10. Oktober 2012 | Kategorie: Artikel, Menschenwürde, Zeitzeugnisse/Zeitzeugen
Bernhard Diehl wollte Arzt werden, aber bekam nicht sofort einen Studienplatz. So ging er 1968 als Krankenpflegehelfer für die Malteser nach Vietnam, um das Elend der Menschen zu lindern und arbeitete in einem Hospital, das jeden Monat mehreren tausend Verletzten, Zivilisten wie Soldaten, kostenlos medizinische Hilfe leistete. Aber irgendwie war Bernhard Diehl für den Vietcong trotz des roten Kreuzes auf der „anderen Seite“. In den Wirren des Krieges wurde er vom Helfer mit Malteserkreuz zum Gefangenen und vier lange Jahre festgehalten. Von den fünf gefangenen deutschen Helfern überleben nur zwei. In der Gefängniseinzelzelle entsteht u.a. das Lied/Gedicht eines Schuldlosen, der wie ein Mörder gehalten wird. Damals war er 23 Jahre alt. Hier klingt der Schrei all derer an, die auch heute schuldlos in den Gefängnissen der Welt sitzen, von Guantanamo bis Baghram, von Minsk und bis Pjöngjang. Es ist der Schrei, den ein Munch gemalt hat, ein Schrei, der im Universum nicht verstummen wird, solange irgendwo auf der Welt der Unschuldige leidet. Der Text ist entnommen dem Band:
Gedichte und Liedertexte
Dr. med. Bernhard J. M. Diehl
August von Goethe Literaturverlag
179 S. TB 2009 (erhältlich über amazon)
Seht da den Mörder … (Bekenntnis eines Schuldlosen)
Wenn nachts die Ketten rasseln, wach ich auf aus meinem Schlaf,
Denn ich weiß, ein neuer Mörder wird gebracht.
Und dann hör ich Leute lachen, hör Befehle laut und scharf,
und ich denk daran, dass man auch mich verlacht.
Seht da, den Mörder! Endlich ist er zahm.
Gefängniszelle, eine wahre Hölle.
Nur wer drin war, kann verstehen, was das heißt.
Die Gitterstäbe rosten, der Putz fällt von der Wand,
Und morgens modern Ratten vor der Tür.
Ich sitz´ auf meinem Holzbett, hab´ Ketten um die Hand,
Nur Brot und Wasser, sonst gibt´s hier nichts mehr.
Seht da, den Mörder! Endlich ist er zahm.
Gefängniszelle, eine wahre Hölle.
Nur wer drin war, kann verstehen, was das heißt.
Zweimal am Tage waschen, mal morgens früh um sechs
und dann noch einmal nachmittags um zwei.
Ich fasse einmal Essen und esse wie verhext,
Und dann ist so ein Zellentag vorbei.
Seht da, den Mörder! Endlich ist er zahm.
Gefängniszelle, eine wahre Hölle.
Nur wer drin war, kann verstehen, was das heißt.
Hier gibt es keine Butter und kein weiches Ei,
Und Wurst hat diese Zelle nie geseh´n.
Ich sammle meine Kippen, mal zwei oder auch drei
Und kann dann aus dem Rest ´ne neue dreh´n.
Seht da, den Mörder! Endlich ist er zahm.
Gefängniszelle, eine wahre Hölle.
Nur wer drin war, kann verstehen, was das heißt.
Die Decken sind vermottet, die Seife rationiert,
und in dem Holzbett sitzen Wanzen drin.
Mein Pisspott hat zwei Löcher und wenn ich urinier,
Dann stinkt die ganze Bude nach Urin.
Seht da, den Mörder! Endlich ist er zahm.
Gefängniszelle, eine wahre Hölle.
Nur wer drin war, kann verstehen, was das heißt.
Warum bin ich gefangen? Was hab ich denn getan?
Wann lasst ihr mich denn endlich mal nach Haus?
Ich schreie diese Fragen, doch keiner stört sich dran… .
Wer hier mal sitzt, kommt nicht so schnell heraus.
Seht da, den Mörder! Endlich ist er zahm.
Gefängniszelle, eine wahre Hölle.
Nur wer drin war, kann verstehen, was das heißt.
16. September 2012 | Kategorie: Artikel, Randnotizen
Kölner Stadtanzeiger 13. September 2012
Daniela Katzenberger will gefunden werden.
TV-Blondine Daniela Katzenberger hat keine Lust mehr, ihren Märchenprinz zu suchen. „Ich will endlich mal gefunden werden.Den Mann, den ich mal heirate, den gibt es ja schon. Aber irgendwas macht er falsch, dass ich ihn nicht treffe.“(dpa)
Das muss ein Irrtum sein, wenn die Dame ihren Märchenprinz e n nicht mehr suchen will. Der Mann macht nichts falsch, auch nicht im Nominativ. Ich denke, er ist einfach nur auf der Flucht.
29. August 2012 | Kategorie: Artikel
Es lässt mich nicht los.
Hier geht es wieder um Geld:
Frankfurter Rundschau 23. April 2012
Fünf Jahre Haft Landkreisbeamtin veruntreut 500.000 Euro
Fünf Jahre Haft wegen Veruntreuung: So lautet das Urteil gegen eine Beamtin des Landkreises.
Das Frankfurter Landgericht hat die 47 Jahre alte Patricia M., die den Hochtaunuskreis um m e h r a l s e i n e h a l b e M i l l i o n Euro betrogen hat, zu fünf Jahren Haft, ihren Mann zu eineinhalb Jahren verurteilt. E s w a r e i n U r t e i l , d a s e s i n s i c h h a t t e. Das galt auch für die Urteilsbegründung.
F ü n f J a h r e Freiheitsstrafe – so lautete das Urteil für Patricia M.. Ihr mitangeklagter Ehemann Manfred wurde wegen Beihilfe zu a n d e r t- h a l b J a h r e n H a ft verurteilt – die Strafe wurde n i c h t zur Bewährung ausgesetzt.
Denn dem Vorsitzenden Richter Horst Zimmermann w a r s o g a r n i c h t n a c h B e w ä h r u n g . Er zeigte sich von dem Prozess, der sich seit Monaten zähflüssig dahinzog, deutlich genervt. Zimmermann ist genervt von den Angeklagten. Patricia M., ehemalige Postbeamtin, die 2009 nach längerer Beschäftigungslosigkeit einen Posten beim Landratsamt antrat, nutzte ihre Stellung als Geldquelle.
Hier wurden wieder mehrere Leben zerstört:
FOCUS online 27.08.2012
ProzesseMissbrauch in Großfamilie: Haftstrafe für Vater
D r e i seiner sieben Töchter hat ein 48-Jähriger in einem Dorf in Dithmarschen (Schleswig-Holstein) jahrelang missbraucht. Dafür hat das Landgericht Itzehoe den zehnfachen Familienvater am Montag zu a c h t e i n h a l b Jahren Haft verurteilt.
Sein mitangeklagter 18 Jahre alter Sohn erhielt eine z w e i j ä h r i g e J u g e n d s tr a f e a u f B e w ä h r u n g. Nach Überzeugung des Gerichts h a t t e n s i c h b e i d e v i e l e M a l e a n d e n M ä d c h e n v e r g a n g e n , d i e h e u t e 1 7, 1 3 u nd 8 Jahre alt sind . Auch der 16-jährige Sohn des Mannes stand am Montag wegen Missbrauchs vor Gericht – unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Wie die Richter über ihn urteilten, wurde nicht mitgeteilt.
Im Verfahren gegen den Vater wertete der Vorsitzende Richter Eberhard Hülsing es als s t r a f v e r sc h ä r f e nd, dass dessen Verhalten der N ä h r- b o d e n für die Taten der Söhne gewesen sei. „So etwas habe ich noch nicht erlebt, dass ein Vater seinen Söhnen ein solches Verhalten vorlebt“, sagte Hülsing. S t a a t s a nw ä l t i n Stephanie Poensgen hatte für den 48-Jährigen neuneinhalb Jahre Haft verlangt, das Strafmaß für den 18-Jährigen entsprach ihrer Forderung. 2 6 Taten hatte sie in ihrem Plädoyer für den Vater aufgelistet, bei dem 18-Jährigen waren es 8 0 Taten.
Beide h a t t e n d ie V o r w ü r f e z u n ä c h s t b e s t r i t t e n, doch später widerriefen sie ihre Unschuldsbeteuerungen. Der Sohn legte ein umfassendes Geständnis ab, doch der Vater gab n u r e i n e n T e i l der Vorwürfe zu: Er habe sich nur an einer seiner Töchter vergriffen, als diese bereits älter als 14 Jahre gewesen sei. Beide entschuldigten sich am Ende des Prozesses bei ihren Opfern. Der Verteidiger des Vaters überlegt, ob er in Revision geht. Der Anwalt des 18-Jährigen akzeptierte den Urteilsspruch. Die Bewährung wurde ausgesprochen, weil der 18-Jährige bereits sechs Monate in U-Haft gesessen hatte.
Nach Überzeugung der Prozessbeteiligten kam in dem Verfahren nur „d i e S p i t z e d e s E i s b e r g s “ zur Sprache.
Aufs Neue wird der Beweis geführt, dass die Macht das Recht nicht nur hat, sondern auch anwendet – gegen die Machtlosen. Fünf Jahre und eineinhalb Jahre ohne Bewährung für einen Betrag der im legalen Milliardenspiel noch weit unterhalb von Peanuts rangierte und über den jeder Banker lacht, der wegen eines Vielfachen ungestraft davonkommt. Da muss man schon drei und nicht nur zwei Kindern die Seelen morden um fünf Jahre zu toppen. Mal abgesehen davon, dass ich mir nicht einmal vorstellen kann, wie es sich mit der Spitze eines Eisberges verhält, der laut Beobachter wohl nur zur Sprache gekommen sein soll, kann ich mir noch weniger vorstellen, dass sogar ein strafverschärfender Nährboden nötig war, um den Richter auf ein Jahr weniger erkennen zu lassen als die Staatsanwältin gefordert hatte. Was hatte er denn ohne die Strafverschärfung vor? Man kommt pro Kind, zynisch kalkuliert, auf unter drei Jahre Haft, wobei man sich nolens-volens die Frage vorlegt und lieber nicht beantwortet haben möchte, wie alt die Kinder bei den Vergewaltigungen waren – denn um etwas anderes handelt es hierbei sicherlich nicht -, wenn sie heute erst 17, 13 und unaussprechliche 8 Jahre alt sind. Das wirken die fünf Jahre Haft für mal gerade eine halbe Million Euro doch eher nett übertrieben, und das Leben ist dem Geld in seiner Bedeutung wieder einmal hoffnungslos unterlegen.
07. August 2012 | Kategorie: Anthologie der Menschheit, Artikel, Aus "Die Fackel", Nachts
DIE FACKEL
Nr. 360/361/362 7. NOVEMBER 1912 XIV. JAHR S.1- 10
Nachts
Ich muss wieder unter Menschen gehen. Denn zwischen Bienen und Löwenzahn, in diesem Sommer, ist mein Menschenhass arg ausgeartet.
In der Schöpfung ist die Antithese nicht beschlossen. Denn in ihr ist alles widerspruchslos und unvergleichbar. Erst die Entfernung der Welt vom Schöpfer schafft
Raum für die Sucht, die jedem Gegenteil das verlorene Ebenbild findet.
Flucht in die Landschaft ist verdächtig. Die Gletscher sind zu groß, um unter ihnen zu denken, wie klein die Menschen sind. Aber die Menschen sind klein genug, um unter ihnen zu denken, wie groß die Gletscher sind. Man muss jene zu diesem und nicht diese zu jenem benützen. Der Einsame aber, der Gletscher braucht, um an Gletscher zu denken, hat vor den Gemeinsamen, die unter Menschen an Menschen denken, nur eine Größe voraus, die nicht von ihm ist. Gletscher sind schon da. Man muss sie dort erschaffen, wo sie nicht sind, weil Menschen sind.
