16. November 2012 | Kategorie: Artikel, Konrad Heiden, Nazis, Zeitzeugnisse/Zeitzeugen
Die Aktualität Heidens erschreckt. Nie hätte ich mir vorstellen können, dass, wie geschehen, an einem 9. November wieder Nazis in einer deutschen Stadt aufmarschieren dürften. Fast gleichzeitig wird in Hoyerswerda ein Paar von der Polizei ersucht – wegen Bedrohung durch Neonazis – die eigene Wohnung zu verlassen, statt jene zu entfernen. Obgleich auch ohne die jüngsten Ereignisse ein vielfacher Tod den Weg der Rechtsszene seit Jahrzehnten markiert, ringt der Rechtsstaat mehr mit sich, als dass er seinen rechten Feinden Einhalt geböte. Bei den Linken der RAF war das noch ganz anders. Die Rechtssympathie der Polizei der Weimarer Zeit findet ihr abgeschwächtes Pendant in der Inaktivität offenbar nicht nur bei den Vorgängen um die NSU Morde, sondern im Zurückweichen des Staates vor dem nationalen Pöbel. So gewinnt die Geschichte vom Aufstieg Hitlers und seiner Mordbuben ungeahnte Lehrstückqualität für heutige Politik. Konrad Heiden *7. August 1901 in München * † 18. Juni 1966 in New York, schreibt als Zeitgenosse. Nichts wirklich Neues nach ihm über Hitler. Er war ein deutscher Journalist und Schriftsteller. Er war Zeitbeobachter, Zeitgenosse, politisch SPD-nahe und Journalist im besten Sinne. 1935 veröffentlichte Konrad Heiden in der Schweiz eine gültige Biographie Hitlers und seiner engsten Helfer, die alle von Anfang an, lange vor der Machtergreifung, unglaubliche Verbrecher ohne jede Moral waren, und es auch blieben. Gerade der scheinbare Nachteil der Zeitgenossenschaft, des persönlichen Miterlebens von Anbeginn der „Bewegung“, erlaubte ihm die Rückführung des „Phänomens“ Hitler auf die banale Wirklichkeit. Es gibt kein „Geheimnis“ um diese traurige Figur, wenn auch ungezählte mediale Flachköpfe sie immer aufs Neue mit den Ruch eines „Geheimnisses“ zu umgeben versuchen, der nur der Ge-ruch ist, den jene mit der Verrichtung ihrer populärhistorischen Notdurft verursachen. Er ist kein Phenomenon, keine Erscheinung, sondern ein alptraumhaftes Wetterleuchten, ein Verbrecher allerdings phänomenalen Ausmaßes. Verständlicherweise kann hier nur auszugsweise abgedruckt werden.
KONRAD HEIDEN
ADOLF HITLER DAS ZEITALTER DER VERANTWORTUNGSLOSIGKEIT
EINE BIOGRAPHIE EUROPAVERLAG ZÜRICH 1936 2011
Erhältlich ist es bei zvab, abebooks antiquarisch und im Buchhandel, bei amazon oder Weltbild als Neuauflage.
Konrad Heiden schreibt 1936 im Vorwort zur Neuauflage des Buches, in der er Verschiedenes präzisierte:
Vom Ganzen her gesehen handelt es sich freilich um Neuigkeiten, doch um nichts Neues.
Das trifft auf alle nachfolgenden Hitlerbiographien der folgenden Jahrzehnte von Bullock über Fest bis Kershaw zu. Nichts Neues nach Konrad Heiden. Man liest ihn als wäre man dabei.
Von Kriegsende bis zum Marsch auf die Feldherrnhalle. (Auszüge aus dem Buch)
5. Der Aufbruch
Dietrich Eckart sucht einen Führer
Wer das historische Glück gehabt hat, an einem Sommerabend des Jahres 1919 die Weinstube „Brennessel“ in dem Münchner Künstlerquartier Schwabing zu betreten, der konnte dort an einem Stammtisch der Erfindung Adolf Hitlers beiwohnen. Oder der Erfindung der Hitler-Legende.
