Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

Nächtliche Stunde. Von Karl Kraus

06. Oktober 2011 | Kategorie: Aus "Die Fackel", Verdichtetes

DIE FACKEL

Nr. 622  1923  XXIV. Jahrgang S.150

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Nächtliche Stunde

Nächtliche Stunde, die mir vergeht,
da ich′s ersinne, bedenke und wende,
und diese Nacht geht schon zu Ende.
Draußen ein Vogel sagt: es ist Tag.

Nächtliche Stunde, die mir vergeht,
da ich′s ersinne, bedenke und wende,
und dieser Winter geht schon zu Ende.
Draußen ein Vogel sagt: es ist Frühling.

Nächtliche Stunde, die mir vergeht,
da ich′s ersinne, bedenke und wende,
und dieses Leben geht schon zu Ende.
Draußen ein Vogel sagt: es ist Tod


Heine und die Folgen. Von Karl Kraus

06. Oktober 2011 | Kategorie: Aus "Die Fackel", Heine und die Folgen

Heine und die Folgen erschien erstmals im Dezember 1910 im Verlag Albert Langen, München. Karl Kraus veröffentlichte den Aufsatz später in der Zeitschrift  Die Fackel Nr. 329/330, S. 1-33, 1910  mit dem Vorwort. Ein Schlusswort  >Zwischen den Lebensrichtungen < erschien später  in Die Fackel 462-471, S. 76-78.   im Oktober 1917. Nie wurde dem Dichter Heine so auf den poetischen Zahn gefühlt, nie des Dichters Spreu klarer vom Weizen getrennt und ungezählte bewusste und unbewusste Epigonen entlarvt. Die im Vorwort noch festgestellte mangelnde Akzeptanz durch den Leser, muss im Schlusswort der Feststellung weichen, dass die Schrift mehrere Auflagen und großes Interesse erfuhr. Das >Vorwort< zählt zum Persönlichsten, was von Karl Kraus je niedergeschrieben  wurde. Seine darin geäußerte abwertende Einstellung zum Roman ist bekannt. Elias Canetti hat sie in seinem Buch „Die Fackel im Ohr“ angemessen kritisch beurteilt. Wer den ganzen  Aufsatz lesen will, möge im Fackel-Archiv (siehe link) nachlesen. Nicht etwa wegen einer der Ablehnung des Inhalts  und seiner Schlussfolgerungen,  sondern aus persönlichen Gründen wurden nur Vorwort und Nachlese abgedruckt. Auf eine zunächst angekündigte Begründung dafür habe ich verzichtet, weil sie vom folgenden Test abgelenkt hätte .

DIE FACKEL


Nr. 329/330 31. AUGUST 1911 XIII. JAHR


Heine und die Folgen

Von Karl Kraus

Vorwort

Die tiefste Bestätigung dessen, was in dieser Schrift gedacht und mit ihr getan ist, wurde ihr: sie fand keine Leser. Ein Gedrucktes, das zugleich ein Geschriebenes ist, findet keine. Und mag es sich durch alle äußeren Vorzüge: den bequemen, noch in feindlicher Betrachtung genehmen Stoff, ein gefälliges Format und selbst durch den billigsten Preis empfehlen — das Publikum lässt sich nicht täuschen, es hat die feinste Nase gegen die Kunst, und sicherer als es den Kitsch zu finden weiß, geht es dem Wert aus dem Wege. Nur der Roman, das  Sprachwerk, das in seiner ungreifbarsten Reinheit noch dem gemeinen Verstande irgend Halt und Hoffnung lässt, nährt heute seinen Mann. Sonst haben vor dem Leser jene, die ihm mit dem Gedanken im Wort bleiben, einen unendlich schweren Stand gegen die, welche ihn mit dem Wort betrügen. Diesen glaubt er sofort, den andern erst nach fünfzig Jahren. Und keine irdische Träne aus den Augen, die das Leben vom Tod begraben sehen, verkürzt die Wartezeit. Nichts hilft. Die Zeit muss verstinken, um jene, die das sind, was sie können, so beliebt zu machen, wie diese da, welche können, was sie nicht sind. Nur dass dieses Heute noch den besondern Fluch des Zweifels trägt: ob der Kopf, der die Maschine überlebt, auch ihre Folgen überstehen wird. Nie war der Weg von der Kunst zum Publikum so weit; aber nie auch hat es ein so künstliches Mittelding gegeben, eins, das sich von selbst schreibt und von selbst liest, so zwar, dass sie alle schreiben und alle verstehen können und bloß der soziale Zufall entscheidet, wer aus dieser gegen den Geist fortschreitenden Hunnenhorde der Bildung jeweils als Schreiber oder als Leser hervorgeht. Die einzige Fähigkeit, die sie als Erbteil der Natur in Ehren halten: von sich zu geben, was sie gegessen haben, scheint ihnen auf geistigem Gebiet als ein Trick willkommen, durch den es gelingen mag, zwei Verrichtungen in einer Person zu vereinigen, und nur weil es noch einträglichere Geschäfte gibt als das Schreiben, haben sich bisher so viele unter ihnen Zurückhaltung auferlegt und begnügen sich damit, zu essen, was die andern von sich gegeben haben. Wie derselbe Mensch sich in einer Stammtischrunde vervielfacht hat, in der ein Cellist, ein Advokat, ein Philolog, ein Pferdehändler und ein Maler sitzen, durch den Geist verbunden und nur vom Kellner nach den Fächern unterschieden, so ist zwischen Autor und Leser kein Unterschied. Es gibt bloß noch Einen, und das ist der Feuilletonist. Die Kunst weicht vor ihm zurück wie der Gletscher vor dem Bewohner des Alpenhotels. Einst konnte man den, so rühmten die Führer, mit Händen greifen. Wenn der Leser heute ein Werk mit Händen greifen kann, dann muss das Werk eine üble Seite haben. Der Herausgeber dieser Zeitschrift ist sich durchaus bewusst, dass sie ihr Ansehen großenteils jener Empfänglichkeit verdankt, die sich etwa dem vorzüglichen Romanautor nicht gleich darum entzieht, weil sie vom Hörensagen weiß, dass er auch ein Künstler ist. Er darf sich diese Nachsicht getrost zunutze machen. Der Herausgeber der Fackel hat nicht selten das Gefühl, dass er an ihr schmarotzt. Sie würde ihm unwiderruflich verweigert, wenn die Leser gar erführen, in welchem Stadium der Unzurechnungsfähigkeit solch witzige Anlässlichkeiten entstehen, von welcher Kraft der Selbstvernichtung diese Treffsicherheit lebt und wie viel Zentner Leiden eine leichte Feder tragen kann. Und wie düster das ist, was den Tagdieb erheitert. Das Lachen, das an meinen Witz nicht heranreicht, würde ihnen vergehen! Sähen sie, dass der kleine Stoff, der ihnen zu Gesicht steht, nur ein schäbiger Rest ist von etwas, das sie nicht betasten können, sie gingen endlich davon. Ich bin bei denen, die sich einbilden, meine Opfer zu sein, nicht beliebt; aber bei den Schadenfrohen noch immer weit über Verdienst.

Mag nun die Fackel sich auch zumeist in den unrechten Händen befinden: wenn sich das, was von mir geschrieben ist, in einen andern Druck wagt, so langt überhaupt keine Hand
darnach. Für eine Sammlung von Satiren oder Aphorismen soll das nicht gelten. Eine solche ist mit den seltenen Lesern zufrieden, denen die textliche Veränderung ein neues Werk bedeutet. Aber an der Schrift »Heine und die Folgen«, die als Manuskript in den Buchverlag kam, hat es sich gezeigt, dass es nicht mehr Leser gibt, als jene wenigen. Und diese Erfahrung kann gerade sie nicht schmerzlos hinnehmen. Denn ihr Wille ist, Leser zu schaffen, und das könnte ihr nur gelingen, wenn sie Leser findet. Sie trägt den Jammer des deutschen Schrifttums aus, und sie ist nicht zufrieden damit, dass ihre Wahrheit sich an ihr selbst erfülle. Darum betritt sie den Weg der Reue, der aus dem Buch zurück in die Zeitschrift führt, und auch diese Notwendigkeit sei ihr gefällig, die Perversität des geistigen Betriebs unserer Tage zu erweisen. Hier, im vertrauten Kreis, wird sie wenigstens den Versuch machen, zu mehr tauben Ohren zu sprechen, als in der großen deutschen Öffentlichkeit zu haben sind.