Die Ärzte wissen noch nicht, ob es humaner sei, die Leiden des sterbenden Menschen zu verlängern oder zu verkürzen. Ich aber weiß, dass es am humansten ist, die Leiden der sterbenden Menschheit zu verkürzen. Eines der besten Gifte ist das Gefühl der geschlechtlichen Unsicherheit. Es ist vom Stoff der Krankheit bezogen. An welcher Krankheit denn leiden sie? Dass sie sich ihrer Gesundheit schämen. Die Menschheit stirbt heimlich an dem, wovon zu leben sie sich verbietet: am Geschlecht. Hier lässt sich nachhelfen, indem
man an das, was sie wie einen Diebstahl ausführen und hinterdrein Liebe nennen, noch etliche Zentner jener Vorstellung einer Zeugenschaft hängt, die das Vergnügen versalzt. Ein Alpdruck, schwerer als das Gewicht der Sünde. Und dies Gift wird die Männer umso gewisser bleich machen, als es für die Konkubinen ein Verschönerungsmittel ist. Es geht nicht länger an, den Frieden denaturierter Bürger ungestört zu lassen, und tausend Casanovas sind Stümper neben dem Gespenst, das ein Gedanke hinter die Gardine schickt. Ist denn solche Vorstellung schlimmer als die, mit der der Anblick der Zufriedenheit unsereinen peinigt? Soll
es wirklich noch Augenblicke geben dürfen, in denen ein Wucherer unbewusst wird? Dem Verstande der Gesellschaft, die das heutige Leben innehat, lässt sich mit nichts mehr beikommen. Will man die Heutigen treffen, so muss man warten, bis sie unzurechnungsfähig sind. Nicht im Rausch: denn was hätten sie dabei zu fürchten, und wüssten sie dort Gefahr, so würden sie enthaltsam. Nicht im Schlaf: denn nicht im Traum fällt es ihnen ein, unzurechnungsfähig zu sein. Aber manchmal liegen sie im Bett und wissen von nichts. Da sollen sie es erfahren.
Die Tragik des Gedankens, Meinung zu werden, erlebt sich am schmerzlichsten in den Problemen des erotischen Lebens. Jedes Frauenzimmer, das vom Weg des Geschlechts in den männlichen Beruf abirrt, ist im Weiblichen echter, im Männlichen kultivierter als die Horde von Schwächlingen, die es im aufgeschnappten Tonfall neuer Erkenntnisse begrinsen
und die darin nur den eigenen Misswachs erleben. Das Frauenzimmer, das Psychologie studiert, hat am Geschlecht weniger gefehlt, als der Psycholog, der ein
Frauenzimmer ist, am Beruf.
Die Lust des Mannes wäre nur ein gottloser Zeitvertreib und nie erschaffen worden, wenn sie nicht das Zubehör der weiblichen Lust wäre. Die Umkehrung dieses Verhältnisses zu einer Ordnung, in der sich eine ärmliche Pointe als Hauptsache aufspielt und nachdem sie verpufft ist, das reiche Epos der Natur tyrannisch abbricht, bedeutet den Weltuntergang: auch
wenn ihn die Welt bei technischer, intellektueller und sportlicher Entschädigung durch ein paar Generationen nicht spürt und nicht mehr Phantasie genug hat, sich ihn vorzustellen.
Das sind die wahren Wunder der Technik, dass sie das, wofür sie entschädigt, auch ehrlich kaputt macht.
Die Verluste an Sinnlichkeit und Phantasie, die Ausfallserscheinungen der Menschheit, sind kinodramatisch.
Die Eignung zum Lesen der Kriegsberichte dürfte bei mancher Nation schon heute die Kriegstauglichkeit ersetzen.
Die Technik ist ein Dienstbote, der nebenan so geräuschvoll Ordnung macht, dass die Herrschaft nicht Musik machen kann.
Es ist gut, dass es der Gesellschaft, die daran ist, die weibliche Lust trocken zu legen, zuerst mit der männlichen Phantasie gelingt. Sie wäre sonst durch die Vorstellung ihres Endes behindert.
Der Mann hat keinen persönlicheren Anteil an der Lust, als der Anlass an der Kunst. Und wie jeder Anlass überschätzt er sich und bezieht es auf sich. Der einzelne Lump sagt auch, ich hätte über ihn geschrieben, und hält seinen Anteil für wichtiger als den meinen. Nun könnte er noch verlangen, dass ich ihm treu bleibe. Aber die Wollust meint alle und gehört keinem.
Wer sich durch eine Satire gekränkt fühlt, benimmt sich nicht anders als der zufällige Beischläfer, der am andern Tage daherkommt, um seine Persönlichkeit zu reklamieren. Längst ist ein anderes Beispiel an seine Stelle getreten, und wo schon ein neues Vergessen
beginnt, erscheint jener mit der Erinnerung und wird eifersüchtig. Er ist imstande, die Frau zu kompromittieren.
Was mir und jedem Schätzer von Distanzen einen tätlichen Überfall auf mich peinlich macht, ist die Verstofflichung der Satire, die er bedeutet. Anstatt dankbar zu sein, reinkarniert sich das, was mir mit Mühe zu vergeistigen gelang, wieder zu leiblichster Stofflichkeit, und der dürftige Anlass schiebt sich vor, damit mein Werk nur ja auf ihn reduziert bleibe. Darum muss mich in einer Gesellschaft, der es an Respekt fehlt, die Waffe schützen. Mir fehlt es nicht an Respekt vor den kleinen Leuten, die mich zu etwas anregen, was ihnen längst nicht mehr gilt, wenn’s fertig ist. Ich nehme jede nur mögliche Rücksicht. Denn lähmte mich nicht die Furcht, mit ihnen zusammengespannt zu werden, so würde ich sie doch selbst überfallen. Was mir nicht nur Genuss, sondern auch Erleichterung der satirischen Mühe brächte.
Man muss dazu gelangen, die erschlagen zu wollen, die man nicht mehr verarbeiten kann, und im weiteren Verlauf sich von denen erschlagen zu lassen, von denen man nicht mehr verstanden wird.
Alle sind von mir beleidigt, nicht einzelne. Und was die Liebe betrifft, sollen alle rabiat werden und nicht die, die betrogen wurden.
Der Mann ist der Anlass der Lust, das Weib die Ursache des Geistes.
Das Weib nimmt einen für alle, der Mann alle für eine.
Die Lust hat es nur mit dem Ersatzmann zu tun. Er steht für den andern, für alle oder für sich selbst. Der ganze Mann in der Lust ist ein Gräuel vor Gott. Hierin dürfte die Wedekindsche Welt begrenzt sein:
vor dem tief erkannten Naturbestand des Weibes die tief gefühlte Sehnsucht des Rivalen. Weibliche Genussfähigkeit als Ziel des Mannes, nicht als geistige Wurzel:
Anspruch einer physischen Wertigkeit, mit der sich’s in Schanden bestehen ließe. Nicht Kräfte, die einander erschaffen, sondern Lust um der Lust willen. Tragisch das Weib erfasst, weil es anders sein muss als von Natur, und damit eine Tragik des Mannes gepaart, weil er anders von Natur ist. Aber tragisch wird nur das weiblich Unbegrenzte an einer Ordnung,
die sich die männliche Begrenztheit erfunden hat. Diese ist nicht tragisch, sondern nur traurig von Natur und hassenswert, weil sie die Freiheit des Weibes in das Joch ihrer Eitelkeit spannt, den eigenen Defekt an der Fülle rächt und etwas beraubt, um es zu besitzen. Hier ist nicht Schicksal, sondern ein Zustand, dessen Verlängerung, ja Verewigung selbst keine Schöpferkraft gewährte. Denn in nichts wird die Hemmungslosigkeit des Mannes umgesetzt. Sie bleibt irdisch. Die Lust aber, die der Erdgeist genannt wird, braucht ihren Zunder, doch auf den Funken kommt es an, den sie in eine Seele wirft. Dieser Dichter hat Lulu erkannt; aber er beneidet vielleicht ihren Rodrigo. Dieses Genie der Begrenztheit — in der genialen Hälfte genialer als irgendein Ganzer im heutigen Deutschland — stelle ich mir im Anblick des Fremier’schen Gorilla vor. Um die Ohnmacht der Frau — ihr Anblick gibt den Engeln
Stärke, wenn keiner sie ergründen mag — weiß er. Aber die Kraft des Tieres dürfte ihm imponieren.
Trauer und Scham sollten alle Pausen wahrer Männlichkeit bedecken. Der Künstler hat außerhalb des Schaffens nur seine Nichtswürdigkeit zu erleben.
Die Eifersucht auf die ungestaltete Materie, die mir täglich um die Nase schwippt und schwätzt, wippt und wetzt, auf Menschen, die leider noch existent, aber noch nicht erschaffen sind, lässt sich schwer dem andern begreiflich machen.
Die wahren Wahrheiten sind die, welche man erfinden kann.
Das Verständnis meiner Arbeit ist erschwert durch die Kenntnis meines Stoffes. Dass das, was schon da ist, noch erfunden werden muss und dass es sich lohnt, es zu erfinden, sehen sie nicht ein. Und auch nicht, dass ein Satiriker, der die vorhandenen Personen erfindet, mehr Kraft braucht, als der, der die Personen so erfindet, als wären sie vorhanden.
Dieser Wettlauf mit den unaufhörlichen Anlässen! Und dieser ewige Distanzlauf vom Anlass zur Kunst! Keuchend am Ziel — zurückgezerrt zum Start, der sich
erreicht fühlt.
Man kennt meine Anlässe persönlich. Darum glaubt man, es sei mit meiner Kunst nicht weit her.
In keiner Zeit war das Bedürfnis so elementar wie in der heutigen, sich für das Genie zu entschädigen.
Psychologie ist der Omnibus, der ein Luftschiff begleitet.
Man sagt mir oft, dass manches, was ich gefunden habe, ohne es zu suchen, wahr sein müsse, weil es auch F. gesucht und gefunden habe. Solche Wahrheit wäre wohl ein trostloses Wertmaß. Denn nur dem, der sucht, ist das Ziel wichtig. Dem, der findet, aber der
Weg. Die beiden treffen sich nicht. Der eine geht schneller, als der andere zum Ziel kommt. Irgendetwas ist ihnen gemeinsam. Aber der Prophet ist immer schon da und verkündet den apokalyptischen Reiter.
Analyse ist der Hang des Schnorrers, das Zustandekommen von Reichtümern zu erklären. Immer ist das, was er nicht besitzt, durch Schwindel erworben. Der andere hat’s nur, er aber ist zum Glück eingeweiht.
Das Unbewusste zu erklären, ist eine schöne Aufgabe für das Bewusstsein. Das Unbewusste gibt sich keine Mühe und bringt es höchstens fertig, das Bewusstsein zu verwirren.
Die Nervenärzte haben es jetzt mit den Dichtern zu schaffen, die nach ihrem Tode in die Ordination kommen. Es geschieht ihnen insofern recht, als sie tatsächlich nicht imstande waren, die Menschheit auf einen Stand zu bringen, der die Entstehung von Nervenärzten ausschließt.
Alle Naturwissenschaft beruht auf der zutreffenden Erkenntnis, dass ein Zyklop nur ein Auge im Kopf hat, aber ein Privatdozent zwei.
Der Handelsgeist soll sich im Pferch der Judengasse entwickelt haben. In der Freiheit treiben sie Psychologie. Sie scheint aber wie ein Heimweh jenes enge Zusammenleben zurückzurufen, unter dem die Ansprache zur Betastung wird. Was nun vollends eine
Verbindung von Handelsgeist und Psychologie für Wunder wirken kann, sehen wir alle Tage.
Die Rache der Molluske am Mann, des Händlers am Helden, des Shaw an Shakespeare, des Ghetto an Gott macht jenen rapiden Fortschritt, gegen den aufzutreten rückschrittlich heißt.
Nein, es spukt nicht mehr. Es spuckt.