In dem Schwabinger Weinlokal saß der Dichter Dietrich Eckart. Er war ein mittelgroßer, dicker Mann mit einem eindrucksvollen Kahlkopf, etwas kleine Augen, liebte einen guten Tropfen, und sein drittes Wort war ein bekannter Kraftspruch, der in keiner Sprache so herzhaft klingt wie im bayrischen Dialekt. Diese Eckart war vor dem Kriege Feuilleton-Redakteur an dem besonders kaisertreuen Berliner „Lokal-Anzeiger“ gewesen, hatte es als geborener Bayer und Bohemien nicht lange in Berlin ausgehalten und dann eine Reihe von Dramen geschrieben, die meist durchfielen oder nicht aufgeführt wurden. Dies Schicksal erleben sie noch heute im nationalsozialistisch gewordenen Deutschland. Unter anderem fertigte Eckart eine Übersetzung von Ibsens „Peer Gynt“ an, die durch ihre große „Freiheit“ auffiel, aber angeblich den nordischen Geist des Originals unvergleichlich traf. Dieser Lebenskünstler mit dem beneidenswert schönen Namen – er war echt – war wie viele Literaten durch den Krieg politisch aufgeregt worden und wollte eine Partei zur Bekämpfung der Juden und Bolschewiki gründen.
„Eine deutsche Bürgerpartei soll es sein, “ zählte er den Künstlern und Studenten in der „Brennessel“. Auch der Arbeiter ist Bürger, wenn er deutscher Volksgenosse ist. Und ist denn jeder sesshafte Bürger oder Bauer schon ein Kapitalist oder Faulenzer? Er muss doch auch arbeiten, um seinen Besitz zu erhalten. Es muss Schluss gemacht werden mit dem Neid, aber es muss auch Schluss gemacht werden mit der Protzerei. Wir müssen wieder einfach werden.“
Dann setzte er die Pläne zur Organisation der neuen Partei auseinander:
„Ein Kerl muss an die Spitze, der ein Maschinengewehr hören kann. Das Pack muss Angst in die Hosen kriegen. Einen Offizier kann ich nicht brauchen, vor denen hat das Volk keinen Respekt mehr. Am besten wäre ein Arbeiter, der das Maul auf dem richtigen Fleck hat. Herrgott, wenn Noske nicht solch ein“-hier kam wieder ein Kraftausdruck –„ gewesen wäre …! Verstand braucht er nicht viel, die Politik ist das dümmste Geschäft auf der Welt, und soviel wie in Weimar weiß bei uns in München jedes Marktweib. Ein eitler Affe, der den Roten eine saftige Antwort geben kann und nicht vor jedem geschwungenen Stuhlbein davonläuft, ist mir lieber als ein Dutzend gelehrte Professoren, die zitternd auf dem feuchten Boden der Tatsachen sitzen.“ Und als letzte Weisheit verkündete er:“ Es muss ein Junggeselle sein! Dann kriegen wir die Weiber!