Denn es ist nicht zu denken, dass sie just für den Gegenstand taub waren, von dem zu ihnen die Rede ging. Von Heine hören sie noch immer gern und wenn sie auch nicht wissen,
was soll es bedeuten. Sicherlich würde die Schrift, wenn sie bloß die Lebensfülle seiner Kunst verneinte, jenem Zeitgefühl nichts Neues sagen, das sich selbst durch die Verabredungen der Intelligenz nicht betrügen lässt. Sicherlich lässt es sich eher zur Bettelei für ein Heine-Denkmal als zur Lektüre seiner Bücher herumkriegen. Und dem Hass, der dort ansetzte, wo nicht Liebe, nur intellektuelle Heuchelei die Grabeswacht hält, würde zwar einige Erbitterung, aber kein allgemeines Interesse antworten. Diese Schrift indes, so weit entfernt von dem Verdacht, gegen Heine ungerecht zu sein, wie von dem Anspruch, ihm gerecht zu werden, ist kein literarischer Essay. Sie erschöpft das Problem Heine nicht, aber mehr als dieses. Der törichteste Vorwurf: dass sie Heine als individuellen Täter für seine Folgen verantwortlich mache, kann sie nicht treffen. Die ihn zu schützen vorgeben, schützen sich selbst und zeigen die wahre Richtung des Angriffs. Sie sollen für ihre Existenz verantwortlich gemacht werden, und der Auswurf der deutschen Intelligenz, der sich sogleich geregt hat, bewies, dass er sich als die verantwortliche Folge fühle. Es waren Individuen, die durch ihre eigene Lyrik schwer genug gestraft sind oder durch ihre eigene Polemik zu sehr insultiert waren, als dass sie einer besondern Abfertigung bedurft hätten. Die wenigen, die sich geärgert und die vielen, die nicht gelesen hatten, haben bestätigt, was geschrieben war. Nicht die Gefahr, eine Entweihung Heines zu erleben, wohl aber die Furcht, das Feindlichste zu hören, was diesem Zeitalter der Talente gesagt werden kann, hat dem Ruf ein stärkeres Echo ferngehalten. Nicht eine Wertung Heine’scher Poesie, aber die Kritik einer Lebensform, in der ein für allemal alles Unschöpferische seinen Platz und sein glänzend elendes Auskommen gefunden hat, wurde hier gewagt. Nicht die Erfindung der Pest, nicht einmal ihre Einschleppung wurde getadelt, aber ein geistiger Zustand beschrieben, an dem die Ornamente eitern. Das hat den Stolz der Bazillenträger beleidigt. Hier ist irgendwie die Sprache von allem, was sie einzuwickeln verpflichtet wurde, gelöst, und ihr die Kraft, sich einen bessern Inhalt zu schaffen, zuerkannt. Hier ist in dieser Sprache selbst gesagt, dass ihr der kalligraphische Betrug fremd sei, der das Schönheitsgesindel zwischen Paris und Palermo um den Schwung beneidet, mit dem man in der Kunst und in der Hotelrechnung aus dem Fünfer einen Neuner macht. Das haben sie nicht verstanden, oder als bedenklich genug erkannt, um es nicht hören zu wollen.

Um aber die Unfähigkeit, die eine redliche Wirkung des begabten Zeitgeistes ist, nicht schwerer zu belasten als die Bosheit, die in allen Zeiten die sozialen Möglichkeiten gegen den Gedanken mobilisiert hat, muss gesagt werden, dass noch ein besonderer Verdacht den Autor dazu bestimmt hat, vom Verlag Albert Langen das Recht des Wiederabdruckes dieser Schrift zu erbitten. Sein bekannter Verfolgungswahn, der ihm sogar zugeflüstert hat, dass es ihm in zwölf Jahrgängen nicht gelungen sei, sich angenehm zu machen, ließ ihn an eine absichtliche Unterdrückung der Broschüre glauben. Stellte ihm vor, dass die aufgestöberten Wanzen aus der Matratzengruft sich in Bewegung gesetzt und just dort angesiedelt hätten, wo der ihnen bekannte Weg vom Gedanken weg in den Handel führt. Die Furcht vor der Presse kann Berge versetzen und Säle verweigern: vielleicht bedarf es nicht einmal der Agitation, um einen Wiener Buchhändler im Vertrieb einer gefährlichen Broschüre, von der nur ein kleiner Gewinn abfällt, lau zu machen. Zumal einen von jenen, die noch heute der Fackel
einen autorrechtlichen Prozess verübeln, den ihr erster Drucker geführt hat. Ist es denn nicht eine Wiener Tatsache besonderster  Art, dass nicht nur den Blicken der spazierenden City das Ärgernis meiner Bücher entzogen wird, sondern dass die Hefte der Fackel, die in einer Zeile mehr Literatur enthalten als die Schaufenster sämtlicher Buchhandlungen der Inneren Stadt, und an deren letztes Komma mehr Qual und Liebe gewendet ist als an eine Bibliothek von Luxusdrucken eines Insel-Verlags — gezwungen sind, zwischen Zigarren, Losen und Revolverblättern ihre Aufwartung zu machen, um die Kosten zu decken, die eine nie belohnte und nie bedankte Mühe verursacht, während im Chor das Ungeziefer des Humors die Sache für lukrativ hält und sich an dem Begriff der »Doppelnummer« weidet! Eine Zeitschrift, welche die legitimsten administrativen Hilfen wie den Aussatz flieht, so aus sich selbst leben möchte, um so gegen sich selbst zu leben, buchgeboren wie kaum ein Buch im heutigen Deutschland, muss die Stütze des zuständigen Handels, die ihm Pflicht wäre, entbehren und in der österreichischen Verbannung jene Schmach verkosten, die den wegen eines politischen Delikts Verurteilten in die Zelle der Taschendiebe wirft. Ahnt die freigesinnte Bagage, deren kosmisches Gefühl die Gewinnsucht ist und von der man die Gnade erbetteln muss, für irrsinnig gehalten zu werden, wenn man keinen Profit macht: wie viel Genüsse sie sich mit dem Geld erkaufen könnte, das mein Werk des Hasses verschlingt, bis es die Gestalt hat, mit der ein Selbstverherrlicher nie zufrieden ist — weil es erst dann ihm die Fehler enthüllt, die die andern nicht merken? Aber hier, in sein Archiv, nimmt er, was ihm beliebt, und zieht er ein, was andernorts nicht beliebt hat. Hier kann ihn nichts enttäuschen. Eine Arbeit, die statt zwanzig Auflagen nicht die zweite erlangt hat: hier kann ihr nichts geschehen. Ihr Verfasser, dessen Lust es ist, in die Speichen seines eigenen Rads zu greifen, sich selbst und die
Maschine aufzuhalten, wenn ihm ein Pünktchen missfällt, wird nie mehr einem fremden publizistischen Betrieb seine Hilfe gewähren. Er wirbt nicht um neues Publikum. Die Fackel ist ihm nicht Tribüne, sondern Zuflucht. Hier kann ihn das Schicksal einer Arbeit nur bis zur Vollendung aufregen, nicht bis zur Verbreitung. Was hier gelebt wird, mag im Buche wiedererstehen. Aber es ist Lohn genug, unter dem eigenen Rad zu liegen.

Ein Schlusswort zum Nachtrag von »Heine und die Folgen«, (Nr. 329—330, August 1911), für das Werk »Untergang der Welt durch schwarze Magie« verfasst im Mai 1917