Die liberale Presse krebst jetzt mit neu aufgefundenen Bemerkungen Lichtenbergs: gegen den Katholizismus und »wenn noch ein Messias geboren würde, so könnte er kaum so viel Gutes stiften, als die Buchdruckerei«. Um sich aber mit Fug auf Lichtenberg zu berufen, wäre der Beweis nötig, dass er auch nach 125 Jahren noch derselben Ansicht ist. Wäre er’s, er wäre nicht derselbe Mann. Den wahren Segen der Buchdruckerei hat er nicht erlebt. Denn
er hat nicht nur nicht die Presse erlebt, sondern nicht einmal eine Drucklegung seiner Tagebücher, deren Tiefe dort, wo sie unverständlich ist, auf ihrem Grund Druckfehler hat, die die literarhistorischen Tölpel in Ehren halten, weitergeben und fortpflanzen. Darüber ließen sich ergötzliche Dinge sagen. Was muss aus den Gedanken Lichtenbergs geworden sein, wenn selbst Eigennamen, die er niederschreibt, verdreht wurden, und in Stellen, deren Nachprüfung den Herausgebern nicht nur geboten, sondern auch möglich war. Keines dieser
Subjekte aber hat sich auch nur die Mühe genommen, die von Lichtenberg gepriesene Stelle aus Jean Paul zu lesen. »Haben Sie wohl die Stelle in dem ‚Kampaner Tal‘ gelesen, wo Chiaur in einem Luftball aufsteigt?« Nein, sie haben es nicht getan, denn sonst hätten sie eine solche Stelle nicht gefunden. Wie das? Steigt Chiaur nicht auf? Im ganzen Buch nicht. Nur
eine Gione. Diese sonderbare Tatsache, dass Lichtenberg einen Chiaur und Jean Paul eine Gione aufsteigen lässt, gestattet vielleicht die Rekonstruierung der Handschrift
Lichtenbergs, die ich nicht gesehen habe:
Gione (handschriftlich Sütterlin)
Es lässt die Möglichkeit zu, dass jedes zweite Wort verdruckt wurde. Denn die Herausgeber dürften dort, wo sie nur auf die Handschrift Lichtenbergs und jeweils auf die vorhergehende fehlerhafte Ausgabe angewiesen waren, sich kaum findiger gezeigt haben, als dort, wo
ihnen ein Vergleich mit dem Jean Paul’schen Druck möglich war. Und dafür, dass dieselbe Schande, nur immer in anderer Einteilung und mit anderem Umschlag, wiederholt wird, zahlen Verleger Honorare. Die Erwartung des Messias dürfte also — gegen und für Lichtenberg — dem Glauben an die Buchdruckerei noch immer vorzuziehen sein. Kaum ein Autor ist gröblicher misshandelt worden; nicht nur durch eine wahllose Zitierung, die den aus
Vernunft, Stimmung oder Glauben entstandenen Notizen den gleichen Bekenntniswert beimisst. Man könnte, wenn eine von Natur meineidige Presse Lichtenberg zum Eidhelfer beruft, ihr auch mit dem Gegenteil dienen, und vor allem mit jenem Gegenteil, zu dem eine Menschlichkeit seiner Art vor der heutigen Ordnung der Dinge ausschließlich fähig wäre. Der Liberalismus ist, wenn alle Stricke reißen, imstande, sich auf Gott zu berufen, der einmal gesehen haben soll, dass es gut war. Aber heute, nach 5673 Jahren, ist er gewiss auch nicht mehr derselben Ansicht. Wäre er’s, er wäre nicht derselbe Gott.
Die Druckerschwärze ist noch nie zu der Verwendung gelangt, für die sie erschaffen ist. Sie gehört nicht ins Hirn, sondern in den Hals jener, die sie falsch verwenden.
Der Liberalismus beklagt die Veräußerlichung des christlichen Gefühls und verpönt das Gepränge. Aber in einer Monstranz von Gold ist mehr Inhalt als in einem Jahrhundert von Aufklärung. Und der Liberalismus beklagt nur, dass er im Angesicht verlockender Dinge,
die eine Veräußerlichung des christlichen Gefühls bedeuten, es doch nicht und um keinen Preis zu einer Veräußerung des christlichen Gefühls bringen kann.
Ich habe von Monistenklöstern gehört. Bei ihrem Gott, keine der dort internierten Nonnen hat etwas von mir zu fürchten!
Wiewohl es nicht reizlos wäre, einer Bekennerin des Herrn Goldscheid auf dem Höhepunkt der Sinnenlust »Sag: Synergetische Funktion der organischen Systeme!«
zuzurufen.
Die gebildete Frau ist unaufhörlich mit dem Vorsatz befasst, keinen Geschlechtsverkehr einzugehen, und ist auch imstande, ihn, nämlich den Vorsatz, auszuführen.
Der gebildete Mann ist nie mit dem Vorsatz befasst, keinen Gedanken zu haben, sondern es gelingt ihm, ehe er sich dazu entschließt.
Zu der Blume mag ich nicht riechen, die unter dem Hauch eines Freidenkers nicht verwelkt.
18. Juli 2012 | Kategorie: Artikel, Tagebuch
DIE FACKEL
Nr. 256. 5. Juni 1908. X. Jahr. S. 15 – 32
Tagebuch
Meine Leser glauben, dass ich für den Tag schreibe, weil ich aus dem Tag schreibe. So muss ich warten, bis meine Sachen veraltet sind. Dann werden sie möglicherweise Aktualität erlangen.
*
Wie souverän doch ein Dummkopf die Zeit behandelt! Er vertreibt sie sich oder schlägt sie tot. Und sie lässt sich das gefallen. Denn man hat noch nie gehört, dass die Zeit sich einen Dummkopf vertrieben oder totgeschlagen hat.
*
Seitdem faule Apfel einmal in der deutschen Dramatik zur Anregung gedient haben, fürchtet das Publikum, sie zum Gegenteil zu verwenden.
*
»Dass wir die Übel, die wir haben, lieber ertragen als zu unbekannten fliehn«. Ich verstehe aber nicht, wie die Rechtfertigung der monarchischen Staatsform bis zur Begeisterung gehen kann.
*
Ein Liebesverhältnis, das nicht ohne Folgen blieb. Er schenkte der Welt ein Buch.
*
Der Balkan liegt da wie das große Hindernis »Kultur«, das unsere christliche Zeit vor einem Rückfall in heidnische Sitten bewahrt. Wer das Land der Griechen mit der Seele sucht, bekommt Läuse.
*
Liebe soll Gedanken zeugen. In der Sprache der Gesellschaftsordnung sagt die Frau: Was werden Sie von mir denken!
*
Die Treue wäre kein leerer Wahn, wenns keine Schlafwagenkondukteure gäbe.
*
Nun, ein so besonderes Vergnügen ist die Enthaltung vom Weibe auch nicht, das muss ich schon sagen.
*
Es gibt keinen Ort, der eine größere Öffentlichkeit bedeutet, als ein Lift, in dem man angesprochen wird.
*
Ein schönes Kind hört an der Wand eines Schlafzimmers ein scharrendes Geräusch. Sie fürchtet, es seien Mäuse, und ist erst beruhigt, da man ihr sagt, daneben sei ein Stall und ein Pferd rühre sich. »Ist es ein Hengst?« fragt sie und schläft ein. Der Traum von einem Leutnant ist gesellschaftsfähiger. Etwa auch die Frage: Mama, was ist das ein Hengst? … Auch gebe ich zu, dass Wildbäche in Privatwohnungen unbequem sind. Aber man sollte sich doch nicht die Gelegenheit entgehen lassen, sie zu bewundern.
*
Dasselbe Mädchen sagte einmal von einem, der ihr nachgegangen war: »Er hatte einen Mund, der küsste von selbst.« Wäre je einem jungwiener Dichter solch ein Satz gelungen, ich hätte ihn in mein Herz geschlossen.
*
Seit vielen Jahren schon versäume ich den Frühling. Aber dafür habe ich ihn zu jeder Jahreszeit, sobald ich die Stimmung eines Tags der Kindheit mir hervorhole, mit dem jähen Übergang vom Einmaleins zu einem Gartenduft von Rittersporn und Raupen. Da ich vermute, dass es dergleichen nicht mehr gibt, halte ich persönliche Erfahrungen in diesem Punkt geflissentlich von mir fern.
*
Es war eine Flucht durch die Jahrtausende, als sie in der kältesten Winternacht von einem Theaterball halbnackt auf die Straße lief, in den tiefsten Prater hinein, Kellner, Kavaliere und Kutscher hinter ihr her. Eine tödliche Lungenentzündung brachte sie in unser Jahrhundert zurück.
*
Ich stelle mir ihn nicht unrichtig vor. Wenn er anders ist, so beweist das nichts gegen meine Vorstellung: der Mann ist unrichtig.
*
Wenn ich einschlafe, spüre ich so deutlich, wie die Bewußtseinsklappe zufällt, dass sie für einen Augenblick wieder offensteht. Aber es ist nur die Vergewisserung, dass das Bewusstsein aufhört. Gleichsam das Imprimatur des Einschlafens.
*
Wer schlafen will und nicht kann, der ist ohnmächtiger als wer schlafen muss und nicht will. Dieser hat die Ausrede des Naturgebots, dem man freilich mit schwarzem Kaffee trotzen kann. Jener lässt sich ein gutes Gewissen, hilft’s nicht, einen deutschen Roman, schließlich Morphium verordnen. Würdig sind solche Mittel nicht. Die menschliche Natur wird vom Schlaf überwältigt; da sie den Schlaf nicht überwältigen kann, lerne sie es, ihn zu überlisten. Man zeichne die Figuren in die Luft, die er am liebsten hat; ohne das absurdeste Spielzeug steigt er nicht ins Bett: Ein Kalb mit acht Füßen, ein Gesicht, dem die Zunge bei der Stirn heraushängt, oder der Erlkönig mit Kron’ und Schweif. Man stelle die Unordnung her, die der Schlaf braucht, ehe er sich überhaupt mit einem einlässt. Man ahnt gar nicht, welche Menge von Bändern, Kaninchen und sonstigen Dingen, die nicht zur Sache gehören, man bei einiger Geschicklichkeit aus dem Zauberhut des Unbewusstseins hervorholen kann. Nichts imponiert dem Schlaf mehr. Schließlich glaubt er daran, und der Zauberer ist unter allem Tand verschwunden. Ich habe das Experiment oft mit wachstem Bewusstsein unternommen, und es gelang so vollständig, dass ich mir das Gelingen nicht mehr bestätigen konnte.
*
Moralische Verantwortung ist, was dem Mann fehlt, wenn er es von der Frau verlangt.
*
Wenn der Wert der Frauen absolut messbar ist, so ist er es gewiss eher nach der Fähigkeit, zu spenden, als nach dem Wert der Objekte, an die sie spenden. Nicht einmal dem Blitz, der statt in die Eiche in einen Holzschuppen einschlägt, darf man einen moralischen Vorwurf machen. Und dennoch ist kein Zweifel, dass hier die Schönheit des Schauspiels wesentlich von der Würdigkeit des Objektes abhängt, während die Blitze der Sinnlichkeit bei größerer Distanz umso heller leuchten. Nur wenn die Eiche vergebens bettelt, dass der Blitz sie erhöre, dann treffe den Blitz die Verdammnis.
*
Der Vorsatz des jungen Jean Paul war, »Bücher zu schreiben, um Bücher kaufen zu können«. Der Vorsatz der meisten jungen Schriftsteller ist, Bücher zu kaufen, um Bücher schreiben zu können.