Es leben noch viele Zeitgenossen, die sich an dieses prophetische Bild erinnern, das Eckart in der Schwabinger Weinkneipe von Adolf Hitler entwarf. Eckart ist der geistige Urheber des Führer-Mythos und der nationalsozialistischen Partei. Er hat auch am schärfsten das Arierprinzip erfasst, nämlich die Behauptung von der Existenz einer geheimnisvollen, höherwertigen arischen Rasse, die überall auf der Welt seit Jahrtausenden auf einer Wanderung von Norden nach Süden begriffen sei, mit den minderwertigen Elementen der heißen Zone und namentlich vom Mittelmeer im Kampfe liege und zumal im Körper des deutschen Volkes, ja in dessen einzelnen Individuen selbst die ewige Schlacht mit der niederen Rasse führe. Der stärkste Ausdruck und verhängnisvollste Träger und Verbreiter der niederen Rasseelemente ist der Jude; er überträgt nicht nur durch Mischung sein schlechtes Blut, sondern auch durch sonstige Berührung seine Sitten, seine Denkweise, seine Weltanschauung – in Gestalt des Christentums. Eckart wird in dieser Gedankenrichtung (…) durch einen russischen Freund, den Architekten Alfred Rosenberg aus Reval, bestärkt. Sie sind einander in der „Thule-Gesellschaft“ begegnet, einem Verein, der die Lehre von der arischen Rasse verbreitet und sich nach dem sagenhaften Inselreich in der nordgermanischen Sage nennt. Seitdem halten sie zusammen wie siamesische Zwillinge. Gemeinsam leiten sie Hitler, nicht so sehr seine Schritte, als sein Denken. Als Dietrich Eckart 1923 stirbt, tritt Rosenberg sein Erbe als Hitlers Lehrer an.
Röhms eiserne Faust.
Etwa um dieselbe Zeit spielte im Café Fabrig am Karlstor eine Musikkapelle alle Viertelstunden das sogenannte Flaggenlied, das jedes deutsche Schulkind kennt. Wenn der Refrain geschmettert wurde, erinnerte sich jeder an den Text und verstand die Bedeutung:
„Ihr woll´n wir treu ergeben sein, /getreu bis in den Tod, /ihr woll´n wir unser Leben weih´n, / der Flagge schwarz-weiß-rot!“
Alles stand auf. Wenn jemand sitzen bleib, pflanzte sich alsbald eine schneidige Figur in Militäruniform vor ihm, auf. Ein stummer Blick genügte. Wehe dem Unseligen, der nicht sofort verstand! Er war unversehens vor die Tür gerissen und wurde draußen fürchterlich verprügelt. Auf diese Art verbreitete eine Vereinigung junger Offiziere, die sich die „Eiserne Faust“ nannte, den Patriotismus. Sie zogen durch die Wirtshäuser, machten mit Singen, Aufstehen und Hurraschreien gewaltsam nationale Stimmung. In aller Unschuld, möchte man sagen , entdeckten die Männer von der „Eisernen Faust“ das große Geheimnis des kommenden Nationalsozialismus, das darin bestand, das alle Staatsbürger die gleiche Meinung haben müssen. In anderen Stunden beschäftigte sich die „ Eiserne Faust“ mit Fememorden, das heißt mit dem heimlichen Töten politischer Gegner. An ihrer Spitze stand der damalige Reichswehrhauptmann Ernst Röhm. (…)
6. Der Klassenkampf der Intellektuellen
Hitlers dunkler Beruf.
Aus dem Gewimmel dieser Soldaten, Bohemiens und Halbproleten, aus diesem Abfall aller Gesellschaftsklassen taucht vage und bescheiden die Gestalt Adolf Hitlers auf.
Im Lazarett von Pasewalk war er uns verloren gegangen, ein blinder, unbekannter Soldat (Hitler war im Krieg durch Gaseinwirkung kurzzeitig erblindet. Anm. d. Red.), den innere Stimmen quälten. Früher als die Kameraden ist er wieder in der bayrischen Heimat. Heimat? Weder Eltern noch Geschwister, weder Braut noch Freund erwarten ihn. Die Schwestern in Wien wissen nicht einmal, ob er noch lebt. Und doch ist dieses München, das einst dem von Wien flüchtenden so warm und herrlich erschienen war, in dessen Bierstuben er seine spärlichen Freundschaften geschlossen hat, die Stadt, nach der er heim verlangt. Schon ist er so etwas wie ein Landsknecht geworden; da ihn kein häuslicher Herd empfängt, ersetzt ihm das Ersatzbataillon seines Regimentes in dem oberbayrischen Städtchen Traunstein Haus und Hof, Weib und Kind. Hier verbringt er die Wintermonate zusammen mit einem Freunde, einem gewissen Schmiedt.