Zwischen den Lebensrichtungen

Nicht die Feststellung der unerheblichen Tatsache, dass die Schrift »Heine und die Folgen« neben der Verbreitung durch die Fackel nun doch im siebenten Jahr bei der dritten Auflage hält, erfordert die Ergänzung. Ein anderes sei nachgetragen, das gleichfalls, indem es scheinbar berichtigt, einer tieferen Betrachtung erst die Richtigkeit zu erkennen gibt. Alles, was hier und in allen Kapiteln über den Lebensverlust des heutigen Lebens und den Sprachverrat deutscher Menschheit gesagt ist, hat die gedankliche Spur, die bis zum Rand dieses Krieges führt, der meine Wahrheit auch zur Klarheit gemacht hat. Nur dort bedarfs eigener Klarstellung, wo gerade der Drang, der Maschine zu entrinnen, einer schon völlig entmenschten Zone den Vorzug vor jenem Schönheitswesen gab, das dem unaufhaltsamen Fortschritt noch weglagernde Trümmer von Menschentum entgegensetzte. In den späterhin geschriebenen Aphorismen ist die zum Krieg aufgebrochene Antithese zugunsten eben jener Lebensform entschieden, als einer, welche die Sehnsucht nach Leben und Form hatte und eben um solcher Sehnsucht, um eines selbstretterischen Instinktes willen, die Notwehr gegen die Tyrannei einer wertlosen Zweckhaftigkeit auf sich nehmen sollte, gemäß der das Leben Fertigware ist und die Kultur die Aufmachung. Demnach muss die Frage, »in welcher Hölle der Künstler gebraten sein will«, abdanken vor der zwingenden Entscheidung, dass der Mensch in dieser Hölle nicht gebraten sein will, durch die richtende Erkenntnis des Künstlers selbst, der nun nicht mehr das Recht und nicht mehr die Möglichkeit hat, die sichere Abschließung seines Innern zu suchen, sondern nur noch die Pflicht, zu sehen, welche Partie der Menschheit gleich ihm um die Erhaltung solchen Glückes kämpft und gegen den Zwang einer Lebensanschauung, die aus dem Leben alle Triebe gepresst hat, um es einzig dem Betrieb zu erhalten. Dass es aber jene Regionen sind, von deren Wesensart in ruhiger Zeit die Störung kam, darüber sich einem Zweifel hinzugeben, wäre Kriegsverrat an der Natur, die sich der Maschine erwehrt. Sie tut’s, und tue sie’s auch mit Hilfe der Maschine, dem Künstler gleich, der das Vehikel der Zeit nicht verschmäht hat, um ihr zu sich zu entfliehen. Er bejaht vor der Unvollkommenheit des Lebens den Lebensersatz und vor den halben Individualitäten das System des ganzen patentierten Persönlichkeitsersparers. Der sich der Maschine bedient, gewinnt in dem Maße, als sie alle verlieren, die die Maschine bedienen. Denn diese macht den Menschen nicht frei, sondern zu ihrem Knecht, sie bringt ihn nicht zu ihm selbst, sondern unter die Kanone. Der Gedanke aber, der nicht wie die Macht eine »Neuorientierung« braucht, um sich am Ruder wieder zu finden, weiß: Er schuf sich nur den Notausgang aus dem Chaos des Friedens, und was an der Wertverteilung »deutsch-romanisch« widerspruchsvoll schien, war nur der Widerspruch des neuen Daseins gegen sich selbst, der heute ereignishaft seine Lösung erfährt. Die Auffassung, die den »Lazzaroni als Kulturideal neben dem deutschen  Schutzmann« scheinbar nicht gelten lassen wollte, sie bestätigte ihn darin mehr als jene, die es — im Sinne des »Malerischen« — wollten und die die eigentlichen Deutschen sind. Das Wort vom »Schönheitsgesindel zwischen Paris und Palermo« mag auf jene Hunnenhorde der Bildung zurückfallen, die an der Verwandlung von Lebenswerten in Sehenswürdigkeiten schuld ist. Was hier von der Sprache und dem Menschen gedacht war, ist dem Typus, der tieferer Zwecklosigkeit nachhangend in der Sonne lungern kann, blutsverwandter als dem unerträglichen Eroberer eines Platzes an der Sonne, dessen Geistesart es freilich entsprochen hat, ein bunteres Dasein ornamental zu entehren und damit den Untergang zu beschönigen. In jenem Goethe’schen Sinne, der die basaltfreie Ordnung und Zweckhaftigkeit wahrlich nur zu dem höheren Zwecke will, um ungestörter die Schlösser und Wunder der Seele zu betreuen, musste ich die Umgebung solches Warenpacks vorziehen, weil es die besten Instrumente abgab, um sich Ruhe vor einer lärmvollen Welt zu schaffen, in der sie, nur weil sie keine Menschen mehr waren, selbst nicht mehr stören konnten. Aber die andern taten es, weil sie’s halb waren. Es war mir einst zu wenig, und jetzt ist es doch so viel. Und an dieses Problem, in welchem ganz ähnlich auch die Antithese Berlin-Wien zu Gunsten Wiens bereinigt wird, wirft der Zusammenbruch noch die Erkenntnis, dass gerade in der Sphäre der Lebensmechanik der ganze Widerspruch selbst enthalten war. Dass es nicht allein um »deutsch-romanisch«, sondern um »deutsch-weltlich« geht, zeigt sich, indem die bunte Welt auf Farbe dringt. Amerika, das es besser, nein am besten hat, und die Welt der alten Formen vereinigen sich, um mit einem Kunterbunt fertig zu werden, das von dort die Sachlichkeit, von da die Schönheit zusammenrafft und immerzu in der tödlichen Verbindung von Ware und Wert, in der furchtbaren Verwendung der alten Embleme für die neuen Realien durchzuhalten hofft. Der Angelsachse schützt seinen Zweck, der Romane seine Form gegen den Mischmasch, der das Mittel zum Zweck macht und die Form zum Mittel. Da hier die Kunst nur Aufmachung ist; da diese Sachlichkeit, diese Ordnung, diese Fähigkeit zum Instrument einem auf Schritt und Tritt den Verlust an Menschentum offenbart, den es gekostet hat, um ein so entleertes Leben dem Volkstum zu erringen; da es selbst die Oberflächenwerte, für die alle Seelentiefe und alle Heiligkeit deutschen Sprachwerts preisgegeben wurde, im Zusammenstoß der Lebensrichtungen nicht mehr gibt; da der Deutsche eben doch kein Amerikaner war, sondern nur ein Amerikaner mit Basalten: so taugt der Zustand nicht mehr zum Ausgangspunkt der Phantasie. Weil sie Geist und Gott und Gift benützen, um das Geld zu erraffen, so wendet sich eben jene von der entmenschten Zone einem Schönheitswesen zu, das gegen den unerbittlichen Lauf der Zeit seine Trümmer verteidigt. Auf der Flucht aus ihr habe ich Unrecht tun müssen. Die Partei der  Menschenwürde habe ich nie verleugnet und jetzt, wo, ach, der Standpunkt erreicht ist, sie nehmen zu können, habe ich dem Weltgeist nichts abzubitten als die Schuld, in solcher Zeit geboren zu sein, und den wang, sichs auf der Flucht häuslich einzurichten.


Notizen zur Zeit. Was ist Kunst ? Von W.K. Nordenham

05. Oktober 2011 | Kategorie: Artikel, Kunst

Was ist Kunst?  Von W.K. Nordenham

Kunst ist das Geheimnis der Geburt des alten Wortes. Der Nachahmer ist informiert und weiß darum nicht, dass es ein Geheimnis gibt.

Karl Kraus   Nachts

Kunst ist das, was Welt wird, nicht, was Welt ist.

Karl Kraus    Pro Domo Et Mundo

Die Frage, ob ein denkender und sehender Mensch Kunstausstellungen oder Museen  besuchen soll, ist müßig, weil Verneinung den Verlust  dessen nach sich zieht, was Sehen und Denken befördert. Was der Fragende  als Antwort erhoffen könnte, wäre bestenfalls die allgemeine Erklärung, dass ein Mensch seiner Liebe zur Kunst nolens-volens zu folgen hätte oder sich mit Entsagung bestrafte. Er würde sich also aufmachen und nach dieser, seiner Liebe suchen, welche er sehr gut kennen muss, um sich nicht unversehens von flüchtiger Verliebtheit täuschen zu lassen. Die Fallstricke der Verführung liegen wie ein unsichtbares Netz über den Ausstellungshallen dieser Welt und verlangen mehr den besonnenen Genießer als den feurigen Liebhaber, der allein der subjektiven Empfindung ausgeliefert,  den sicheren Grund jedes annähernd objektiven Maßstabs verliert.

Nun helfen Adjektive wie subjektiv und objektiv in der Kunst nicht allzu viel, wenn das offizielle Kunstverständnis jegliche Ordnung ablehnt, deren Verlust schon Picasso als  „gefährlichen Nachteil“ gewürdigt hat. Dessen ungeachtet wird ein jeder für sich die Grenze markieren, was seinem Begriff nach als Kunst zu gelten habe, und was über diesen hinausreicht oder ihm zuwiderläuft. Dies gilt für die Künstler selbst, die Galeristen, Kritiker und sogenannte Sachverständige. Ohne Definition kommt offenbar niemand aus. Die äußerste Grenzziehung hat Josef Beuys vorgenommen, mehr als Denker, denn als Schaffender. Unbeschadet aller Anfechtungen kommt ihm das Verdienst zu, das Erkennbare mit den Mitteln äußerster Abstraktion, d. h.  der Rückführung auf das Schöpfungsbedingte, Wesentliche, sichtbar zu gemacht zu haben, in Wort und in Bild. Beuys war Aphoristiker seiner selbst in Zeichnung und Skulptur. Leider gelang es ihm nicht ausreichend, seine Distanz zum L´art pour l´art zu formulieren. Vielleicht war es diesem Weltgeist auch nicht gegeben eine Einschränkung anzunehmen, weil  für ihn und sein Werk keine bestand. L´art pour l´art besagt ja auch nicht grundsätzlich etwas gegen Kunst, wohl aber gegen Wesentlichkeit. Wesentlich sein zu wollen, aber ist die mindeste Forderung, die ein Künstler an sich zu stellen hat, als einzige Vorgabe, unverhandelbar und kompromisslos. Denn Kunst verträgt keine Kompromisse ohne sich zu kompromittieren, und wer sie macht, wird gewogen und für zu leicht befunden werden. Zum Glück ist die Waage nicht in den Händen der Kritiker, auch nicht in den Händen der Galeristen, die anders als der Künstler dem Zeitgeist verpflichtet sind oder sich am Markt orientieren müssen. Die Kunst hat nur eine Verpflichtung,  Wahrheit – und  eine Bedingung,  Freiheit. Es hat nur eine Richtung zu geben – von der Wahrheit zur Wahrheit. Allein die Absicht entscheidet.

Nichts ist der Kunst ferner als tumbe Hinnahme aller Existenz, nichts ist ihr näher als  bleibende Verwunderung über die Dinge und die Frage nach dem „warum“. Der schöpfende Geist befindet sich gleichsam in einer Umlaufbahn zu jenem Zentrum, in welchem  die Auflösung des universalen Rätsels, nach dem Sinn aller Existenz und die Vollendung in der  Erkenntnis, beschlossen ist. Hier findet sich der Ursprung, an dem es laut Karl Kraus kein Plagiat gibt. Man kann sich von allen Seiten nähern, jeder mit seiner Sicht, aber man bleibt in menschlicher Sphäre gebunden. Dies ist der Grund für die ungeheure Vielfalt des künstlerischen Ausdrucks, die das für uns Erkennbare  des Rätsels jedoch zugänglich macht. Nur wer darum weiß und sich bis dahin  gemüht hat, kann wie Sokrates behaupten, nichts zu wissen. Wer den Weg  glaubt versäumen zu dürfen, wird manchen Gedanken, der soeben zur Plattitüde taugt, zum Aphorismus stilisieren wollen. Er darf sich des Beifalls derer, die mit ihm zurückgeblieben sind, gewiss sein. Die gilt auch und zunehmend für Kunst.