*
Es gibt eine medizinische Richtung, welche die Fachausdrücke der Chirurgie auf Seelisches anwendet. Sie ist wie jede gedankliche Verähnlichung scheinbar entlegener Sphären ein Witz und wahrscheinlich der beste, dessen der Materialismus fähig ist. Wenn jetzt der Arzt das Unterbewusstsein einer Patientin auskratzen will oder wenn Gefühlsabszesse ausgeschnitten werden, so basieren solche Versuche auf einem höchst witzigen Einfall, und auf einem, der seiner Unwiderstehlichkeit umso sicherer sein muss, als die operativen Eingriffe des Seelenarztes ohne die Narkose der Suggestion erfolgen. Ich denke indes, dass es besser wäre, den echten Wert jener ingeniösen Erkenntnis der Ursachen seelischer Erkrankungen, die ihrem Finder zum Ruhme gereicht, nicht durch eine schrullenhafte Methode der Behandlung zu mindern. Der Ehrgeiz eines Meteorologen, schönes Wetter zu machen, gehört nicht zum Fach. Wäre eine seelische Analyse ähnlich ohne die Mitwirkung des Patienten durchführbar wie die seines Harns, der Versuch könnte nicht schaden, wenn er nicht nützte. Das Verfahren jedoch, bei dem der Kranke zum Konsiliarius wird, schafft ihm ein Selbstbewusstsein des Unbewusstseins, das zwar erhebend, aber nicht eben aussichtsvoll ist. Statt ihn vom Herd seines Übels zu jagen, wird er verhalten, sich daran zu rösten, statt Ablenkung wird eine Vertraulichkeit mit seinen Leiden, eine Art Symptomenstolz erzeugt, der den Kranken schließlich in den Stand setzt, an Anderen seelische Analysen vorzunehmen, der aber ihm selbst noch nicht geholfen hat. Alles in allem eine Methode, die augenscheinlich schneller einen Laien zum Sachverständigen, als einen Kranken gesund macht. Auch eine Mechanisierung der seelischen Vorgänge verträgt den Versuch nicht, als Heilfaktor die Selbstbeobachtung der Symptome einer Krankheit zu setzen, zu deren Symptomen die Selbstbeobachtung gehört. Ich weiß nicht, ob man einen Beinbruch durch seelische Einwirkung heilen kann. Sicherlich eher, als ein seelisches Gebrechen durch Amputation. Der transzendentale Wunderglaube hatte den Vorzug, dass er dekorativ war. Den rationalistischen Wundern fehlt der Glaube.
*
Der Psychiater verhält sich zum Psychologen wie der Astrolog zum Astronomen. In der psychiatrischen Wissenschaft hat das astrologische Moment seit jeher eine Rolle gespielt. Zuerst waren unsere Handlungen von der Stellung der Himmelskörper determiniert. Dann waren in unserer Brust unseres Schicksals Sterne. Dann kam die Vererbungstheorie. Und jetzt ist es gar maßgebend, ob dem Säugling seine Amme gefällt, in welchem Falle er die Schicksalssterne an ihrer Brust findet. Die sexuellen Kindheitseindrücke sind gewiss nicht zu unterschätzen, und Ehre dem Forscher, der mit dem Glauben aufgeräumt hat, dass die Sexualität mit der Ablegung der Maturitätsprüfung beginnt. Aber man soll nichts übertreiben. Wenn auch die Zeiten vorüber sind, da die Wissenschaft die Enthaltsamkeit von Erkenntnissen übte, so sollte man sich dem Genuss der Geschlechtsforschung darum nicht hemmungslos hingeben. »Mein Vater«, höhnt Glosters Bastard, »ward mit meiner Mutter einig unterm Drachenschwanz und meine Geburtsstunde fiel unter ursa major, und so folgt denn, ich muss rauh und verbuhlt sein.« Und doch war es schöner, von Sonne, Mond und Sternen abzuhängen, als von den Schicksalsmächten des Rationalismus!
*
Nervenärzten, die uns das Genie verpathologisieren, soll man mit dessen gesammelten Werken die Schädeldecke einschlagen. Nicht anders soll man mit den Vertretern der Humanität verfahren, die die Vivisektion der Meerschweinchen beklagen und die Benützung der Künstler zu Versuchszwecken geschehen lassen. Wer immer sich zum Nachweis erbötig macht, dass die Unsterblichkeit auf Paranoia zurückzuführen sei, allen rationellen Tröstern des Normalmenschentums, die es darüber beruhigen, dass es zu Werken des Witzes und der Phantasie nicht inkliniere, trete man mit dem Schuhabsatz ins Gesicht, wo man ihrer habhaft wird! Aber die anderen, die modernen Psychiatraliker, die uns die Werke der Großen bloß auf die Sexualität hin prüfen, lache man bloß aus. Mir hat einmal einer den »Zauberlehrling« als einen handgreiflichen Beweis für die masturbatorischen Neigungen seines Schöpfers gedeutet. Ich war sittlich entrüstet, nicht wegen des Inhalts, aber wegen der unsäglichen Ärmlichkeit der Zumutung. Ich fühlte, wie sich zum legitimen Schwachsinn der literarhistorischen Kommentatoren allmählich ein neuer Wahnsinn geselle. Die wissenschaftlich fundierte Stimmung eines Herrenabends reklamiert den Besen des Zauberlehrlings — »oben sei ein Kopf« — für ihre besonderen Zwecke, aber sie würde gegebenenfalls auch nicht davor zurückschrecken, uns den »Mond« ebenso zu deuten, von dem es in dem wundervollen Gedicht doch heißt, dass er »wieder Busch und Tal füllt«. »Was fällt Ihnen dazu ein?« lautet die Frage des psychischen Analytikers. Aber wir haben ein Recht, sie in empörtem Ton zurückzugeben: Was Ihnen nicht einfällt! … Man beruhigte mich mit der Versicherung, dass hier bloß eine Mitwirkung des »Unbewussten« bei Goethe angenommen werde. Dieses Unbewusste eines Dichters ist nun freilich ein Gebiet, in dem das Bewusstsein eines Mediziners volle Bewegungsfreiheit hat. Das ist tief bedauerlich. Denn die psychischen Analysen, die an einem Privatpatienten vorgenommen werden, sind eine Privatsache zwischen den beiden vertragschließenden Teilen, aber Kunstwerke sollten dem Untersucher schon wegen ihrer Wehrlosigkeit Respekt einflößen. Goethe — irrsinnig? In Gottes Namen, daraus können wir uns noch etwas herausfetzen! Vielleicht sinkt die Menschheit auf die Knie und fleht, vor ihrer Gesundheit bang, den Schöpfer um mehr Irrsinn! Aber die Verurteilung zur Masturbation lässt ein Gefühl der Leere zurück; verzweifelnd empfängt man die Erkenntnis, dass selbst wenn alle Welt masturbierte, dennoch kein »Zauberlehrling« entstehen müsste. Und trostlos ist auch der Gedanke, dass er, Goethe, es nicht gewusst, nicht einmal nachträglich bemerkt hat. Er schrieb den Zauberlehrling und wusste nicht, was er bedeute. Und man hatte doch geglaubt, dass das Unbewusste eines Goethe noch immer bewusster sei als das Bewussteste eines Sexualpsychologen!
*
Die alte Wissenschaft versagte dem Geschlechtstrieb bei Erwachsenen ihre Anerkennung. Die neue räumt ein, dass der Säugling beim Stuhlgang schon Wollust spüre. Die alte Auffassung war besser. Denn ihr widersprachen wenigstens bestimmte Aussagen der Beteiligten.
*
Ich weiß euch eine solidere Deutung des »Zauberlehrlings«. »Hat der alte Hexenmeister sich doch einmal wegbegeben! Und nun sollen seine Geister auch nach meinem Willen leben.« In Abwesenheit eines verdienstvollen Lehrers und Finders sexualpsychologischer Erkenntnisse, versucht einer seiner Schüler die Methode selbst anzuwenden. »Seine Wort’ und Werke merkt’ ich, und den Brauch, und mit Geistesstärke tu’ ich Wunder auch.« Und er vergreift sich an einem Goetheschen Gedicht. Die Kommentierung wächst ihm jedoch über den Kopf. »Wie sich jede Schale voll mit Wasser füllt.« Zu spät erkennt er das Unheil. »Wärst du doch der alte Besen!« Nämlich ein Besen und nicht etwas anderes, das er skrupellos dafür gesetzt hat. Aber da nützt keine Reue, die Kommentierung wächst ins Uferlose. Kein Klassikerwort, das einen greifbaren Gegenstand bedeutet — sei’s der letzte Pfeil, den Tell im Köcher hat, sei’s ein goldener Vogel oder Ammonshorn, wie es der Wanderer findet auf den Bergen —, ist mehr vor Deutung sicher. »Welch entsetzliches Gewässer!« Endlich kommt der Professor Freud zurück. »Herr, die Not ist groß! Die ich rief, die Geister, werd’ ich nun nicht los.« Der Professor sieht, wie die Schüler die Lehre kompromittieren, und beschließt, dem groben Unfug ein Ende zu machen. Es war die höchste Zeit. In die Ecke mit allem, was wie ein Besen aussah und etwas anderes bedeuten sollte! Seid’s gewesen, Denn als Geister Ruft euch nur, zu seinem Zwecke, Erst hervor der alte Meister.
*
Es ist mir rätselhaft, wie ein Theolog darob gepriesen werden kann, dass er sich dazu durchgerungen habe, an die Dogmen nicht zu glauben. Wahre Anerkennung wie eine Heldentat schien mir immer die Leistung jener zu verdienen, die sich dazu durchgerungen haben, an die Dogmen zu glauben.
*
Eine Stadt, in der die Männer von der Jungfrau, die es nicht mehr ist, den Ausdruck gebrauchen, sie habe »es hergegeben«, verdient dem Erdboden gleichgemacht zu werden.
*
Wer ist das: Sie ist blind vor dem Recht, sie schielt vor der Macht, und kriegt vor der Moral die Basedow’sche Krankheit. Und um der schönen Augen dieses Frauenzimmers willen opfern wir unsere Freiheit!
*
Die skurrilste Form, in der sich die Menschenwürde auftut: Das empörte Gesicht eines Kellners, der auf ein Klopfen endlich herbeikommt, nachdem man vergebens gerufen hat.
*
Die Plattform des Humors: Die Passagiere eines Omnibus lächeln, wenn einer beim Aufsteigen ausrutscht. Dieser lächelt, wenns ihm dennoch gelungen ist.
*
Wer die Menschenverachtung an der Quelle studieren will, setze sich in ein Restaurant, das in der Nähe eines Theaters ist, und betrachte die Gesichter der einströmenden Scharen. Wie die Spannung, die noch auf den Zügen der Dummheit liegt, allmählich nachlässt und die Zufriedenheit ein neues Ziel findet. Das Klatschen wird zum Schmatzen sublimiert. Und jeder wäre einzeln befangen und ist nur im Chorus glücklich.
*
Wo beginnt denn eigentlich die Unappetitlichkeit und wo hört sie auf? Verdauungssäle gibt es nicht. Aber warum gibts keine Essklosetts? Öffentlich essen und heimlich verdauen, das passt so den Herrschaften! Und doch geht nichts über die Schamlosigkeit einer Table d’ hôte.
*
Der Deutsche sagt: Bis ich mit der Arbeit fertig bin, geht’s mir gut. Und meint, dass es ihm so lange gut gehe, solange er mit der Arbeit beschäftigt ist. Der Österreicher sagt: Bis ich mit der Arbeit fertig bin, geht’s mir gut. Und meint, dass es ihm erst gut gehen werde, wenn er mit der Arbeit fertig sei. Diese Anwendung des »bis« lässt beim Osterreicher auf einen grenzenlosen Optimismus schließen. Er setzt den Anfang für ein Ende. Will er aber ausdrücken, was der Deutsche meint, so hilft er sich mit einem eingeschobenen »nicht«. Er sagt: Bis ich nicht mit der Arbeit fertig bin, geht’s mir gut. Er bequemt sich also nicht ohne Widerstreben zu dieser Auffassung. Er ist einer, der sichs gut gehen lassen will und mit der Arbeit nicht fertig wird.
*
Es gibt kein unglücklicheres Wesen unter der Sonne, als einen Fetischisten, der sich nach einem Frauenschuh sehnt und mit einem ganzen Weib vorlieb nehmen muss.
*
Herr, vergib ihnen, denn sie wissen, was sie tun.
*
In der Sprachkunst nennt man es eine Metapher, wenn etwas »nicht im eigentlichen Sinne gebraucht wird«. Also sind Metaphern die Perversitäten der Sprache oder Perversitäten die Metaphern der Liebe.
*
In der Erotik gibt es diese Rangordnung: Der Täter. Der Zuschauer. Der Wisser.