In München tritt er während der Räterepublik bei seinen Kameraden für die sozialdemokratische Regierung ein und nimmt überhaupt in erregten Diskussionen für die Sozialdemokraten und gegen die Kommunistenpartei. Darauf soll er verhaftet werden; er hält sich jedoch, wie er erzählt, das dreiköpfige Kommando mit einem Karabiner vom Leib. Nach dem Sturz der Räteregierung dringt eine „weiße“ Truppe in die Kaserne ein, wo Hitler mit einer „wilden roten Rotte“ (so drückt sich der Gewährsmann aus) in scheinbarer Eintracht lebt. Von den „Roten“ wird jeder zehnte Mann an die Wand gestellt, Hitler jedoch von vornherein ausgenommen (Berichteines Augenzeugen). Welche Rolle hat er bei dem grauenhaften Vorgang gespielt? In seiner Autobiographie geht er mit ein paar verlegenen Zeilen darüber hinweg:
„Wenige Tage nach der Befreiung Münchens wurde ich zur Untersuchungskommission über die Revolutionsvorgänge beim zweiten Infanterieregiment kommandiert. Dies war meine erste mehr oder weniger politische aktive Tätigkeit.“
Sehr knapp und nichtssagend. Etwas gesprächiger ist der Schriftsteller Adolf-Victor von Koerber, der 1923 im Auftrag Hitlers eine biographische Skizze über ihn geschrieben hat:
„Zur Untersuchungskommission kommandiert, bringen seine Anklageschriften rücksichtslos Klarheit in die unsagbare Schändlichkeit militärischer Verrätereien der Judendiktatur der Rätezeit Münchens.“
Anklageschriften? Hat dieser Gefreite eine juristische Aufgabe, ist er Staatsanwalt bei den Militärgerichten? Nein. Sondern er gehört zum sogenannten Nachrichtendienst, was ein sympathischerer Ausdruck für Spionage jeder Art ist. Damals handelte es sich vor allem um politische Nachrichten, worunter man nicht die große Politik verstehen muss, sondern das Aufstöbern von ehemaligen Anhängern der Räteregierung, die an die Wand gestellt werden sollten. Das war Adolf Hitlers Geschäft. Jetzt wissen wir also, was er während der Münchner Rätezeit war: Spitzel und Henker seiner Kameraden. Grauen vor diesem Geschäft scheint er nicht zu kennen: „ Ehe nicht die Laternenpfähle voll hängen, eher gibt es keine Ruhe im Lande „, sagt er öfters. Wer das unglückliche Leben dieses Einsamen kennt, der weiß, warum Hass und Verfolgungswut seine ersten politischen Schritte leiten. Er hat etwas gegen die Welt auf dem Herzen und lässt es an Schuldig und Unschuldig aus. In seiner Stimme krächzt, in seinem Gang federt, in seinen Gebärden schneidet der Hass; das spürt ein jeder, der ihn sah. (…)
Der „jüdische Marxismus“.
Hitler berichtet von sich, dass er als junger Mensch den damaligen Führer der österreichischen Antisemiten, den Wiener Bürgermeister Dr. Karl Lueger, „reaktionär“ gefunden habe. Zwei Jahre habe er gebraucht, um sich innerlich zum Antisemiten zu bekehren; fünfzehn Jahre später ist das Weltbild fertig, um – ein Beispiel außerordentlicher geistiger Konzentrationskraft – in einem einzigen Satz vollkommen ausgeschöpft zu werden:
„Die jüdische Lehre des Marxismus lehnt das aristokratische Prinzip der Natur ab und setzt an die Stelle des ewigen Vorrechtes der Kraft und Stärke, die Masse der Zahl und ihr totes Gewicht“(Mein Kampf s. 69).