Ich spreche also nicht für die Plagiatoren oder Jünger, die den Weg der  Meister soeben nachstolpern. Die Rede ist vom unabhängig denkenden, schöpferischen Menschen, der sich aufmacht, auf der Basis des Erkennbaren, seinen Weg zu suchen. Dieser Künstler ist nicht zu begreifen als ein Orakel, dessen spirituelle Heimat ein olympischer Apollo nebulös umfängt, sondern als Seher eines metaphysischen Eldorado. Vonnöten ist Intuition und Wissen, auch um das Handwerk, sei es Material, wie Farbe, Metall, Stein, Holz oder  Wort und Musik. Kunst sucht  Antworten auf die Frage nach dem >woher< und >wohin< und berichtet vom verschütteten Ursprung. Kunst eröffnet uns den einzig verbürgten Zugang zur Erinnerung an diesen Ort, und so wird der Künstler zum Bürgen des Urgeistes, nach dem ein verzweifelter Faust rief, indem er dessen Versprechen von Freiheit und Wahrheit erneuert. Nur wer aus dieser Quelle schöpft, hat ernstgenommen zu werden und Anspruch auf Gehör. Der Weg bis dahin erfordert äußerste Wahrhaftigkeit und Selbstdisziplin. Er heißt Selbsterkenntnis und hat sich nicht mit ästhetischem Schnickschnack aufzuhalten, welcher sich an der Gefälligkeit des Augenblicks orientiert. Ob nämlich Kunst gefällt, ist ohne jeden Belang. Auch Provokation kann unter diesem Aspekt  nur Zufall sein und nicht Absicht, weil Provokation  in der Kunst immer vom Betrachter ausgeht, der sich provoziert fühlt. Wer würde sich zum Beispiel heute einen Skandal um Rembrandt, Goya, Manet oder Van Gogh vorstellen können?  Will ein Künstler primär  oder nur Provokation, so lenkt er sich und den Betrachter ab, indem er das Bleibende dem ästhetischen Effekt opfert. Kunst, nur um der Provokation willen, entspricht der Zeitungsschlagzeile, die den nächsten Morgen nicht überdauert.

Seit Anbeginn haben sich die Künstler aller Kunstgattungen an ihrer Wahrhaftigkeit messen lassen müssen, wollten sie eine gültige Aussage über ihre Zeit und über sie hinaus machen. Sie stellten Fragen, die später zu Antworten wurden. Kunst, als Refugium  aller persönlichen und universalen Freiheit, erlaubt den Blick über das Denkbare hinaus auf das Unbekannte, Fühlbare, Unfassbare, welches im Werk gezeigt, die Grenze des Möglichen neu bestimmt und damit die Speerspitze der Erkenntnis für ihre Zeit darstellt. Die Künstler, denen dieses Kunststück gelang, gelten über die Jahrtausende hinweg als die Großen.

Daraus erklärt sich, warum ein Mensch in der Kunst scheitern muss, der heute noch einmal wie Leonardo oder Raffael malen wollte. Er würde eine alte Wahrheit gleichwertig wiedergeben und wäre Plagiator. Wer auf altem Wege als zweiter kommt, hat bestenfalls die Möglichkeit, die bereits gefundene Wahrheit auszuschmücken, zu erweitern, zu interpretieren, aber er bliebe ein Nachahmer.  Wer denselben Weg bewusst noch einmal gehen will, mag es tun, jedoch mit rein individueller Gültigkeit. Zum Wegweiser wird er nicht mehr taugen. Es gäbe nur eine Chance, dass er denselben alten Gedanken vom Ursprung her neu dächte für seine Zeit. So viele Wegweiser, so wenig Weise am Wege; wo sie Künstler sein wollten, sind sie zu Handwerkern geworden!

Wenn Kunst keine Richtung hat, dann hat Gesellschaft auch keine. So scheint mir  die gegenwärtige Beliebigkeit der Kunstszene ein zuverlässiger Messwert für den Zustand einer Gesellschaft, die den Menschen zum Produkt ihrer selbst zu machen droht. Der Mensch, also auch der Künstler, wird zu einer abhängigen Größe. Je weniger sich ein Mensch aber ähnelt, desto besser funktioniert er. So schafft die entstellteste Gesellschaft das höchste Bruttosozialprodukt. Nicht mehr als dies hat Josef Beuys uns vor Augen gehalten. Längst kaufen ihn sogar diejenigen, die seine Ideen, seine Werke und am liebsten ihn  für verrückt erklärt und verbannt gesehen hätten.

Wenn die Wörter ihre Bedeutung verlieren, verlieren die  Menschen ihre Freiheit. Das kann man nicht oft genug wieder holen. Diesem Satz von Konfuzius ist  hinzuzufügen, dass der Untergang der Kunst das Ende des Menschen einläutete. Die ewige Frage der Kunst bleibt unverändert. Früher  wurde sie von den Philosophen beantwortet. In unserer Moderne mit dem Universalheilmittel Wirtschaft, überlegt man die Geisteswissenschaften abzuschaffen, mangels Effizienz. So führt der Primat von Wirtschaft und Politik zwangsweise irgendwann zum Menschen als Primaten. Deshalb hat Kunst heute auch einen Auftrag der  Philosophie, nämlich die Bewahrung und Demonstration der menschlichen Identität. Sind doch beide, Kunst und Wort, jener Ewigkeit entliehen, der alle Existenz entstammt. Das Geheimnis dieser Existenz gleicht dem Geheimnis der Kunst, dessen völlige Aufdeckung so unmöglich ist wie die Notwendigkeit ihm nachzuspüren. Solange irgendwo auf der Welt  ein Künstler diesen Auftrag annimmt, bleiben Kunst und Wort und Mensch bewahrt.

Doch während der Künstler sich noch als Hammer wähnt, läuft er Gefahr zum Amboss zu werden. Zu allen Zeiten hat Politik versucht, sich das ihr wesensfremde Refugium künstlerischer Freiheit einzuverleiben, um einen gemeinen, kontrollierten Verfügungsraum  daraus zu machen und sei es im Nachhinein. Wie schon gesagt, hat Kunst nur eine Verpflichtung: Wahrheit, und eine Bedingung: Freiheit. Das meint Loslösung von jeder gesellschaftlichen Fessel. Wenn nichts mehr zwingt, dann entsteht die Bedingung für Kunst. Joseph Beuys hat  das in einem Vortrag auf der Documenta formuliert und „Die Liebe zur Sache“ als treibendes Agens herausgehoben.  Der Betrachter muss also sehr weit gehen, wenn er sich nähern will. Das führt dann zu verfrühter Ablehnung, häufiger noch verfrühter Zustimmung. Wenn ein Kunstwerk einen wahren Gedanken trifft, dann ist letztendlich nur wichtig, dass es diesen Gedanken gibt, wie etwa dem Urwaldriesen mitten im Amazonasbecken, dessen Wipfel noch niemand geschaut hat. Er gibt ihn! Das Urteil darüber ist unwichtig.

Über das Wesen der Kunst ist viel Widersprüchliches geschrieben worden. Sie lässt sich auch nicht mit einer schlichten Metapher erklären. Kunst spricht selbst, und es ist  über sie nichts zu sagen, als Überflüssiges. Wer Kunst liebt, der liebt Freiheit, die ohne Absicht einfach „ist“. So bleibt Kunst im eigentlichen Sinne, was sie immer war: existentielle Notwendigkeit. Kunst will nicht verstanden, sie kann nur erfühlt werden, wie die Schönheit eines Steines, eines Regentropfens, eines Sonnenstrahls, eines Halmes, wie das Heulen des Windes, die vollendete Zeile eines Gedichts, wie die Stille der Nacht. Wenn sie erklärt werden soll, dann ist es mit ihr vorbei, wie mit einem Witz dessen Pointe erklärt werden muss. Kunst hat eine ganz eigene Pointe, dem Schöpferischen unmittelbar verwandt, und so ist Kunst dem Wesen nach, andersherum verstanden, ein Witz, über den ein Gott lacht.


Literatur ist … .Von Karl Kraus

25. September 2011 | Kategorie: Aus "Die Fackel", Sprache, Verdichtetes

Die Fackel Nr. 294—295 ERSCHIENEN AM 4. FEBRUAR 1910 XI. JAHR  S. 37- 38

Eine Entschuldigung:*)

Literatur ist, wenn ein Gedachtes zugleich ein Gesehenes  und ein Gehörtes ist. Sie wird mit Aug’  und Ohr geschrieben. Aber Literatur muß gelesen sein, wenn ihre Elemente sich binden sollen. Nur dem Leser (und nur dem, der ein Leser ist) bleibt sie in der Hand. Er denkt, sieht und hört, und empfängt das Erlebnis in derselben Dreieinigkeit, in der der Künstler das Werk gegeben hat. Man muß lesen, nicht hören, was geschrieben steht. Zum Nachdenken des Gedachten hat der Hörer nicht Zeit, auch nicht, dem Gesehenen nachzusehen. Wohl aber könnte er das Gehörte überhören. Gewiß, der Leser hört auch besser als der Hörer. Diesem bleibt ein Schall. Möge der stark genug sein, ihn als Leser zu werben,damit er nachhole, was er als Hörer versäumt hat.

*) Als Einleitung des ersten und des zweiten Leseabends gesprochen.


Ja, so war er, der Karl Kraus ! Aus der Studentenwelt. Von W.K.Nordenham

22. September 2011 | Kategorie: Journalisten, Notizen aus Medienland

So bei ZEIT- online nachzulesen und nicht von mir :

ZEIT ONLINE  Uni-Leben  vom 10.06.11

Studenten von früher

Karl Kraus

Der Satiriker Karl Kraus nahm die verlogene Sprache des österreichischen Establishments auseinander. Was wohl heute aus dem scharfzüngigen Kritiker geworden wäre?