*
Ein Gast des Bey von Tunis wollte eine Bastonade sehen. Sogleich wurde ein Kerl von der Straße herbeigeschleppt und geprügelt. Den Gast überkam die Humanität, denn er hatte geglaubt, die grausame Strafe werde einen Schuldigen treffen. Der Bey von Tunis meinte: »Er wird schon was angestellt haben!« …. Es stünde auch der zivilisierten Justiz wahrlich besser an, wenn sie nicht dort bastonierte, wo einer etwas angestellt hat, sondern dort, wo einer schon etwas angestellt haben wird. Die Justizmorde wären seltener.
*
Wenn ein Fürst besonders geehrt werden soll, werden die Schulen geschlossen, die Arbeit eingestellt und der Verkehr unterbunden.
*
In dieser Stadt gibt es Menschen und Einrichtungen, Kutscher, Wirtshäuser und dergleichen, von denen man nicht versteht, warum sie eigentlich so beliebt sind. Nach einigem Nachdenken kommt man aber darauf, dass sie ihre Beliebtheit ihrer Popularität verdanken.
*
Wenn man vom Raseur geschnitten wird, ist man immer selbst schuld. Ich zum Beispiel zucke zusammen, wenn der Raseur von Politik spricht, und die Anderen werden ungeduldig, wenn er nicht von Politik spricht. In keinem Falle trifft den Raseur die Schuld, wenn man geschnitten wird.
*
Wie abwechslungsvoll muss das Dasein eines Menschen sein, der durch zwanzig Jahre täglich auf demselben Sessel eines Wirtshauses gesessen hat!
*
Sie ist mit einer Lüge in die Ehe getreten. Sie war eine Jungfrau und hat es ihm verheimlicht.
*
Ich kenne keine schwerere Lektüre, als die leichte. Die Phantasie stößt an die Gegenständlichkeiten und ermüdet zu bald, um auch nur selbsttätig weiterzuarbeiten. Man durchfliegt die Zeilen, in denen eine Gartenmauer beschrieben wird, und der Geist weilt inzwischen auf einem Ozean. Wie genussvoll wäre die freiwillige Fahrt, wenn nicht gerade zur Unzeit das steuerlose Schiff wieder an der Gartenmauer zerschellte. Die schwere Lektüre bietet Gefahren, die man übersehen kann. Sie spannt die Kraft an, während die andere die Kraft frei macht und sich selbst überlässt. Schwere Lektüre kann eine Gefahr für schwache Kraft sein. Leichter Lektüre ist starke Kraft die Gefahr. Jener muss der Geist gewachsen sein. Diese ist dem Geist nicht gewachsen.
*
Wenn Heine über den Diplomaten Eulenburg geschrieben hätte: »es fehlte ihm an Sitzfleisch und Ernst«, so hätte er hinzugefügt: natürlich nicht in jedem Sinne der Worte. Es wäre eine niedrige Pointe gewesen, im Stil jener Äußerungen über Platen, von denen man kaum begreifen kann, dass sie den literarischen Ruhm ihres Urhebers nicht erstickt haben. Heine hätte den Witz gemacht oder er hätte wenigstens sofort gemerkt, dass der ernstgemeinte Satz ein Witz sei, was auf das nämliche schöpferische Verdienst hinausläuft. Dem vollständig humorlosen Harden fehlt die Fähigkeit, einen Witz zu beabsichtigen oder sich eines witzigen Sinnes bewusst zu werden. Nun gibt es aber nichts, was das schriftstellerische Können empfindlicher bloßstellt, als im Leser Vorstellungen zu erzeugen, die man nicht beabsichtigt hat. Lieber nicht zum Ausdruck bringen, was man meint, als zum Ausdruck bringen, was man nicht meint. Der Schriftsteller muss sämtliche Gedankengänge kennen, die sein Wort eröffnen könnte, und sich jenen aussuchen, der ihm passt. Er muss wissen, was mit seinem Wort geschieht. Je mehr Beziehungen dieses eingeht, umso größer die Kunst; aber es darf nicht Beziehungen eingehen, die seinem Künstler verborgen bleiben. Wer den Diplomaten Eulenburg in eine Beziehung zu »Sitzfleisch und Ernst« bringt und nicht merkt, dass er einen Witz gemacht hat, ist kein Schriftsteller. Wer freilich den witzigen Sinn der Wendung herstellt, flößt mir nicht gerade Respekt ein. Ich hätte es damit so gehalten: Die ernste Bemerkung unterdrückt, weil ihr witziger Nebensinn mir aufgegangen wäre, und wäre sie mir als Witz eingefallen, sie gerade deshalb nicht geschrieben.
*
Gewiss ist die Erwerbung von Persönlichkeit innerhalb einer Partei nicht denkbar. Steht man aber auch außerhalb aller Parteien, so kann man doch manchmal der Notwendigkeit nicht entgehen, eine Farbe zu bekennen, die zufällig eine Parteifarbe ist. Das ist fatal, aber als Schriftsteller hat man einen ehrenvollen Ausweg. Für die anderen mag die Meinung die Hauptsache sein, aber wichtiger ist der Tonfall, in dem man eine Meinung sagt. Der Berliner Journalist, der jahrzehntelang der Lebensanschauung des Adels hofiert hat, fühlt sich im Rechtsstreit mit einem Adeligen verkürzt und ruft: »Ob der Kläger Moltke oder Cohn heißt, ist einerlei; denn vor Gesetz oder Gericht sind alle Bürger gleich.« Das ist wahr. Aber es ist mit tierischem Ernst gesagt, so, als ob das ganze Gedankenleben des Sagenden in dieser Forderung kulminierte. Ich würde in ähnlicher Lage dieselbe Forderung stellen, aber ich glaube, dass mich beim stärksten Nachdruck, mit dem ich’s täte, noch immer eine Kluft von den Verfechtern der Menschenrechte trennte, und zwar so, dass das Gericht zur Einsicht von seiner Ungerechtigkeit käme und die Demokratie um meinetwillen Aufhebung der Gleichheit vor dem Gesetz verlangte. Wenn ich eine liberale Forderung stellen muss, so stelle ich sie so, dass die Reaktion pariert und der Liberalismus mich verleugnet. Auf den Tonfall der Meinung kommt es an und auf die Distanz, in der man sie ausspricht. Es ist ein Zeichen literarischer Unbegabung, alles in gleichem Tonfall und in gleicher Distanz zu sagen.
*
Ist Schriftstellerei nicht mehr als die Fertigkeit, dem Publikum eine Meinung mit Worten beizubringen? Dann wäre Malerei die Fertigkeit, eine Meinung in Farben zu sagen. Aber die Journalisten der Malerei heißen eben Anstreicher. Und ich glaube, dass ein Schriftsteller jener ist, der dem Publikum ein Kunstwerk sagt. Das größte Kompliment, das mir je gemacht wurde, war es, als mir ein Leser gestand, er komme meinen Sachen erst bei der zweiten Lesung auf den Geschmack. Das war ein Kenner, und er wusste es nicht. Das Lob meines Stils lässt mich gleichgültig, aber die Vorwürfe, die gegen ihn erhoben wurden, werden mich bald übermütig machen. Ich hatte wirklich lange genug gefürchtet, man werde schon bei der ersten Lektüre ein Vergnügen an meinen Schriften haben. Wie? Ein Aufsatz sollte dazu dienen, dass das Publikum sich mit ihm den Mund ausspüle? Die Feuilletonisten, die in deutscher Sprache schreiben, haben vor den Schriftstellern, die aus der deutschen Sprache schreiben, einen gewaltigen Vorsprung. Sie gewinnen auf den ersten Blick und enttäuschen den zweiten: es ist, als ob man plötzlich hinter den Kulissen stünde und sähe, dass alles von Pappe ist. Bei den anderen aber wirkt die erste Lektüre, als ob ein Schleier die Szene verhüllte. Wer sollte da schon applaudieren? Wer aber ist so theaterfremd, sich vor der Vorstellung zu entfernen oder zu zischen, ehe die Szene sichtbar wird? So benehmen sich die meisten; denn sie haben keine Zeit. Nur für die Werke der Sprache haben sie keine Zeit. Von den Gemälden lassen sie es eher gelten, dass nicht bloß ein Vorgang dargestellt werden soll, den der erste Blick erfasst: einen zweiten ringen sie sich ab, um auch etwas von der Farbenkunst zu spüren. Aber eine Kunst des Satzes? Sagt man ihnen, dass es so etwas gibt, so denken sie an die Einhaltung der grammatischen Gesetze. An die aber muss sich der Schriftsteller nur so halten, wie der Bildhauer für reinen Thon zu sorgen hat. Darin kann man nicht unfehlbar sein, soll es auch gar nicht, denn die Verwendung unreinen Materials kann einem künstlerischen Zweck dienen. Ich vermeide Lokalismen nicht, wenn sie einer satirischen Absicht dienen, der Witz, der mit gegebenen Vorstellungen arbeitet und eine geläufige Terminologie voraussetzt, zieht die Sprachgebräuchlichkeit der Sprachrichtigkeit vor, und nichts liegt mir ferner, als der Ehrgeiz eines puristischen Strebens. Es handelt sich um Stil. Dass es so etwas gibt, spüren fünf unter hundert. Die anderen sehen eine Meinung, an der etwa ein Witz hängt, den man sich bequem ins Knopfloch stecken kann. Von dem Geheimnis organischen Wachstums haben sie keine Ahnung. Sie schätzen nur den Materialwert. Eine platte Vorstellung kann zu tiefster Wirkung gebracht werden; sie wird unter der Betrachtung solcher Leser wieder platt. Die Trivialität als Element satirischer Wirkung: ein Kalauer bleibt in ihrer Hand. Ich schreibe eine Satire über die Geheimniskrämerei einer Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, indem ich ihrer Chiffre Ö. G. Z. B. D. G. Deutungen gebe, die nicht nur jede für sich einen satirischen Sinn haben, sondern durch deren Technik ich eben jenes System der Heuchelei parodiere. Was bleibt davon? Lob oder Tadel eines Buchstabenwitzes. Der Tadel schmeckt noch besser. Ein Holzhacker im Blätterwald wirft mir die Wendung »Brahma um und Brahma auf« vor, als ob sie ein gemeiner Wortspaß sei. An und für sich ist sie es und bliebe es, wenn sie jenem eingefallen wäre. Der Kalauer, als Selbstzweck verächtlich, kann das edelste Mittel einer künstlerischen Absicht sein, weil er der Kontraktion einer witzigen Anschauung am besten dient. Jener derbe Spaß erhellt — ähnlich dem Wort »Der Schmock und die Bajadere« — blitzartig die Verwandlung des Wiener Nachtlebens in einen Esoterikerkultus, bedeutet also ein sozialkritisches Epigramm. Aber dergleichen über dem Stofflichen zu spüren, setzt eben jene literarische Kultur voraus, die man heute im Publikum beinahe so wenig wie bei den Literaten findet.