In diesen glänzend formulierten einunddreißig Worten ist schlechthin alles gesagt, was Hitler zu sagen hat:
In der Natur haben Kraft und Stärke das Vorrecht; dies ist ein aristokratisches Prinzip, d. h. die Auslese nach Kraft und Stärke bedeutet die Auslese der Besten.
Dieses Naturprinzip hat auch das Prinzip der gesellschaftlichen Auslese zu sein.
Es gibt auch ein anderes gesellschaftliches Ausleseprinzip, nämlich das nach der „Masse der Zahl“, d. h. Herrschaft der Mehrheit oder Demokratie.
Dies ist aber das Prinzip des „toten Gewichts“, d. h. es zeugt nicht neues Leben und ist deshalb unnatürlich.
Die Verkörperung dieses Prinzips in Gesellschaftslehre und Politik ist der Marxismus.
Der Marxismus ist jüdisch. Das bedeutet : die naturfeindliche Gesellschaftslehre ist Erzeugnis und Eigentum einer bestimmten Rasse, die diese Lehre erfunden hat, um damit andere Rassen von ihrem natürlichen Wege abzubringen, dadurch zu schwächen und sich schließlich zu unterwerfen.
Hitler erläutert das:“Sie (d.h. die Lehre des Marxismus) leugnet so im Menschen den Wert der Person, bestreitet die Bedeutung von Volkstum und Rasse und entzieht der Menschheit damit die Voraussetzung ihres Bestehens und ihrer Kultur…Siegt der Jude mit Hilfe seines marxistischen Glaubensbekenntnisses über die Völker dieser Welt, dann wird seine Krone der Totentanz der Menschheit sein, dann wird dieser Planet wieder wie einst vor Jahrmillionen menschenleer durch den Äther ziehen.“
Diese grausige Fernsicht in die Jahrtausende macht das Ganze ein bisschen unseriös. So fanatisch Hitler gewiss von der Wahrheit seiner Einsichten überzeugt ist, so gewiss werden viele Leser nicht umhin können, folgende Überlegungen anzustellen.
Das „Vorrecht der Kraft und der Stärke“ in der Natur ist noch nicht erwiesenermaßen ein „aristokratisches Prinzip“, denn es führt zwar zur Auslese der Lebensfähigsten, aber nicht der „Besten“, die es in der nicht zweckbestimmten Natur auch gar nicht gibt, sondern nur dort, wo ein Zweck gesetzt ist, also z.B. in der Gesellschaft.
Wenn das Vorrecht von Kraft und Stärke auch Ausleseprinzip der Gesellschaft sein soll, so kehrt man zweckmäßiger zur Sitte des Faustrechts zurück und am besten zur Menschenfresserei.
Die Auslese nach der „Masse der Zahl“ bedeutet, dass die Vorteile und Güter der Gesellschaft möglichst gleichmäßig allen oder mindestens einer möglichst großen Zahl zugutekommen sollen. Wer das nicht wünscht, täte besser, es ganz deutlich zu sagen.
Zweifellos ist der Marxismus eine Lehre vom Glück der Masse, aber das hat ihn nicht gehindert, eine sorgfältige und zweckmäßige Auslese seiner Funktionäre zu treffen und ihnen hohe Leistungen und Opfer zuzumuten.
Wer den Marxismus wegen der Person seines einen Begründers Karl Marx schlechtweg jüdisch nennt, unterschlägt die nicht unwesentliche Tatsache, dass die philosophischen Grundlehren des Marxismus von dem Nichtjuden Ludwig Feuerbach stammen, die meisten Formulierungen von dem Nichtjuden Friedrich Engels und dass sie ihre moderne theoretische und praktische Weiterbildung von den Nichtjuden Plechanow und Lenin erhalten haben. (…)
Aber wir wollen ja nicht wissen, ob Hitler recht oder unrecht hat, sondern wie er zu seinen Ideen kam und was er mit ihnen erreichte.
Das Privileg der Rasse.