Über ein Wort wie Straßenreinigungsmaschine konnte Karl Kraus sich aufregen. Weil sie den Staub nur aufwirbelt – und nichts reinigt. In einem solchen Fall war mal wieder »der Blick auf die Dinge durch Phrasen verschattet«. Die Phrasen sollten weg, die ganze Welt war voller Phrasen, besonders Wien und seine Zeitungen. Mit seiner Zeitschrift, der Fackel, richtete Kraus das Establishment stilistisch einwandfrei hin.

1874 wird er in Nordböhmen geboren und zieht als Dreijähriger mit seiner Familie nach Wien ins Zentrum der Doppelmonarchie. Wohl auf Wunsch seines Vaters immatrikuliert er sich nach seiner Matura an der Wiener Uni, juristische Fakultät. Während seines Studiums schreibt er für verschiedene Wiener Zeitungen, meistens Feuilletons. Über sein Fach Jura schweigt Kraus sich aus. Was bei jemandem, der sich ansonsten zu allem äußert, nur eins bedeuten kann: allergrößtes Desinteresse. Anstatt sich mit seinen Kommilitonen zu treffen, geht er ins Café Griensteidl. In diesem Literatenladen ringen junge Genies im Zigarettenqualm mit der Kunst: Arthur Schnitzler, Felix Salten, Hugo von Hofmannsthal. Kraus sucht ihre Nähe. Aber er merkt auch: Sie alle hinterlassen dauernd Sprachmüll, den keiner wegräumt.

Im Sommer 1894 wechselt Kraus zur Germanistik. Er hört Vorlesungen zu Opitz, Klopstock, Goethe, so das Übliche. 1898 bietet die renommierte Neue Freie Presse dem Studenten eine Kolumne an – er lehnt kühn ab. Allein das Redigiertwerden empfindet Kraus als Zumutung und Zensur. Das schnelle Urteil und das arrogante Scharfrichtertum zeichnen schon den 24-Jährigen aus. Hierarchien sind nicht seine Sache.

  • Der Steckbrief

Name: Karl Kraus (1874 bis 1936)

Studium: Jura, Germanistik, Philosophie

Abschluss: keiner

Besondere Vorkommnisse: Um seinen Unterhalt musste sich Kraus nie sorgen. Seine Familie zahlt ihm lebenslang eine monatliche Rente

Beruf: Sprachkritiker, Satiriker, Verleger

Wichtigste Auszeichnung: Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof, Gedenkplatte an seinem Haus, digitalisierte Ausgabe der Fackel mit Volltextsuche: bit.ly/campus_fackel

Im gleichen Jahr wechselt er die Fronten, er will seine eigene Satirezeitung machen, in einer Stadt der Prunkfassaden und Maskeraden, in der sich alles um die Kunst und, Freud sei Dank, auch um Sex dreht. Zum Glück ist sein Vater ziemlich wohlhabend, er besitzt eine Papierfabrik und finanziert dem Sohn die erste Ausgabe seiner Fackel im April 1899. Kraus schreibt: „Das politische Programm dieser Zeitung scheint somit dürftig; kein tönendes ‚Was wir bringen‘, aber ein ehrliches ‚Was wir umbringen‘ hat sie sich als Leitwort gewählt.“ Der Scharfrichter lädt durch. Die Kaffeehausliteraten und die „Feuilletonschlampen“ – sie alle werden in nächster Zeit zu Kraus’ Opfern. Er scheut das Indezente nicht, spottet über ihre Namen, ihre Religion und – natürlich! – über ihren Stil.

Im Privaten soll Kraus zahm gewesen sein, liebenswürdig und zur Freundschaft begabt. Er heiratete nie. Aus einigen unglücklichen Liebschaften mit Schauspielerinnen und adeligen Damen sind Briefe erhalten, in denen er schon mal den weiblichen Verstand als „Aphrodisiacum“ preist. In Weltanschauungsdingen ist er eher sprunghaft. Erst tritt er aus der jüdischen Gemeinde aus, konvertiert dann zum Katholizismus, um ein paar Jahre später die Kirche wieder zu verlassen. Er kokettiert mit seinen politischen Überzeugungen, ist zu Beginn des Ersten Weltkriegs zwar Pazifist, jedoch strenger Befürworter der Monarchie, später wird er zum sozialdemokratischen Republikaner – was aber auch nicht für immer hält. Gegen das Kriegsgeschrei 1914 schreibt er an, denn in den kriegstreiberischen Leitartikeln und kitschigen Schützengrabenreportagen zeigt sich jener verlogene Missbrauch der Sprache, den er anprangern will. Doch als man ihn am dringendsten braucht, schweigt Karl Kraus lange: Heute noch hält man ihm vor, dass er nach der Machtergreifung Hitlers 1933 nichts zu sagen hatte. Bloß ein Gedicht erscheint Ende 1933 in der Fackel , der letzte Vers ist berühmt: »Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte.« Den Untergang muss er nicht mehr miterleben. Kraus stirbt mit 62 Jahren 1936 in Wien an Herzversagen.

Was würde ein sprachobsessiver polemischer Menschenfeind wohl heute machen? Er müsste in Berlin leben. Durch seine entlarvenden Beobachtungen in den Zeitungen würde ein Programmdirektor von, sagen wir, 3sat auf ihn aufmerksam. Dann bekäme Kraus eine nächtliche Monologsendung (und weil der frühere Kraus neuen Medien gegenüber aufgeschlossen war, auch noch einen Videoblog), in der er die Sprache von Journalisten, Ministern, Fußballkommentatoren, Künstlern und Dax-Vorständen sezieren würde – bis er die Wahrheit herausoperiert hätte.

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Ein exemplarisches Beispiel für Boulevardjouralismus liegt hier vor. Was nicht passt, wird passend gemacht.  Dieser Versuch einer Biographie in „Zeit online“ offenbart  jenen Mangel an Sorgfalt, der mit  scheinbarer Vielfalt  der Wahrheit ein Schnippchen schlägt.  Ja, so war er halt, der Karl Kraus. Er

nahm die verlogene Sprache des österreichischen Establishments auseinander.

Das insgesamt deutschsprachige Establishment hat er offenbar verschonen wollen, weil die Sprache und Denkweise dort untadelig war? Die Beschränkung auf Österreich  impliziert eine Beschränktheit, die nicht vorliegt. Es war der gesamte deutsche Wortraum gemeint und dessen Presse. Man erinnere nur seine Auseinandersetzung mit Alfred Kerr, um anderer Meinung in Bezug auf die Exklusivität des österreichischen Establishments  sein zu dürfen. Bei Kerr reichte es zuletzt, dass Karl Kraus ihn nur wörtlich abdrucken musste, um die sinnentleerte Phrase zu entlarven.

Über ein Wort wie Straßenreinigungsmaschine konnte Karl Kraus sich aufregen. Weil sie den Staub nur aufwirbelt – und nichts reinigt. In einem solchen Fall war mal wieder »der Blick auf die Dinge durch Phrasen verschattet«. Die Phrasen sollten weg, die ganze Welt war voller Phrasen, besonders Wien und seine Zeitungen.

Aufgeregt hätte er ihn allenfalls die Interpunktion, Weil der Satz nach dem Punkt ein causaler Nebensatz  ist und zudem eine Phrase.

Mit seiner Zeitschrift, der Fackel, richtete Kraus das Establishment stilistisch einwandfrei hin.

Der Satz hätte Karl Kraus gefallen können, wenngleich “ hinrichten“ eine ziemlich starker Vergleich scheint. Aber wenn es „einwandfrei“ geschieht, warum nicht?

Das schnelle Urteil und das arrogante Scharfrichtertum zeichnen schon den 24-Jährigen aus. Hierarchien sind nicht seine Sache.

Schnell ist er also und arrogant, und Hierarchien kann er nicht leiden, obwohl er eben noch einwandfrei hingerichtet hat. Was denn nun? Sicherlich schätzte er die Hierarchien der Zeitungsmacher nicht. Deren Urteil zu vertrauen, war ihm nicht gegeben. Wenn man  Arroganz als mögliche Haltung gegen dünkelhafte Dummheit  nicht nur seiner Zeit erkennt, so dürfte Karl  Kraus durchaus den Richtigen arrogant erschienen sein.  Für Menschen, die es Ernst meinten mit dem „Federleichten, das ein Leben wiegt“,  war er Freund und Helfer, z.B. für Adolf Loos, Oskar Kokoscha, Else Lasker-Schüler, Frank Wedekind, Peter Altenberg um nur einige wenige zu nennen. Was soll  das Adjektiv „arrogant“  im Zusammenhang mit Scharfrichtertum aussagen? Das ist in der Fläche gedacht und flach geschrieben, nicht in die Tiefe. Dass er scharf geurteilt hat Karl Kraus, schnell qua Intellekt, das ist  korrekt. Er nahm sich dafür alle Zeit, war vielleicht ein Richter, aber kein Henker. Erledigt hat er wohlbegründet  und es so angekündigt,  z. B.  bei Maximilian Harden. Er hielt den Zeitgenossen sein Bemühen um das Wort vor wie einen Spiegel vor und das genügte  für die Meisten. Die mochten sich bisweilen ausgesprochen schnell  und arrogant gescharfrichtert fühlen. Karl Kraus schrieb: “ Es ist die tragische Bestimmung meiner Figuren, das sprechen zu müssen, was sie selbst geschrieben haben und so auf eine Nachwelt zu kommen, die sie sich ganz anders vorgestellt haben. Mein Verdienst besteht nicht darin, irgendetwas erfunden zu haben, sondern darin, daß man glaubt, ich müsse es erfunden haben, weil man nicht glaubt, daß man es erlebt haben könne.“