*
Lebensüberdrüssig sein, weil man in seiner Arbeit einen Fehler gefunden hat, den kein anderer findet; sich erst beruhigen, wenn man noch einen zweiten findet, weil dann den Fleck auf der Ehre die Erkenntnis der Unvollkommenheit menschlichen Bemühens zudeckt: durch solches Talent zur Qual scheint mir die Kunst vom Handwerk unterschieden zu sein. Flachköpfe könnten diesen Zug für Pedanterie halten; aber sie ahnen nicht, aus welcher Freiheit solcher Zwang geboren wird und zu welcher Leichtigkeit der Produktion solche Selbstbeschwerung leitet. Nichts wäre verfehlter, als von Formtüftelei zu sprechen, wo Form nicht das Kleid des Gedankens vorstellt, sondern seinen Körper. Diese Jagd nach den letzten Ausdrucksmöglichkeiten führt ins Innerste der Sprache. Nur so wird jenes Ineinander geschaffen, bei dem die Grenze des Was und des Wie nachträglich nicht mehr feststellbar ist, und in welchem gewiss oft vor dem Gedanken der Ausdruck war, bis er unter der Feile den Funken ergab. Die Dilettanten arbeiten sicher und leben zufrieden. Ich habe oft schon um eines Wortes willen, das die Zentigrammwage meines stilististischen Empfindens ablehnte, die Druckmaschine aufgehalten und das Gedruckte vernichten lassen. Eine unvermeidliche Torheit ist es ferner, zu glauben, das Fehlen eines nachgebornen Einfalls werde der Leser merken. Dieser Leser ist man selbst; der andere merkt auch die Einfälle nicht, die da sind. Und gegenüber einem Schreiben, das seine Unvollkommenheiten so blutig bereut, hält dieser seine am Journalismus entartete Lesefähigkeit für vollkommen. Er hat für ein paar Groschen ein Recht auf Oberflächlichkeit erworben: käme er denn auf seine Kosten, wenn er auf die literarische Arbeit eingehen müsste? Es stünde vielleicht besser, wenn die deutschen Schriftsteller den zehnten Teil der Sorgfalt an ihre Manuskripte wenden wollten, die ich an meine Artikel wende, nachdem sie erschienen sind. Ich bin mit einer Arbeit erst fertig, wenn ich an eine andere gehe; so lange dauert meine Autorkorrektur. Ein Freund, der mir manchmal als Wehmutter beistand, staunte, wie leicht meine Geburten seien und wie lange mein Wochenbett … Freilich geht aus all dem hervor, dass ich kein geselliger Charakter bin; ich könnte höchstens die Leute fragen, ob ihnen diese oder jene Wortfolge besser klingt.
*
Die wahren Agitatoren für eine Sache sind die, denen die Form wichtiger ist. Kunst hindert die unmittelbare Wirkung zu Gunsten einer höhern. Freilich sind ihre Produkte nicht marktgängig. Sie fänden nicht einmal dann reißenden Absatz, wenn die Kolporteure riefen: »Sensationelle Enthüllungen aus dem deutschen Sprachschatz!«
*
Eine kunstlose Wahrheit über ein Übel, über eine Gemeinheit, ist ein Übel, eine Gemeinheit. Sie muss durch sich selbst wertvoll sein: dann gleicht sie das Übel aus, versöhnt mit der Kränkung, die der Angegriffene erleidet, und mit dem Schmerz darüber, dass es Übel gibt.
*
Den Leuten ein X für ein U vormachen — wo ist die Zeitung, die diesen Druckfehler zugäbe?
*
Nach Ägypten wär’s nicht so weit. Aber bis man zum Südbahnhof kommt!
*
Die Polizei sieht jetzt scharf darauf, dass sich nur das Alter und die Hässlichkeit dem Laster ergeben. Im Bordell findet nur eine solche Frau Aufnahme, deren Verdorbenheit noch aus einer früheren Polizeiära datiert und deren Tugend etwa mit den Linienwällen fiel. Es muss eine Emeretrix sein … Die Invaliden singen: Uns hab’ns g’halten!
*
Die Leute verstehen nicht deutsch; und auf journalistisch kann ich’s ihnen nicht sagen.
Karl Kraus.
14. Juli 2012 | Kategorie: Artikel, Geld oder Leben, Justiz, Seelenmord, Was ein Mensch wert ist
Hier geht es ums Leben:
Hannoversche Allgemeine 22.05.2012
Hohe Strafe für Missbrauch der Tochter
Das Landgericht Hannover hat am Montag einen 38-Jährigen zu s e c h s J a h r e n u n d n e u n M o n a t e n Haft verurteilt, weil er sich 56-mal an seiner eigenen Tochter vergangen hat. Das Gericht befand ihn des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in 49 Fällen und schweren sexuellen Missbrauchs in sieben Fällen für schuldig. Beim ersten Vorfall war das Kind gerade s i e b e n J a h r e a l t .
Kölner Stadtanzeiger 09.07.2012
Hohe Haftstrafe für Kinderschänder
Klaus W. (Name geändert) aus Bergisch Gladbach muss für f ü n f J a h r e u n d s e c h s M o n a t e hinter Gitter. Der Vorsitzende Richter der Zweiten Großen Strafkammer am Kölner Landgericht verurteilte den Rentner wegen sexuellen Missbrauchs und Vergewaltigung in mindestens 28 Fällen zu der mehrjährigen Freiheitsstrafe.
Begonnen hatte der Missbrauch an den Kindern seiner Verlobten im Oktober 2009. Rund zwei Jahre verging sich Klaus W. immer wieder an den zum Zeitpunkt der ersten Taten n e u n und z w ö l f Jahre alten Mädchen. Laut der Staatsanwaltschaft wurden die Taten meist unter Alkoholeinfluss begangen. (…) St r a f v e r s c h ä r f e n d war nach Ansicht von Staatsanwaltschaft und Richter, dass der Missbrauch an den beiden Mädchen u n g e s c h ü t z t verlief.
Das G e s t ä n d n i s w i r k t e s i c h s t r a f m i l d e r n d auf das Urteil aus, ersparte es den Kindern doch die belastende Aussage vor Gericht. „ Die Mädchen befinden s i c h i n p s y c h i a t r i s c h e r B e h a n d l u n g , haben in der Schule nachgelassen, klagen über Schlafstörungen und Albträume“, sagte die S t a a t s a n w ä l t i n in ihrem Plädoyer. „Eines der Mädchen leidet unter nächtlichen Essattacken, ihre Schwester hat sich zurückgezogen und ist sozial isoliert“, berichtete die Vertreterin der Anklage weiter. (…) Verteidiger Bode hatte ein ähnliches Strafmaß erwartet: „Ein angemessenes Urteil für eine schlimme Tat.“
Hier geht es um Geld:
Frankfurter Rundschau 27.06.2012
Gerhard Gribkowsky Bayern LB Ex-Top-Banker muss hinter Gitter
Das Landgericht München hat den früheren BayernLB-Vorstand Gribkowsky zu acht Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Der Vorsitzende Richter sprach ihn der Bestechlichkeit, Steuerhinterziehung und Untreue schuldig. Der ehemalige Landesbanker Gerhard Gribkowsky muss für a c h t e i n h a l b Jahre ins Gefängnis. Er habe keinen Zweifel, dass sich der 53-jährige mit hoher krimineller Energie der Bestechlichkeit, Untreue und Steuerhinterziehung jeweils gewaltiger Millionensummen schuldig gemacht hat, sagte Richter Peter Noll bei seinem Urteilsspruch am Landgericht München. Als Höchststrafe wären 15 Jahre möglich gewesen. Die Staatsanwaltschaft hatte z e h n e i n h a l b Jahre Haft gefordert.
Herr Gribowski hat akzeptiert.Fünfzehn Jahre hätten es sein können für jenen Herrn, so wird getönt, der sich doch nur der Bestechlichkeit, Steuerhinterziehung und Untreue schuldig gemacht hat. Menschen hat er insoweit nicht geschadet, außer sich selbst möglicherweise. Das Leben der Kinder, die missbraucht wurden, ist zerstört, der Seelenmord vollendet. Doch machen weder Strafen nichts auch nur annähernd gut, noch nützt Vergebung, und so kommt es regelmäßig zu Urteilen, die das unversehrte Leben dem Recht auf Besitz strafgemildert nachordnen. Oben hält daher ein Verteidiger die Strafe für angemessen. An welcher Stelle des Urteils im zweiten Fall nicht verwendete Präservative sich strafverschärfend auswirkten, habe ich trotz intensiven Nachdenkens nicht herauszufinden vermocht. Wer sollte hier wovor zusätzlich geschützt werden, wo doch Schutzlosigkeit Bedingung für die Schandtat war? Da hier eine Staatsanwältin von Amts wegen tätig war und keine Hodenträger, die Anklage und Urteil zu vertreten hatten, muss ich mich korrigieren, der ich ausschließlich die Hodenträger verdächtigte, den Missbrauch der Kinder gegenüber dem Vergehen am Gelde zu mild zu beurteilen. Offensichtlich ist diese Haltung Programm. Vor Jahren las ich einen kurzen Artikel in der Ärztezeitung, dass drei Viertel der drogenabhängigen Frauen einen Missbrauch hinter sich haben. Der Artikel erlitt selbstverständlich das Schicksal jeder Randnotiz. Er wurde überlesen und vergessen – nicht von mir.
10. Juli 2012 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Fortschritt
Die Fackel Nr. 275—276. 22. März 1909 S. 33 – 40 (Zuerst in: „Simplicissimus“ 1909 erschienen)
Ich habe mir eine Zeitungsphrase einfallen lassen, die eine lebendige Vorstellung gibt. Sie lautet: Wir stehen im Zeichen des Fortschritts. Jetzt erst erkenne ich den Fortschritt als das, was er ist — als eine Wandeldekoration. Wir bleiben vorwärts und schreiten auf demselben Fleck. Der Fortschritt ist ein Standpunkt und sieht wie eine Bewegung aus. Nur manchmal krümmt sich wirklich etwas vor meinen Augen: das ist ein Drache, der einen goldenen Hort bewacht. Oder es bewegt sich nachts durch die Straßen: das ist die Kehrichtwalze, die den Staub des Tages aufwirbelt, damit er sich an anderer Stelle wieder senke. Wo immer ich ging, ich müsste ihr begegnen. Ging ich zurück, so kam sie mir von der anderen Seite entgegen, und ich erkannte, dass eine Politik gegen den Fortschritt nutzlos sei, denn er ist die unentrinnbare Entwicklung des Staubes. Das Schicksal schwebt in einer Wolke, und der Fortschritt, der dich einholt, wenn du ihm auszuweichen wähnst, kommt als Gott aus der Maschine daher. Er schleicht und erreicht den flüchtigen Fuß und nimmt dabei so viel Staub von deinem Weg, als zur Verbreitung notwendig ist, auf dass alle Lungen seiner teilhaft werden; denn die Maschine dient der großen fortschrittlichen Idee der Verbreitung des Staubes. Vollends aber ging mir der Sinn des Fortschritts auf, als es regnete. Es regnete unaufhörlich und die Menschheit dürstete nach Staub. Es gab keinen, und die Walze konnte ihn nicht aufwirbeln. Aber hinter ihr ging ein radikaler Spritzwagen einher, der sich durch den Regen nicht abhalten ließ, den Staub zu verhindern, der sich nicht entwickeln konnte. Das war der Fortschritt.
Wie enthüllt er sich dem Tageslicht? In welcher Gestalt zeigt er sich, wenn wir ihn uns als einen flinkeren Diener der Zeit denken? Denn wir haben uns zu solcher Vorstellung verpflichtet, wir möchten des Fortschritts inne werden, und es fehlt uns bloß die Wahrnehmung von etwas, wovon wir überzeugt sind. Wir sehen von allem, was da geht und läuft und fährt, nur Füße, Hufe, Räder. Die Spuren verwischen sich. Hier lief ein Börsengalopin, dort jagte ein apokalyptischer Reiter. Vergebens … Wir können von Schmockwitz nach Schweifwedel telefonisch sprechen, wir wissen aber noch nicht, wie der Fortschritt aussieht. Wir wissen bloß, dass er auf die Qualität der Ferngespräche keinen Einfluss genommen hat, und wenn wir einmal so weit halten werden, dass man zwischen Wien und Berlin Gedanken übertragen wird, so wird es nur an den Gedanken liegen, wenn wir diese Einrichtung nicht in ihrer Vollkommenheit werden bewundern können. Die Menschheit wirtschaftet drauflos; sie braucht ihr geistiges Kapital für ihre Erfindungen auf und behält nichts für deren Betrieb. Der Fortschritt aber ist schon deshalb eine der sinnreichsten Erfindungen, die ihr je gelungen sind, weil zu seinem Betrieb nur der Glaube notwendig ist, und so haben jene Vertreter des Fortschritts gewonnenes Spiel, die einen unbeschränkten Kredit in Anspruch nehmen.