Der Klassenkampf der Intellektuellen bedarf eines neuen Ideals. Der Intellektuelle aber ist der neue Typ, in den das alte Bürgertum sich allmählich verwandelt. Die Zahl der Studenten, Akademiker aller Grade, Akademikern in freien und abhängigen Berufen verdoppelt sich gegenüber der Vorkriegszeit und hat zeitweise die Tendenz sich zu verdreifachen.(…)
„Im völkischen deutschen Studenten verkörpern sich“, sagt Hitler 1921,“ diejenigen Energien, die das einzige wertvolle Kampfmittel gegen das Judentum sind.“
In Wahrheit verkörpert sich im deutschen Studenten oder besser Intellektuellen jene blind um sich beißende Energie, die das Alte nicht mehr will und zum Neuen nicht den Mut hat. (…)
Der Intellektuelle hat tatsächlich den Weltkrieg geführt, um den Sieg gerungen und die Niederlage erlitten, …im Zivilberuf Lehrer, Kaufmann oder Postdirektor, (…). Der Intellektuelle hätte die Revolution hingenommen, wenn sie ein vollwertiger Ersatz für den Sieg gewesen wäre;(…). Die Männer der Revolution aber taten das Törichteste was möglich war; statt erst den Staat in ihrem Sinne zu reorganisieren und dann das Volk zur demokratischen Abgabe seines Urteils über das Geleistete aufzurufen, taten sie nichts, sondern ließen eine Nationalversammlung wählen, ohne dem Wähler ein Programm zu geben. Da wurde klar, dass die Männer der Revolution kein Ziel hatten, und der Intellektuelle im Offiziersrock und im Fabrikkontor nahm ihnen die Entscheidung wieder aus der Hand. Mit diesem Versagen erlosch der politische Nimbus der deutschen Arbeiterschaft. Das Bürgertum verlor seine jahrzehntelange Angst vor ihr; sein neuer Führer, der Intellektuelle, begann sich der bisher wegen ihrer Organisationskraft viel bewunderten Arbeiterschaft politisch überlegen zu fühlen. Es ist ein in seiner alten, bürgerlichen Klasse entfremdeter Typ; nicht einfach über Bord gegangen, sondern im Schiffbruch einer ganzen Schicht selbständig geworden. Seine Moral ist brüchig wie die aller Deklassierten, und er wird allmählich den Abfall aller Klassen um sich sammeln. (…)
Was wird Hitler diesem nunmehr ausschlaggebenden Typ sagen?
Erstens dies: Gräme dich nicht über die Niederlage im Weltkrieg. Du hast den Weltkrieg nicht verloren, sondern du hast ihn eigentlich gewonnen. Dein Unglück war, dass du das winzige Gift im eigenen Körper nicht erkannt hast, die Laus im Pelz, den tückischen Zwerg, (…). Du hast dem Engländer standgehalten, den Russen zerschmettert, den Franzosen geschlagen, aber den winzigen Juden übersehen. Das war nicht fair play. Befreie dich vom Juden, und das nächste Mal wirst du siegen.
Zweitens sagt er: Wenn du dein Vermögen verloren hast, deine Laufbahn versperrt siehst, als Akademiker das Leben eins Proletariers führen musst, so lass den Kopf nicht hängen, sondern kämpfe für den nationalsozialistischen Staat, in dem dies alles besser wird. Denn der nationalsozialistische Staat verteilt Führerstellen nicht nach Geburt, Besitz und bürgerlicher Stellung, sondern nach persönlichem Wert; dieser Wert wird unter Beweis gestellt durch rücksichtslosen Kampf für die Bewegung, und dieser Bewertungsmaßstab ist deshalb berechtigt, weil die rücksichtslosesten Kämpfer im allgemeinen die wertvollste Rasse haben, deren Erhaltung und Fortpflanzung der kommende Rassestaat naturgemäß begünstigen wird. Wer von wertvoller Rasse ist, hat ein adelsähnliches Privileg, nicht um seiner Person, sondern um des Rassetypus willen, der in möglichst zahlreichen Exemplaren weitervererbt werden soll. Kampf, Selbsteinsatz, Treue zur Idee und zum Führer sind im Zweifel Kennzeichen der arischen Rasse, der wertvollsten der Welt, die nicht nur in Deutschland, sondern in allen europäischen Ländern wieder zur Vorherrschaft kommen und die „niederrassigen“ Bestandteile zurückdrängen, in ungünstigere Lebensbedingungen versetzen und damit schließlich zum Aussterben bringen muss – wenn nötig durch Eroberung und Ausrottung. Die gefährlichste dieser niederen Rassen aber, die überall eindringt und zersetzt, ist die Jüdische.