  • Der Steckbrief

Besondere Vorkommnisse: Um seinen Unterhalt musste sich Kraus nie sorgen. Seine Familie zahlt ihm lebenslang eine monatliche Rente

Beruf: Sprachkritiker, Satiriker, Verleger

Einen Steckbrief gibt es auch, wie  „Gesucht wird…“  und nicht gefunden.  Ein besonderes Vorkommnis stellt erstaunlicherweise dar, dass Karl Kraus sich um seinen Unterhalt  nie sorgen musste. Sorgen muss man sich wohl eher um die Verfasser dieser Bemerkung ob der schlichten Denkweise. Aus Studentensicht vielleicht verständlich, aber die Familienrente war sehr bescheiden und der Preis der Fackel  so bemessen, dass  die  Kosten für seine Mitarbeiter gedeckt wurden. Einnahmen hatte Karl Kraus durch „Die Fackel“ nicht beabsichtigt. Die Vorstellung für Geld zu schreiben bleibt ein Privileg der Journaille. Karl Kraus hattte damit nichts zu tun. Auch die Einnahmen aus seinen vielen Lesungen wurden ausnahmslos gemeinnützig verwendet. Sein Verdienst war unter anderem, dass er am Wort nicht verdienen wollte. Vor allem aber muss bei „Beruf“ hinzugefügt werden: Aphoristiker, Zeitanalytiker, Vortragskünstler, Publizist und  Dichter und mehr als das:  Er war und bleibt das Gewissen der Zeit.

Im gleichen Jahr wechselt er die Fronten,…(…). Die Kaffeehausliteraten und die „Feuilletonschlampen“ – sie alle werden in nächster Zeit zu Kraus’ Opfern. Er scheut das Indezente nicht, spottet über ihre Namen, ihre Religion und – natürlich! – über ihren Stil.

Wechseln kann nur ,wer vorher einer Seite zugehörte. Karl Kraus gehörte immer dem Wort. Der Begriff „Feuilletonschlampen“ wird erst später  verwendet bei seiner Abrechnung mit  Alfred Kerr und geißelt die Schlamperei beim Schreiben von Feuilletons, zu der jener sich hatte hinreißen lassen. Über Religion spottete er nicht, nur über die Bigotterie.

Im Privaten soll Kraus zahm gewesen sein, liebenswürdig und zur Freundschaft begabt.

Was für eine Nettigkeit, wo er etwa  öffentlich wildes Tier war, bei dem, was er als Scharfrichter so trieb.  Man lese einfach die Erinnerungen von Kurt Wolff, streiche das „soll“  und  nehme das Attribut liebenswürdig im Privaten getrost  als gegeben hin. Freundschaft war ihm teuer und  nur sehr  Wenigen vorbehalten.

Gegen das Kriegsgeschrei 1914 schreibt er an, denn in den kriegstreiberischen Leitartikeln und kitschigen Schützengrabenreportagen zeigt sich jener verlogene Missbrauch der Sprache, den er anprangern will.

Das ist ein wahrhaft fundamentales Missverständnis! Nie ging es um etwas anderes als den geschundenen Menschen auf den Schlachtfeldern. Karl Kraus wandte sich nicht gegen die  Mordbrenner, die Kriegstreiber, eine wahnsinnige Soldateska, um nur den Missbrauch der Sprache in den Reportagen anzuprangern, sondern um zu beweisen, dass der Missbrauch der Sprache den Weltmordes ermöglichte. Als  1914 Hurrageschrei über den Kriegsausbruch die Straßen und die Gazetten erfüllte, schrieb Karl Kraus gegen den Wahnwitz dieses Krieges an. Das epochale Drama “ Die letzten Tage der Menschheit“ fasst alles zusammen, was  dazu gewusst werden muss.  Für dieses Werk  wurde Karl Kraus in den zwanziger Jahren mehrfach für den Nobelpreis vorgeschlagen.

In Weltanschauungsdingen ist er eher sprunghaft. Erst tritt er aus der jüdischen Gemeinde aus, konvertiert dann zum Katholizismus, um ein paar Jahre später die Kirche wieder zu verlassen. Er kokettiert mit seinen politischen Überzeugungen, ist zu Beginn des Ersten Weltkriegs zwar Pazifist, jedoch strenger Befürworter der Monarchie, später wird er zum sozialdemokratischen Republikaner – was aber auch nicht für immer hält.

Ja, der Karl Kraus, sprunghaft ist er und kokett pazifistisch auch. Da locken die Abgründe der Vermutung. Er wurde Katholik, was offenbar ehrenrührig ist und verließ die Kirche wieder, als man einen Kirchenraum für ein Theaterschauspiel zur Verfügung stellte und der Mutter Gottes Maria  in der Folge des ersten Weltkrieges eine Tapferkeitsmedaille verlieh, was offenbar keiner Erwähnung wert scheint. Denn für faule Kompromisse in Sachen Weltanschauung, die seiner Wortanschauung entsprach, war Karl Kraus nicht zu haben. Nie hat er sich selbst als Pazifist bezeichnet, weil er zeitlebens einer war und blieb. Er stand fast allein unbedingt nicht nur gegen Krieg, sondern auch und gerade gegen die Kriegsgewinnler, die Waffenschieber, die Fledderer des großen Schlachtens. Das steht allerdings  nicht notwendig  in Widerspruch zur Monarchie, wie man bis heute in vielen Ländern Europas erkennen kann. Er wandte sich ab, als sie  den großen Krieg entfachte. Sein  Pazifismus und sein zeitweises Bekenntnis zur Sozialdemokratie etwa  nur einer Koketterie verdankt? Karl Kraus fühlte sich dem Menschen zu sehr verpflichtet, um sich nibelungentreu an politisch kungelnde Parteien zu binden.  Als die Sozialdemokratie sich nach rechts  zur Heimwehr bewegte und mit dem damaligen Präsidenten Schober kungelte, der nachweislich für die Erschießung von fast einhundert friedlich demonstrierenden Arbeitern verantwortlich war, wandte er sich endgültig ab. Später musste er zusehen, wie Sozialdemokratie auf eine Einigung mit Deutschland setzte, als NSDAP schon ein Drittel der Parlamentssitze in Deutschland innehatte, statt alles gegen Hitler zu unternehmen.  Wolfgang Neuss räumte einst ein, viel von Karl Kraus gelernt, sogar übernommen zu haben und sagte einmal von sich: “ Ich bin viel zu sehr Mensch, um Humanist sein zu können.“ Den Satz hätte Karl Kraus übernommen.

Aus einigen unglücklichen Liebschaften mit Schauspielerinnen und adeligen Damen sind Briefe erhalten,…

Soso, die adeligen Damen! Mir ist nur die lebenslang dauernde Liebe zur Baronin  Sidonie  Nádherny von Borutin bekannt, über die es einen berührenden Briefwechsel gibt. Den Ring einer auf Erden nie geschlossenen Ehe  gab sie Karl Kraus mit ins Grab.

Doch als man ihn am dringendsten braucht, schweigt Karl Kraus lange: Heute noch hält man ihm vor, dass er nach der Machtergreifung Hitlers 1933 nichts zu sagen hatte.

Das verschlägt einem doch die Sprache. Wer hält da wem was vor? Namen der Trottel bitte! Lese ich hier in „Die Zeit-online“ oder  in einem Boulevardblatt? Karl  Kraus hätte sowieso keinen großen  Unterschied gesehen. Kennen die Autoren dieses Artikels die „Dritte Walpurgisnacht“ nicht? Karl Kraus veröffentlichte Teile  des im Herbst 1933 verfassten Aufsatzes  in der Fackel  erst  im Jahr  1934 unter dem Titel  „Warum die Fackel nicht erscheint“.  Auch in  ihm spricht er die  vielzitierten Worte  „Zu  Hitler fällt mir nichts ein“, um dann auf  dreihundert  Seiten abzurechnen, auch mit jenen, die glauben von ihm etwas fordern zu dürfen ohne vorher darüber nachgedacht zu haben, was sie da verlangen. Karl Kraus begründet sein Schweigen ausführlich mit den befürchteten  Konsequenzen für seine Leser im Reich Hitlers, in dem das Wort längst zur Tat geworden war. Sein eigenes Wort war ihm nicht das  Leiden oder gar Leben auch nur eines Menschen wert. In Deutschland war von Hitler wortwörtlich alles vollzogen worden, was in dem Pamphlet “ Mein Kampf“ geschrieben stand. Karl Kraus war nicht überrascht, denn er hatte ihn beim Wort genommen. Und das Wort wurde Tat. Dem Boulevard hätte 1933 ein Aufschrei von Karl Kraus gefallen, aber er wäre als Echo verhafteter  Fackelleser aus deutschen Konzentrationslagern zurückgehallt. In „Dritte Walpurgisnacht“ beschreibt er  das Grauen von Gewalt  und Rechtlosigkeit im totalitären Staat und dem Tod in den Konzentrationslagern an Hand von zu dieser Zeit allen zugänglichen Tatsachen, lange bevor die Welt es glauben oder gar wissen wollte. In „Hüben und Drüben“ , einer Rede gehalten im September 1932, gibt es ebenfalls Antworten auf seine Haltung zu den Nazis und auf die unrühmliche Rolle der Sozialdemokratie in dieser Zeit. (Artikel  liegt in „Das Rote Heft “ vor.)