Besehen wir das Weltbild im Spiegel der Zeitung, so erweist sich der Fortschritt als die Methode, uns auf raschestem Wege alle Rückständigkeiten erfahren zu lassen, die in der weiten Welt vor sich gehen. Was mir jedoch den größten Respekt abnötigt, ist die Möglichkeit, bedeutende zeitgeschichtliche Tatsachen auf photographischem Wege dem Gedächtnis jener Nachwelt zu überliefern, die am Morgen des folgenden Tages beginnt und am Abend zu Ende ist. Der Fortschritt ist ein Momentphotograph. Ohne ihn wäre jener Augenblick unwiederbringlich verloren, da der König von Sachsen vom Besuche einer Sodawasserfabrik sich zu seinem Wagen begab. Wie sieht das aus? fragte man sich. Wie macht er das? Wie geht der König? Er setzt einen Fuß vor den andern, und der Momentphotograph hat es festgehalten. Aber dieser vermag vom Schreiten nur den Schritt zu erhaschen, darum wird das Gehen zum Gehversuch, und der Adjutant, der auf die Füße des Königs sieht, scheint die Schritte zu zählen, damit keiner ausgelassen wird: Eins, zwei, eins, zwei … So weiß man immerhin, wie die Sohle des Königs von Sachsen beschaffen ist; aber auch das mag dem Untertan genügen. Mehr bietet die Momentphotographie, wenn sie sich »in den Dienst des Sports stellt«, und ohne sie wäre der Sport am Ende gar kein Vergnügen. Eine Schlittenfahrt — hei, das macht Spaß! »Prinz Eitel Friedrich bremst.« Und was tut Prinz August Wilhelm? »Prinz August Wilhelm hilft als galanter Gatte seiner Gemahlin vom Schlitten.« Ist das Bild das offizielle Dementi eines Gerüchtes, dass Prinz August Wilhelm ungalant sei und bei Schlittenfahrten seine Gemahlin von allein aussteigen lasse? Hatte sich solcher Argwohn im Gefühlsleben des deutschen Volkes eingenistet? Nein, das deutsche Volk liebt es zu hören, dass Prinz August Wilhelm als galanter Gatte seiner Gemahlin vom Schlitten helfe, auch wenn es nie daran gezweifelt hat und das Gegenteil nicht behauptet wurde. Wäre das Gegenteil behauptet worden, so könnte man sagen, es sei kleinlich, solche Gerüchte zu widerlegen; das deutsche Volk glaubt sie ohnedies nicht. Es glaubt nur, was es sieht. Darum glaubt es an die Galanterie des Prinzen August Wilhelm, sobald es eine Probe zu sehen bekommt. Und es will sehen, wie sich dieser Prinz benimmt, wenn er mit seiner Gemahlin aus dem Schlitten steigt. Da es nun unmöglich ist, das deutsche Volk in seiner Gesamtheit zur Besichtigung des Vorgangs, wie Prinz August Wilhelm als galanter Gatte seiner Gemahlin vom Schlitten hilft, zuzulassen und die Versicherung der Berichterstatter, dass er als galanter Gatte seiner Gemahlin vom Schlitten half, nicht genügt, so stellt sich eben die Momentphotographie in den Dienst des Sports. Quälend wäre aber auch die Ungewissheit, ob der Badische Finanzminister anders geht, wenn er das Reichsschatzamt verlässt, als der Hessische Minister der Finanzen, wenn er desgleichen tut, oder ob Taft, die Grüße der Volksmenge erwidernd, den Mund weiter öffnet, als Roosevelt im gleichen Falle gewohnt war. Das eben ist der Fortschritt, dass solches Interesse heute schnellere Befriedigung findet als ehedem, ja dass sogar die schnellere Befriedigung solches Interesse heute erzeugen kann. Einst war der Geist auf Bücher angewiesen und der Atem auf Wälder. Wo sollen wir heute in Ruhe unsere Zeitung lesen? Die Papierindustrie blüht, aber sie gibt keinen Schatten. Und die Rotationsmaschine schleicht nachts durch die Straßen und wirbelt den Staub des Tages auf, um ihn für den kommenden Tag wieder abzusetzen.
Als ich ein Knabe war, sah ich den Fortschritt in der Gestalt eines deutsch-fortschrittlichen Abgeordneten. Er vertrat die Freiheit, er vertrat die böhmischen Landgemeinden, er vertrat die Stiefelabsätze. Was wollte ich mehr? Ich hörte zum ersten Mal, die Deutschen in Österreich seien von den Tschechen »vergewaltigt« worden. Ich verstand kein Wort davon, aber ich weinte vor Erregung. Es war eine Phrase, die mir einen Lebensinhalt offenbarte. Später, als die Vergewaltigung in eine Keilerei ausartete, sah ich selbst in dieser keine Äußerung natürlicher Kräfte, sondern die Folge einer Phrase. Da die Politik nicht mehr mein Gefühl ansprach, erkannte ich, dass sie nicht zu meinem Verstande spreche. Politik ist Teilnahme, ohne zu wissen wofür. Wenn sie aber nicht einmal das mehr ist, so kann es leicht geschehen, dass sich uns der Fortschritt als die Weltanschauung des Obmannes der freiwilligen Feuerwehr von Pardubitz enthüllt. Aus solcher Enttäuschung gewöhnte ich mich, das Prinzip der kulturellen Entwicklung nur noch in jenen Regionen des Lebens zu suchen, die dem Sprachenstreit entrückt sind. Ich fand den Fortschritt in allen, ohne in einer einzigen seine Physiognomie zu finden. Ich glaubte, ich sei in eine Maskenleihanstalt geraten. Jetzt war er ein Ausgleicher im sozialen Bankrott, jetzt ein Schaffner an jenem Zug des Herzens, der Hoheiten talwärts führt; bald Wahlagitator, bald Kuppler; hier Nervenarzt, hier Kolporteur. Rechts von mir sagte einer, der keine gerade Nase hatte: Ich sitze mit vier Reichsrittern, drei Markgrafen, zwei Fürsten und einem Herzog im Verwaltungsrat der Konservenfabrik … Das war der Fortschritt. Links von mir sagte eine Dame, die Boutons trug: Man kann die Neunte Symphonie am billigsten im Arbeiterkonzert hören, aber man muss sich dazu schäbig anziehen … Das war der Fortschritt.
Dann sah ich ihn als Ingenieur am Werke. Wir verdanken ihm, dass wir schneller vorwärts kommen. Aber wohin kommen wir? Ich selbst begnügte mich, es als das dringendste Bedürfnis zu empfinden, zu mir zu kommen. Darum lobte ich den Fortschritt und wollte in einer Stadt nicht fürder leben, in der mir Hindernisse und Sehenswürdigkeiten den Weg zum Innenleben verstellen. Eines Tages begann ich aber neuen Mut zu schöpfen, weil das Gerücht zu mir drang, in Wien sei eine Automobildroschke zu sehen gewesen. Die wird wohl schwer zu haben sein, dachte ich, aber wenn ich sie doch einmal erwische, so wird es ein anderes Leben werden! Im Sausewind an den Individualitäten vorbei, die mich an jeder Straßenecke belästigen, — das allein ist schon ein anregendes Erlebnis. Ich machte mich auf, den Fortschritt zu suchen: und fand ihn auf dem Standplatz. Die Automobildroschke stand da als eine Verlockung zu einem Leben ohne Hindernisse, der jeder Wiener aus dem Wege ging. Aber wenn ein solcher geahnt hätte, dass auch sie ihm allen Reiz des Umständlichen bieten konnte, den zu entbehren ihm so schwer fallt, er hätte eine Fahrt riskiert, umso mehr als der Chauffeur durch die Frage: »Fahr’n m’r Euer Gnaden?« das sympathische Bestreben verriet, an die Tradition anzuknüpfen und über den Mangel an Pferden taktvoll hinwegzutäuschen. Ich, ein Freund des Fortschritts, ließ mich nicht lange bitten, und ich kann heute sagen, dass jeder Wiener es bedauern kann, meinem Beispiel nicht gefolgt zu sein. Alle Befürchtungen, es könnte am Ende glatt gehen, sind überflüssig und getrost darf man sich dem neuen Fuhrwerk anvertrauen. Vor allem gab es viel zu sehen. Denn zehn unbeschäftigte Kutscher halfen dem Chauffeur, den Wagen flott zu machen, und hier zeigte es sich, dass unser Fortschritt keineswegs durch die Feindschaft des Alten gehemmt wird, sondern im Gegenteil durch dessen Unterstützung. Ein Wasserer eilt herbei, um nach dem Rechten zu sehen. Er will nach alter Gewohnheit den Wagen waschen, ehe man fahrt. Aber als er dann auch den Pferden den Futtersack reichen wollte, stellte es sich heraus, dass keine da waren. Man konnte sie also nicht einmal abdecken und, schlimmer als das, man hatte nichts bei der Hand, um den Taxameter zuzudecken. Nachdem sich der Wasserer, der die Welt nicht mehr verstand, kopfschüttelnd entfernt hatte, setzte sich trotz alledem wie durch ein Wunder das Automobil in Bewegung, nicht ohne dass es mir aufgefallen war, wie der Chauffeur mit einem fremden Manne geheimnisvoll einige Worte wechselte. Als ich am Ziel ausstieg, sah ich denselben Mann wieder mit dem Chauffeur sprechen. Er war vorausgegangen und hatte das Automobil erwartet. Ich beruhigte mich bei dem Gedanken, dass es ein Vertreter der Firma sein könnte, die es erzeugt hatte, und fand nun Gefallen an der Vorstellung, dass ich als Vertreter des Fortschritts ausersehen war, die Probefahrt zu bestehen. Den Ovationen der Menge, die sich inzwischen angesammelt hatte, entzog ich mich, indem ich zu dem benachbarten Standplatz ging, um die Rückfahrt im Einspänner anzutreten. Der Standplatz war aber leer, weil sämtliche Kutscher zu dem Automobil geeilt waren. Nur einer war auf seinem Bock, der aber schlief, und als ihm ein Polizist, den ich schon aufgeweckt hatte, dieses Benehmen verwies, murmelte er aus dem Schlaf die Worte: »Jetzt könnts mi alle mitananda —« Er meinte hauptsächlich den Fortschritt.
Nun erst war ich begierig, diesen kennen zu lernen. Ich reiste, und wirklich, ich habe ihn oft genug in jener Tätigkeit gesehen, zu der er sich hierzulande nun einmal nicht schicken wollte: als Förderer des Fremdenverkehrs. Ich kam schneller vorwärts, aber zumeist auf falschem Wege, und so wurde ich in der Vermutung bestärkt, der Fortschritt sei ein Hotelportier. Und überall schien um seines Ehrgeizes willen jedes bessere Streben der Menschheit zu stocken. Es war, als ob nicht ein Ziel die Eile der Welt geboten, sondern die Eile das Ziel der Welt bedeutet hätte. Die Füße waren weit voran, doch der Kopf blieb zurück und das Herz ermattete. Weil aber so der Fortschritt vor sich selbst anlangte und schließlich auf Erden nicht mehr ein noch aus wusste, legte er sich eine neue Dimension bei. Er begann Luftschiffe zu bauen; doch an Garantien der Festigkeit konnte er es mit jenen, die bloß Luftschlösser bauen, nicht aufnehmen. Denn die haben die Phantasie, mit der sie selbst dann noch wirtschaften können, wenn alles schief geht. Was immer aber der Fortschritt weiter beginnen mag, ich glaube, er wird sich bei den Katastrophen des Menschengeistes nicht anstelliger zeigen, als ein Geolog beim Erdbeben. Er wird uns, wie hoch er sich auch versteige, keine Himmelsleiter errichten. Wenn er jedoch als Roter Radler Briefe befördert, könnte er immerhin von den Dienstmännern als Satan verschrien werden. Auch mag er dazu helfen, dass die Eifersucht der Weltstädte wachse und sie zu Kraftleistungen sporne. Etwa so: Berlin hat heute schon fünfhundert Messerstecher, Wien ist ein Krähwinkel dagegen; wenn man hier wirklich einmal einen braucht, ist keiner da! … Schließlich überlebt sich auch diese Mode. Nur der Tod stirbt nicht aus. Denn der Fortschritt ist erfinderisch, und dank ihm bedeutet das Leben keine Kerkerhaft mehr, sondern Hinrichtung mit Elektrizität. Wer es aber nicht erst darauf ankommen lassen will, den ganzen Komfort der Neuzeit zu erproben, der hat rechtzeitig Gelegenheit, von jener primitiven Erfindung Gebrauch zu machen, die ihm die erbarmungsvolle Natur an die Hand gegeben hat: von der Schnur, mit der der Mensch auf die Welt kommt!