Die Brüchigkeit dieser Lehre ist leicht nachzuweisen. Sie setzt die Existenz einer sogenannten arischen Rasse voraus, die der ernsten Wissenschaft unbekannt ist. (…) Tatsächlich sind alle hochstehenden modernen Völker aus sehr gründlicher Mischung vieler Stämme hervorgegangen, auch die Deutschen, und überall hat die mittelmeerische Rasse, die regelmäßig die Trägerin der älteren Kultur gegenüber nordischer Barbarei und Faulheit war, zu der Mischung Wertvollstes beigetragen. (…)
Aber wiederum kommt es nicht auf den Wahrheitsgehalt der Lehre an, sondern auf die politische Kraft, die sie auslöst. Es ist die richtige Lehre für die Intellektuellenschicht, die zwei Ideale hat: Privileg und Gehorsam. (…)
Das Mitglied Nr. 7.
(…) Eines Tages drückt ein Offizier Hitler ( Er gehört immer noch zur Reichswehr. Anm. d. Red.) einen Zettel mit einer Adresse in die Hand. In einer winzigen Gastwirtschaft tagt eine sogenannte „Deutsche Arbeiterpartei“. Die politisch so neugierige Reichswehr möchte Genaueres über das Grüppchen wissen, das von „guter Gesinnung“ zu sein scheint. Hitler geht hin. Es spricht Feder, der von ihm hochverehrte Brecher der jüdischen Zinsknechtschaft; aber das besagt in dem Fall wenig. Feder spricht ja überall. Dann steht der Redner auf und erklärt, alles Unheil komme von Preußen; von denen müsse Bayern sich trennen. Das erträgt Hitler nicht. Obgleich er eigentlich nur zuhören und berichten soll, meldet er sich zu Wort und hält eine halbstündige Rede über Großdeutschland, gegen den Egoismus der Länder und Stämme, gegen den Preußenhass und für die Einigkeit. Dann geht er.
In diesem Augenblick läuft ihm der Vorsitzende nach und steckt ihm eine Broschüre zu mit der Bitte, sie doch ja zu lesen. Sie ist von ihm selbst verfasst und trägt den Titel „Mein politisches Erwachen“. Es finden sich Sätze wie: „Am deutschen sozialistischen Wesen soll die Welt genesen… Ich sehe auch im Arbeiter einen Bürger und im Offizier und Beamten noch keinen Bourgeois…Armer, verhetzter Arbeiter! Mit dir hat man die Revolution zu einer noch nie gesehenen Lohnbewegung gemacht, die dir nichts einbrachte, wohl aber denen, die dich bisher ausbeuteten, die Tasche füllte und Deutschlands Konkurrenzfähigkeit vernichtete…(…).“ Wie heißt der Verfasser? Anton Drexler.
Hitler las die Schrift, wie er sagt, „mit Interesse“. Dieser leutselige Ton ist gar nicht angebracht. Tatsächlich steckt in Drexlers dunklen Sätzen ein gutes Stück der Idee der Nationalsozialistischen Bewegung. Aber das wird Hitler, ein sammelndes Talent, das gern originell sein möchte, nie zugeben. „Wollen Sie leugnen, dass ich der Schöpfer des Nationalsozialismus bin?“ fragt er später hochfahrend. In „Mein Kampf“ vergisst er vollständig zu erwähnen, dass „Mein politisches Erwachen“ von Drexler verfasst wurde und nennt ihn beständig nur „ein Arbeiter“. (…) Der Verein (d.i. Deutsche Arbeiterpartei. Anm. d. Red.) hatte etwa vierzig Mitglieder, darunter einen richtigen Oberregierungsrat. Hitler wurde sofort in den Ausschuss gewählt und bekam dort die Mitgliedsnummer sieben.
