des ersten Weltkrieges eine Tapferkeitsmedaille verlieh, was offenbar keiner Erwähnung wert scheint. Denn für faule Kompromisse in Sachen Weltanschauung, die seiner Wortanschauung entsprach, war Karl Kraus nicht zu haben. Nie hat er sich selbst als Pazifist bezeichnet, weil er zeitlebens einer war und blieb. Er stand fast allein unbedingt nicht nur gegen Krieg, sondern auch und gerade gegen die Kriegsgewinnler, die Waffenschieber, die Fledderer des großen Schlachtens. Das steht allerdings  nicht notwendig  in Widerspruch zur Monarchie, wie man bis heute in vielen Ländern Europas erkennen kann. Er wandte sich ab, als sie  den großen Krieg entfachte. Sein  Pazifismus und sein zeitweises Bekenntnis zur Sozialdemokratie etwa  nur einer Koketterie verdankt? Karl Kraus fühlte sich dem Menschen zu sehr verpflichtet, um sich nibelungentreu an politisch kungelnde Parteien zu binden.  Als die Sozialdemokratie sich nach rechts  zur Heimwehr bewegte und mit dem damaligen Präsidenten Schober kungelte, der nachweislich für die Erschießung von fast einhundert friedlich demonstrierenden Arbeitern verantwortlich war, wandte er sich endgültig ab. Später musste er zusehen, wie Sozialdemokratie auf eine Einigung mit Deutschland setzte, als NSDAP schon ein Drittel der Parlamentssitze in Deutschland innehatte, statt alles gegen Hitler zu unternehmen.  Wolfgang Neuss räumte einst ein, viel von Karl Kraus gelernt, sogar übernommen zu haben und sagte einmal von sich: “ Ich bin viel zu sehr Mensch, um Humanist sein zu können.“ Den Satz hätte Karl Kraus übernommen.

Aus einigen unglücklichen Liebschaften mit Schauspielerinnen und adeligen Damen sind Briefe erhalten,…

Soso, die adeligen Damen! Mir ist nur die lebenslang dauernde Liebe zur Baronin  Sidonie  Nádherny von Borutin bekannt, über die es einen berührenden Briefwechsel gibt. Den Ring einer auf Erden nie geschlossenen Ehe  gab sie Karl Kraus mit ins Grab.

Doch als man ihn am dringendsten braucht, schweigt Karl Kraus lange: Heute noch hält man ihm vor, dass er nach der Machtergreifung Hitlers 1933 nichts zu sagen hatte.

Das verschlägt einem doch die Sprache. Wer hält da wem was vor? Namen der Trottel bitte! Lese ich hier in „Die Zeit-online“ oder  in einem Boulevardblatt? Karl  Kraus hätte sowieso keinen großen  Unterschied gesehen. Kennen die Autoren dieses Artikels die „Dritte Walpurgisnacht“ nicht? Karl Kraus veröffentlichte Teile  des im Herbst 1933 verfassten Aufsatzes  in der Fackel  erst  im Jahr  1934 unter dem Titel  „Warum die Fackel nicht erscheint“.  Auch in  ihm spricht er die  vielzitierten Worte  „Zu  Hitler fällt mir nichts ein“, um dann auf  dreihundert  Seiten abzurechnen, auch mit jenen, die glauben von ihm etwas fordern zu dürfen ohne vorher darüber nachgedacht zu haben, was sie da verlangen. Karl Kraus begründet sein Schweigen ausführlich mit den befürchteten  Konsequenzen für seine Leser im Reich Hitlers, in dem das Wort längst zur Tat geworden war. Sein eigenes Wort war ihm nicht das  Leiden oder gar Leben auch nur eines Menschen wert. In Deutschland war von Hitler wortwörtlich alles vollzogen worden, was in dem Pamphlet “ Mein Kampf“ geschrieben stand. Karl Kraus war nicht überrascht, denn er hatte ihn beim Wort genommen. Und das Wort wurde Tat. Dem Boulevard hätte 1933 ein Aufschrei von Karl Kraus gefallen, aber er wäre als Echo verhafteter  Fackelleser aus deutschen Konzentrationslagern zurückgehallt. In „Dritte Walpurgisnacht“ beschreibt er  das Grauen von Gewalt  und Rechtlosigkeit im totalitären Staat und dem Tod in den Konzentrationslagern an Hand von zu dieser Zeit allen zugänglichen Tatsachen, lange bevor die Welt es glauben oder gar wissen wollte. In „Hüben und Drüben“ , einer Rede gehalten im September 1932, gibt es ebenfalls Antworten auf seine Haltung zu den Nazis und auf die unrühmliche Rolle der Sozialdemokratie in dieser Zeit. (Artikel  liegt in „Das Rote Heft “ vor.)

Was würde ein sprachobsessiver polemischer Menschenfeind wohl heute machen?

Menschenfeind?  Wie schräg muss man denken, um Karl Kraus für einen Menschenfeind zu halten? Dazu fällt mir nichts ein.  Sprachobsessiv? Das kann nur ein Journalist erfinden. Karl Kraus war Schönheit der Sprache verfallen. Er nahm sie beim Wort und „niemand ist wohl tiefer in den Zaubergarten der Sprache eingedrungen“, wie Alfred Polgar ausführte. Er wollte sie retten vor dem Gebrauch, dem Verbrauch und vor der dauerhaften Entwertung als Phrase. Dass ihm dies nicht gelungen ist, weist nolens-volens die nassforsche Lässigkeit des obigen Artikels  posthum nach. Aber  gerade  dank  Karl Kraus kann man noch heute dem Geheimnis der Sprache nachspüren, an dessen Ursprung er den Beginn der Kunst vermutete und an welchem es  für ihn kein Plagiat gab.

Durch seine entlarvenden Beobachtungen in den Zeitungen würde ein Programmdirektor von, sagen wir, 3sat auf ihn aufmerksam. Dann bekäme Kraus eine nächtliche Monologsendung (und weil der frühere Kraus neuen Medien gegenüber aufgeschlossen war, auch noch einen Videoblog), in der er die Sprache von Journalisten, Ministern, Fußballkommentatoren, Künstlern und Dax-Vorständen sezieren würde – bis er die Wahrheit herausoperiert hätte.

Da liegt ein Irrtum vor. Die Wahrheit kann nur herausoperiert werden, wenn sie  vorher drin war. In der Sprache der Aufgelisteten  suchte er vermutlich  vergeblich. Wenn Karl Kraus heute  lebte, sähe er alle seine Voraussagen bestätigt. Ich wünschte mir, er widmete sich  der Dichtung  und  schriebe  vollendete Sonette, etwa  wie das für  Sidonie von Nadherny (Du bist so sonderbar in eins gefügt… Liegt in „Das Rote Heft“ vor)