Was würde ein sprachobsessiver polemischer Menschenfeind wohl heute machen?

Menschenfeind?  Wie schräg muss man denken, um Karl Kraus für einen Menschenfeind zu halten? Dazu fällt mir nichts ein.  Sprachobsessiv? Das kann nur ein Journalist erfinden. Karl Kraus war Schönheit der Sprache verfallen. Er nahm sie beim Wort und „niemand ist wohl tiefer in den Zaubergarten der Sprache eingedrungen“, wie Alfred Polgar ausführte. Er wollte sie retten vor dem Gebrauch, dem Verbrauch und vor der dauerhaften Entwertung als Phrase. Dass ihm dies nicht gelungen ist, weist nolens-volens die nassforsche Lässigkeit des obigen Artikels  posthum nach. Aber  gerade  dank  Karl Kraus kann man noch heute dem Geheimnis der Sprache nachspüren, an dessen Ursprung er den Beginn der Kunst vermutete und an welchem es  für ihn kein Plagiat gab.

Durch seine entlarvenden Beobachtungen in den Zeitungen würde ein Programmdirektor von, sagen wir, 3sat auf ihn aufmerksam. Dann bekäme Kraus eine nächtliche Monologsendung (und weil der frühere Kraus neuen Medien gegenüber aufgeschlossen war, auch noch einen Videoblog), in der er die Sprache von Journalisten, Ministern, Fußballkommentatoren, Künstlern und Dax-Vorständen sezieren würde – bis er die Wahrheit herausoperiert hätte.

Da liegt ein Irrtum vor. Die Wahrheit kann nur herausoperiert werden, wenn sie  vorher drin war. In der Sprache der Aufgelisteten  suchte er vermutlich  vergeblich. Wenn Karl Kraus heute  lebte, sähe er alle seine Voraussagen bestätigt. Ich wünschte mir, er widmete sich  der Dichtung  und  schriebe  vollendete Sonette, etwa  wie das für  Sidonie von Nadherny (Du bist so sonderbar in eins gefügt… Liegt in „Das Rote Heft“ vor)


Der Versuch. Von W.K. Nordenham

09. September 2011 | Kategorie: Sprache, Versuch

Werdegang des Schreibenden: Im Anfang ist mans ungewohnt und es geht deshalb wie geschmiert. Aber dann wirds schwerer und immer schwerer, und wenn man erst in die Übung  kommt, dann wird man mit manch einem Satz nicht fertig.

Die Nutzanwendung der Lehre, die die Sprache wie das Sprechen betrifft, könnte niemals sein, dass der, der sprechen lernt, auch die Sprache lerne, wohl aber, dass er sich der Erfassung der Wortgestalt nähere und damit der Sphäre, die jenseits des greifbar Nutzhaften ergiebig ist.

K a r l    K r a u s

 

Der Versuch. Von W.K. Nordenham

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DIE FACKEL Nr. 404 5. DEZEMBER 1914 XVI. JAHR . Von Karl Kraus.

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In dieser großen Zeit

die ich noch gekannt habe, wie sie so klein war; die wieder klein werden wird, wenn ihr dazu noch Zeit bleibt; und die wir, weil im Bereich organischen Wachstums derlei Verwandlung nicht möglich ist, lieber als eine dicke Zeit und wahrlich auch schwere Zeit ansprechen wollen; in dieser Zeit, in der eben das geschieht, was man sich nicht vorstellen konnte, und in der geschehen muss, was man sich nicht mehr vorstellen kann, und könnte man es, es geschähe nicht —; in dieser ernsten Zeit, die sich zu Tode gelacht hat vor der Möglichkeit, dass sie ernst werden könnte; von ihrer Tragik überrascht, nach Zerstreuung langt, und sich selbst auf frischer Tat ertappend, nach Worten sucht; in dieser lauten Zeit, die da dröhnt von der schauerlichen Symphonie der Taten, die Berichte hervorbringen, und der Berichte, welche Taten verschulden: in dieser da mögen Sie von mir kein eigenes Wort erwarten. Keines außer diesem, das eben noch Schweigen vor Missdeutung bewahrt. Zu tief sitzt mir die Ehrfurcht vor der Unabänderlichkeit, Subordination der Sprache vor dem Unglück. In den Reichen der Phantasiearmut, wo der Mensch an seelischer Hungersnot stirbt, ohne den seelischen Hunger zu spüren, wo Federn in Blut tauchen und Schwerter in Tinte, muss das, was nicht gedacht wird, getan werden, aber ist das, was nur gedacht wird, unaussprechlich. Erwarten Sie von mir kein eigenes Wort. Weder vermöchte ich ein neues zu sagen; denn im Zimmer, wo einer schreibt, ist der Lärm so groß, und ob er von Tieren kommt, von Kindern oder nur von Mörsern, man soll es jetzt nicht entscheiden. Wer Taten zuspricht, schändet Wort und Tat und ist zweimal verächtlich. Der Beruf dazu ist nicht ausgestorben. Die jetzt nichts zu sagen haben, weil die Tat das Wort hat, sprechen weiter. Wer etwas zu sagen hat, trete vor und schweige!                                                                                                 ( Beginn der ersten Vorlesung im Kriege vom 19.11. 1914, veröffentlicht am 5.12.1914 in „Die Fackel“  )

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So sprach Karl Kraus zum Ausbruch  des 1. Weltkrieges im Jahre 1914, der ersten als groß wahrgenommenen Apokalypse, der zweiten Walpurgisnacht. Wie aktuell klingen seine Worte! Nach unzähligen weiteren großen und kleinen Apokalypsen an allen Ecken und Enden der Erde, mit weitaus mehr Toten als in  beiden Weltkriegen zusammen, angesichts  der Tatsache, dass es überall und immer genug Waffen für Hungerleider gibt, die mit diesen die Auspressung ihrer Mitmenschen planen, durch deren Elend oder Tod sodann die Bezahlung der Mordinstrumente erfolgen muss, deren Enderlös eine Bank irgendwo auf der Welt  als Gewinn für wen auch immer verbucht, angesichts dieser Tatsache muss laut geschwiegen werden.  Haben Krieg und Vernichtung von Menschen  aufgehört? Hat der heutige Leser an Karl Kraus Beurteilung Wesentliches zu ändern? Allenfalls eines, dass wir uns heute das, was noch gestern unmöglich schien, zehn Jahre nach dem 11.9.2001 vorstellen können,  weil es gerade wieder in Afghanistan, Irak, Somalia, in Syrien oder im Sudan und vor unserer Haustür geschieht, zu welchem verlogenen Zweck auch immer.

Der Zweck heiligt die Mittel nicht, der Sinn heiligt sie. Einhundertund- siebenunddreißig Jahre nach Karl Kraus´ Geburt und  fünfundsiebzig Jahre nach seinem Tod erneut ein Rotes Heft zu beginnen, erscheint so unmöglich wie notwendig. Die Unmöglichkeit ist beglaubigt durch das Vorbild Karl Kraus. Die Notwendigkeit dazu ersteht täglich neu aus der Wahrnehmung einer Zivilisation, die alle Erwartungen in ihr vollständiges Versagen erfüllt. Von Menschlichkeit führt der Weg über Humanität auf gerader Linie zur reinen Publizität. Öffentlich sei der Mensch, mediengläubig und manipulierbar. Je unüberschaubarer die Masse sinnentleerter Daten, je undurchdringlicher das Labyrinth von Information und Desinformation, desto sicherer verfällt der hominide Nachrichtenmüllschlucker dem Rattenfänger, welcher in Euro und Cent, an Hand von Umsätzen, Auflagen und Einschaltprozenten, den Gewinn misst, der mit der Zeit, dem Leben und Blut immer der anderen erlöst wird. Der Mensch und das Wort werden benutzt, wo sie  gebraucht würden, und das Benutzen hinterlässt die Fingerabdrücke ungezählter Medienwichte, die mit Wortnebel einhüllen, mit Sensationsbildern nichts wirklich zeigen und mit Schlagzeilen erschlagen. Im Bedeutungsrausch torkelnde Talker sondern Vacuumsätze ab und lassen in der Medienwelt herumgöbeln, dass man mit dem Entsorgen nicht nachkommt. Sie wähnen sich witzig, aber es ist nur der  Wahnwitz. Grundsätzlich Kritisches, ein wahrhaftes Infragestellen, welches nachhaltige Folgen schlimmstenfalls ins Sinnhafte haben könnte, findet schon deshalb nicht statt, weil es die Abschaffung der meisten Medienformate nach sich ziehen müsste. Der gelegentlich  gehobene Alibizeigefinger landet zuverlässig, weil ohne Rat und Richtung, als Geste für das, was sein sollte, aber nicht sein darf oder kann, zielsicher und verlegen, bestenfalls im Nasenloch.  Das soll diese Seite, seit 10 Jahren geplant, als Versuch ändern, wohl wissend, dass es nichts nützen wird. Denn im Zeitalter des Internet stellt sich durch dieses eine Vervielfältigung des Gemeinen ein, der nolens-volens nur in ihm begegnet werden kann. Ich bin mir bei aller Bemühung schmerzlich bewusst,dass ich aus der Not eine Tugend mache, und obwohl ich mich auch tugendhaft glaube,was den Sinn angeht, handele ich doch insofern aus Not, weil meine Mittel zu reinem Umgang mit der Sprache  nicht ausreichen, um Karl Kraus Genüge zu tun. Daher wird es vorkommen, dass  die Form den Inhalt  mehr bestimmt als sie ihm diente und sie nicht sie zusammengehören „wie Seele und Leib“.