10. Juli 2012 | Kategorie: Artikel
Die Fackel Nr. 324-25, XIII. Jahr 2. Juni 1911.
Die Transvestiten
sind Leute, deren Geschlecht sich in der Tracht des andern Geschlechtes wohl fühlt. Ein Berliner Arzt, dessen Spezialität es ist, die lebenden Minderwertigkeiten durch die historischen Genies zu entschuldigen und zu dessen ständigen Patienten Michelangelo, Shakespeare und Friedrich der Große gehören, hat ein Buch über die Transvestiten geschrieben. Was wird nun vollends aus dieser Wissenschaft, wenn sie in die Hände der Feuilletonisten gerät? Da gerät einer in meine Hände, der sich in der ‚Zeit‘ bemüht, sich mit fremden Kompilationen zu schmücken, und dem es richtig gelingt, die Geschlechter durcheinanderzubringen. Die Wissenschaft ist ihrer Popularisatoren würdig; sie gehören in eine Miszelle. Was ist ein Transvestit? Einer, der Frauenkleider anzieht, also ein Homosexueller. Der erfreute Betrachter dieser Verwandlung aber ist kein Homosexueller und jedenfalls kein Transvestit. So wenig, wie der Besucher eines Strichmädchens ein Prostituierter ist.« Von Nero ist es bekannt«, schreibt der Feuilletonist, der es gestern gelesen hat, »dass er seinen Lieblingssklaven Sporus als Kaiserin verkleiden ließ und ihn erst dann liebte. Das ist nun einer jener transvestitischen Wünsche..« Vermutlich hält auch die Wissenschaft, aus der der Feuilletonist schöpft, Neros Wunsch für einen Beweis des Tranvestitentums. Tatsächlich ist er die denkbar stärkste Betonung des eigenen Geschlechts, der männlichste Ausdruck geistiger Verantwortlichkeit, die nicht sich zum Weib macht, sondern den Mann zum Weib, die die Zone der Männlichkeit erweitert, indem sie die Grenzen des Weibseins erstreckt. Die Psychiatrie aber exkulpiert die nicht anders Könnenden mit Hilfe der alles Könnenden, die sie freilich, soweit sie nicht historische Beispiele sind, erbarmungslos der Kriminalität überläßt. Aber so seicht kann diese Wissenschaft gar nicht sein, dass sie nicht immer noch vom Journalismus mißverstanden werden könnte, und für manche zierliche Wendung, die in jenem Feuilleton steht, ist der Gelehrte gewiß nicht haftbar zu machen. »Es ist wohl ganz klar, dass Menschen, die die Neigung haben, weibliche Kleider anzuziehen, eine starke feminine Komponente haben müssen. Viele von ihnen führen ein ganz merkwürdig wüstes und romantisches Abenteurerleben; es sind Frauen darunter, die als Matrosen unzählige Male ausgemustert wurden, als Heizer und Stewards durch die Meere fuhren. Es sind Männer darunter, die jahrelang als Kammermädchen lebten.« Wenn unter jenen, die die Neigung haben, weibliche Kleider anzuziehen, Frauen sind, so ist der Fall von Transvestitentum nicht besonders krass. Dagegen ist es kein Zweifel, dass unter jenen, die die Neigung haben, Hosen anzuziehen, Feuilletonisten vorkommen.
03. Juli 2012 | Kategorie: Artikel, Justiz, Was ein Mensch wert ist
Kölner Stadtanzeiger 29.06.2012
Versuchter Totschlag – Sechs Jahre Haft für Recep K.
Besinnungslos stach Recep K. auf seine Ex-Frau ein, bis die Klinge sich verbog. Nun wurde er vor dem Kölner Landgericht wegen versuchten Totschlags zu sechs Jahren und neun Monaten Haft verurteilt.
Seine Ex-Frau lag schon bewusstlos vor ihm, da zog Recep K. sie hoch und wollte noch einmal zustechen. Die K l i n g e w a r j e d o c h s c h o n s o v e r b o g e n , dass es dem 26-Jährigen nicht gelang, sie an ihrem Hals anzusetzen. „S i e h a b e n z u m G l ü c k v e r s a g t “, sagte der Anwalt der Ex-Frau am Montag vor dem Landgericht. Die 25-Jährige überlebte den Angriff mit insgesamt zehn Messerstichen. (…) Recep K. wurde vor allem von seiner Verzweiflung getrieben. Er wollte die Trennung von seiner Frau nicht akzeptieren – trotz Scheidung. Das Paar näherte sich immer wieder an, die 25-Jährige verweigerte ihm aber das Besuchsrecht für die beiden Töchter (fünf und sechs Jahre), zog sich schließlich zurück. „Er war durch dieses Hin und Her in einem Wechselbad der Gefühle“, sagte sein Verteidiger. Vor den Augen der Töchter schlug Recep K. seiner Ex-Frau zwei Tage vor der Tat im Dezember 2011 so heftig ins Gesicht, dass ihr Nasenbein brach. Am 5. Dezember wollte er sich laut eigener Aussage bei ihr entschuldigen. Es kam zum Streit, sie lief weg, er verfolgte sie und stach schließlich „blindwütig“ zu,wie der Staatsanwalt sagte. Er sieht ein „h o h e s M a ß a n V e r r o h u n g“ darin, dass Recep K. ihr offenbar die Kehle durchschneiden wollte – „wie einem Tier“. Die 25-Jährige hat ein sc h w e- r e s T r a u m a e r l i t t e n u n d i s t i n p s y c h o l o g i s c h e r B e h a n d l u n g. Auch eine Zeugin, eine 44 – jährige Imbissbesitzerin, ist traumatisiert .
Kölner Stadtzeiger 29.06.2012
Recep K. (26) ist nach Überzeugung des Bonner Psychiaters und Neurologen Wolf Gerlich (64) strafrechtlich voll verantwortlich für seine Tat. (…)
Der Gutachter machte in seinen Ausführungen keinen Hehl aus seiner Überzeugung, d a s s d e r b i s h e r i g e U m g a n g d e r J u s t i z mit den z a h l r e i c h e n G e w a l t t a t e n d e s A n g e k l a g t e n „n i c h t n a c h v o l l z i e h b a r “ s e i . In dessen Vorstrafenregister sind zehn Eintragungen mit einschlägigen Delikten aufgelistet. So habe der Angeklagte „nie gelernt, mit seinen Aggressionen umzugehen“. Der Psychiater nannte als Beispiel eine „merkwürdige Sozialprognose“ des Landgerichts aus dem Jahr 2004, die von einem positiven Zukunftsverhalten des Angeklagten ausging. Diese Begründung hatte die Strafkammer damals in der Berufungsinstanz dazu bewogen, K. noch einmal Bewährung zu geben. Obwohl das Amtsgericht in vorangegangener Instanz eine einjährige Haftstrafe für angemessen hielt. Der Angeklagte hatte damals erklärt, er habe sich in der Türkei verlobt. Mit der Frau, mit der er in Deutschland zwei Kinder hat und einen jahrelangen Rosenkrieg führte, der in den beinahe tödlichen Messerstichen im Dezember 2011 gipfelte.
Ich habe ein gestörtes Verhältnis zur Gewalt. Ich kann sie einfach nicht ertragen und noch weniger ertragen kann ich ein Verständnis, welches den Täter verstehen möchte auf Kosten des Opfers und in dem Tötungsversuch mit zehn Messerstichen einen versuchten Totschlag erkennt, den das Opfer nur dank verbogener Klinge überlebt. Wenn der Anwalt der Frau folgert, der Täter habe „zum Glück versagt“, so fragt man sich: Zu wessen Glück? Dass die Frau nicht tot ist oder dass der Täter mit zwei Jahren mehr hätte rechnen müssen? „Ein hohes Maß an Verrohung“ erkenne auch ich, allerdings im Umgang der Justiz bei Körperverletzung. Dass aus bagatellisierter Gewalt in unserer Zeit eine Aufforderung zur Tat erwächst, die sich einer gewisser Toleranz sicher sein darf und zum Amüsement der Täter über die Justiz geführt hat, scheint noch nicht bis zu den Stühlen der Richter vorgedrungen zu sein, deren sie sich zum Teil in ihren Urteilen zu entledigen scheinen. W. K. Nordenham
29. Juni 2012 | Kategorie: Artikel, Geld, Justiz, Notizen zur Zeit
Handelsblatt 1.8.2011
Urteil gegen Ex-IKB-Chef rechtskräftig – BGH verwirft Revision.
Karlsruhe/Düsseldorf (dpa) – Die Strafe gegen den Ex-Chef der Mittelstandsbank Stefan Ortseifen, ist rechtskräftig. Der Bundesgerichtshof verwarf die Revision der Verteidigung, wie ein Sprecher des Gerichtshofs am Montag in Karlsruhe mitteilte (Az.: 3 StR 506/10). Ortseifen war wegen v o r s ä t z l i c h e r Marktmanipulation zu z e h n M o n a t e n H a f t a u f B e w ä h r u n g und zur Zahlung von 1 0 0 0 0 0 Euro verurteilt worden. Damit war er der e r s t e d e u t s c h e S p i t z e n b a n k e r, der für sein Fehlverhalten in der Finanzkrise schuldig gesprochen worden war. Mit dem Bekanntwerden der dramatischen Schieflage der IKB hatte die internationale Finanzkrise 2007 Deutschland erreicht.
Er war der Erste und Einzige bis dato der Letzte. Ich habe auf weitere Urteile gewartet, aber nichts geschah. Die Macht und das Recht tun sich nichts, weil die Macht das Recht hat. Für Herrn Ortseifen sind 100 000 € angesichts des angerichteten Schadens von 10 Mrd. € so zuverlässig zu verschmerzen, wie sie es für den Steuerzahler nicht sind. Die Westdeutsche Landesbank, in deren Aufsichtrat die Vertreter der Politik von Steinbrück bis Rütgers die Aufsicht innehatten, gab sich mit solchen Beträgen nicht zufrieden. Der Stadtanzeiger Köln vermeldete im April 2011 in Sachen West LB, dass 77 Mrd. Euro in eine Abwicklungsgesellschaft „ausgelagert“ wurden. Dazu kamen im Mai noch 15 Mrd. dazu. Vor Jahren wurden schon mal 6 Mrd. im Investmentsumpf versenkt. Das summiert sich zu einem 1 0 0 – Milliarden Euro Deal mit Totalverlust und ein Ende scheint nicht abzusehen. Da haben Banker oder soll man sagen „Bankgster“, unter stetiger gutbezahlter Aufsicht und mit Wissen der Landesregierung einen Supergau hingelegt, und fragt man nach konkreter Verantwortlichkeit, so beherrscht allgemeines Achselzucken die Szene. Ich weiß woher das Achselzucken kommt. Da wurde mal wieder eben schnell die Verantwortung von den Schultern abgeworfen, und es „zuckt“ noch nach. Die soeben noch stolz sich mit der Verantwortung brüsteten, ergreifen umgehend die Flucht in den gut gepolsterten Ruhestand oder auf andere Posten, wo einmal vor dem Wähler Haltung gezeigt werden sollte. Aber das sieht die Regie im Schauspiel Politik nicht vor. Mit jeder Vorstellung gerät die Aufführung erbärmlicher und könnte vergessen werden, hätte man nicht mit den verspielten Milliarden alle nur denkbaren Kitas bezahlen können, Lehrer in Masse einstellen, Schulen und Unis ausbauen und die halben Schulden von NRW begleichen. Wie gesagt, man fasst es ebenso wenig wie man die Täter nicht fasst, vielmehr einfach laufen lässt. Was ist ein Aufsichtsrat? Das ist ein Rat, der rät was Aufsicht ist.