Wenn Wörter ihre Bedeutung verlieren, dann verlieren die Menschen ihre Freiheit, sagt Konfuzius. Angesichts einer vielstelligen Anzahl von Fernsehsendern und ungezählten bunten Blättern darf der Verlust der Freiheit für die Mehrzahl der Konsumenten bei maximaler Freizügigkeit als eingetretenes Phänomen betrachtet werden. Der Konsument ist  längst zum  Kon-Sumo mutiert, ein Vielfraß in jeder Beziehung. Wird dem Konsumenten noch eine scheinbare Wahl gelassen, greift der multimedial gleichgeschaltete Konsumo willig nach allem, was man ihm hinhält. Mit programmatisch eingetretenem Schädel lauscht er dem Singsang der Worthülsen, der schon deshalb keine Sphärenmusik sein kann, weil ihn jeder hört und zwar ununterbrochen und überall.  Eine Unterhaltungsindustrie, deren Zweck vor allem darin besteht, den Unterhalt der Eigner und weniger Nutznießer zu erhalten, martert selbst noch die dümmste Phrase zu Tode und opfert ohne Skrupel für eine “traumhafte” Einschaltquote den Anspruch auf  jeden messbaren Intelligenzquotienten. Die Massenakzeptanz mutiert zur Qualitätsgarantie, so als wollte man  Toilettenpapier zum  bedeutendsten Papiererzeugnis erklären. Mit einer Boulevardzeitung in der Hand wird der Vergleich zwar plausibel, aber man zieht das Toilettenpapier vor. Das Ergebnis für den Konsumo debilis ist nicht traumhaft sondern traumatisch. Das Wort aber gehörte in keinen Verfügungsraum. Es müsste freundlich mit ihm umgegangen werden, und Freunde benutzt man nicht. Fehlte uns die Sprache, verflachten wir seelisch wie weiland ein Kaspar Hauser, ohne aber dessen Empfindsamkeit bewahrt zu haben. Wer die Freude zum Jauchzen bringt, erlebt im Worte das Vergnügen, ebenso wie der, welcher der Not, der Verzweiflung und Trauer sogar Freude abzugewinnen vermag, wie Hölderlin im Epigramm „Sophokles“:

Viele versuchten umsonst das Freudigste freudig zu sagen, Hier spricht endlich es mir, hier in der Trauer sich aus.

Und welche Kontemplation erlaubt eine Ruhe über den Gipfeln?  Wer solches Gedicht für banal hält, überstellt es dem Journalismus, der nur dem Tag huldigt, während  es doch  jener Ewigkeit entliehen ist, der die Sprache entstammt.

Das Abgenutzteste, Geschundenste dieser Wörter heißt “Verantwortung”, dessen Bedeutung sich in das Gegenteil verkehrt hat. Ein Rotes Heft übernahm vor einhundertundzwölf Jahren die Verantwortung für Inhalt, Absicht und Folgen. Heutzugtage  „tragen“ alle immer und überall Verantwortung,  ohne sie  im Ernstfall   übernehmen zu wollen. Sie haben sie nicht, sie tragen ja nur. Aber wohin? Wo wird Verantwortung von den Trägern abgelegt und entsorgt?  Auf die direkte Frage, wer sie habe,  findet sich niemand, der sie vor kurzem noch pfaulich herumtrug. Sie trägt sich halt so dekorativ. Politiker tragen sie am überzeugendsten und besonders gern für alles, wofür man sie nicht direkt belangen kann, Firmenchefs für Entlassungen nach Rekordgewinn und zur Sicherung immer wieder der Arbeitsplätze, die mobilen Geschäftemacher vom unehrlichen Makler bis zum Waffenhändler tragen sie für das, was sonst eben ein “Anderer” machen würde, und letztendlich tragen sie mordbrennende Fanatiker im Namen einer beliebigen Ideologie, die mit der Idee nichts gemein hat als nur den Anfangsbuchstaben und die Gemeinheit. Ohne Publizität fände ein bedeutender Teil dieser Schandtaten nicht statt, weil sie für die Publizität begangen werden, welche die ephemeren Medien  im ständigen Kreislauf   herstellen und damit  verursachen, worüber sie lediglich zu informieren vorgeben. Denn Angst vor Öffentlichkeit hindert eben jene nicht, die erst durch Öffentlichkeit zu ihrem jämmerlichen Leben erweckt werden, sei es für einen Monat, eine Woche oder nur für einen Tag. Die Prämissen der Umsatzintellektuellen verlangen den Rauch auch ohne Feuer. Die daraus resultierende Untergang des Geistigen wird von Boulevardpresse und Buntbildsendern als Possenspiel mit Kultstatus inszeniert. Jede Belanglosigkeit wird zur Schlagzeile aufgeblasen, mit der auf die sogenannten Konsumenten eingedroschen wird, bis die Schädeldecke allein zur Hohlraumversiegelung taugt. Dafür übernehmen Wirtschaft und Staat uneingeschränkt eine folgenlose Verantwortung; denn: Wer schränkte sie ein? Der mündliche, also laute Bürger bestenfalls, der demonstrativ die Freiheit einfordert, die ein Grundgesetz verspricht, welchem aus Staatsraison bei Bedarf der Gummiknüppel zugeordnet wird. Ob sich die Hüter der Ordnung dann noch als solche verstehen dürfen, wäre nicht die Frage, wenn – ja, wenn der Sinn die Mittel heiligte und nicht der Zweck.

Als sich der arbiter linguae Karl Kraus mit der Fackel aufmachte, um die Welt mit der Sprache zu erleuchten und der kollektiven Dummheit ein Licht aufzusetzen, war klar, dass es nicht darum gehen konnte die Welt zu verändern, sondern zu beschreiben, dass sie untergeht, wie Kjerkegard folgerte. Karl Kraus oft verzweifelte Trauer über den unausweichlich sich fortsetzenden freien Fall der Menschheit und seine kompromisslose Menschlichkeit  sichern ihm bis dato  den Status des glaubhaftesten Analytikers einer Zeit, die seine war und unsere ist. Er starb vor fünfundsiebzig Jahren und wird mit jedem Jahr lebendiger. Die hier vorliegende Internetseite hat die Absicht ein Forum für jene zu sein, denen die Flüchtigkeit so fern ist wie das Bleibende nah, mit jenem Rest an Hoffnung, der den Versuch rechtfertigt. Dabei werden vor allem etliche Texte aus “Die Fackel” erscheinen, welche durch die erneute Veröffentlichung ihre Aktualität nachweisen.

Sprache altert nicht. Die neue Rechtschreibung wird, soweit erkennbar nötig, übernommen. Fußnoten werden ggf. für zeitgenössische Leser hinzugefügt. Aber es werden auch andere Autoren zu Wort kommen, die  über die Zeit sprechen, über sie Zeit hinausreichen oder sie beschreiben, wenn sie sich des Wortes annehmen. Karl Kraus korrigierte immer bis auf den letzten Beistrich. Das wird mir nicht fehlerfrei gelingen, weshalb Korrekturempfehlungen erwünscht sind und laufend vorgenommen werden. Das Wort soll beim Wort genommen werden. Ich wohne nicht als Epigone im alten Haus der Sprache, aber ich suche den Weg dorthin, auf welchen weit, weit vorn die Fackel aufleuchtet. Walter Benjamin fand nichts trostloser als Kraus`Adepten. Das muss ich auf mich nehmen. Es ist weder Ziel noch Absicht, zu schreiben wie Karl Kraus, sondern nach Karl Kraus, weil jeder mir gelungen erscheinende Satz immer noch meilenweit  hinter seiner Vorgabe zurückbleiben muss. So kann ich nur versuchen, den seit seinem Tod täglich zunehmenden Leerraum in der Medienwelt durch das Echo seiner Zeilen, meiner Kommentare und hoffentlich bemerkenswerter Beiträge außerordentlicher Zeitgenossen, im Laufe der Zeit, wenn schon nicht kleiner, so doch bewusst zu machen. Aber einer musste anfangen, wenigstens das Pfand für das ungenießbare mediale Sprachleergut einzufordern. Der Name „Das Rote Heft“ formuliert zudem einen Anspruch, dem auch ein Besserer als ich nicht gewachsen wäre. Dem längst erhobenen Vorwurf  von Leuten – die Karl Kraus aus Selbstschutz oder Hybris nie zu lesen wagten -, das sei eine Nummer zu groß für mich, kann ich gelassen begegnen: Mindestens Zwei!  Deshalb werde ich die Fähigkeiten moderner Elektronik schamlos nutzen, um das Geschriebene zu überprüfen, zu korrigieren, zu ergänzen oder zu kürzen, damit ich vielleicht irgendwann so nahe an das Wort herankomme wie eben möglich.Vor der Unendlichkeit der Sprache wird an dieser Stelle von vornherein die Unzulänglichkeit sowohl vor ihr als auch vor Karl Kraus eingestanden. Beide bitte ich um Nachsicht.