Dietrich Eckarts Ratschläge.
Eckart spricht einige Male in der Deutschen Arbeiterpartei und entdeckt hier – zwar nicht seine lang gesuchte neue Bewegung, wohl aber seinen „Führer“: den Proleten im Soldatenrock, der das Maul aufmachen kann und Maschinengewehrrattern verträgt, brennend vor Ehrgeiz und Eitelkeit – und sogar Junggeselle. Auch dumm? Das nicht, aber in gewissem Sinn naiv, ungebildet und unbelehrbar, wenn man sich in den Grundvorstellungen einig ist; saugt Weisheiten, die er brauchen kann, eilig und massenhaft auf, wie ein trockener Schwamm das Wasser. Ein hervorragender politischer Verstand, vor höherer Bildung ehrfürchtig, im Theoretischen leichtgläubig. Dietrich Eckart übernimmt Hitlers geistige Führung. Hitler lernt von ihm schreiben und sogar sprechen, wenn man darunter nicht nur ein temperamentvolles Geheul, sondern das Formen von Sentenzen und den Aufbau von Gedankengängen versteht. Die Unterhaltungen, die Lehrer und Schüler miteinander führten, hat Eckart in einer merkwürdigen Broschüre aufgezeichnet: „Der Bolschewismus von Moses bis Lenin“. Beide hielten Lenin für einen Juden.
7. Propaganda und Organisation
Witz, Logik, Frechheit.
(…) Nur auf die Propaganda kam es an. Das war das große geistige Erlebnis des werdenden Mannes Hitler. In seinem Buch „Mein Kampf“ hat er 32 Seiten dem Weltkrieg gewidmet. Davon beschäftigt er sich auf 20 nur mit Propaganda. „An der feindlichen Kriegspropaganda habe ich unendlich gelernt.“ (…) Alles, was Hitler in seinem Buch über Propaganda sagt, ist meisterhaft, aber es ist eine Meisterschaft niederen Ranges. Die Erhöhung der Propaganda zur herrschenden Form der Volkserziehung ist das Verbrecherische an dieser Geschicklichkeit, die in ganzes Volk formt nach dem ruchlosen Satz: „Die Vorsicht bei der Vermeidung zu hoher geistiger Anforderungen kann gar nicht groß genug sein.“
Man muss das Gemüt der Masse mit einer bestimmten, knalligen, aufpeitschenden Vorstellung derart füllen, dass daneben nicht anderes Platz hat. Man darf sie ja nicht zum Denken bringen, denn wenn die Gedanken erst einmal laufen, hat keine Propaganda sie mehr in der Hand. Vorstellungen, Bilder, Schlagworte, die wie Keile in den Denkapparat fahren und nicht mehr herauszubringen sind – darüber muss man verfügen. Auch wenn man scheinbar logisch spricht, Konsequenzen entwickelt, so darf das eben nur scheinbar sein; haften darf nur der eine Satz: der Jude ist an allem Schuld.
In seiner großen außenpolitischen Rede vom 21.Mai 1935 sagt er: „Ich wünsche Ruhe und Frieden. Wenn man aber sagt, dass das nur der Wunsch der Führung sei, so muss ich darauf folgende Antwort geben: wenn nur die Führer und Regierenden den Frieden wollen – die Völker selbst haben sich noch nie einen Krieg gewünscht.“ Das klingt „messerscharf“, ist aber nur ein plumpe Verdrehung, denn die Welt hat nicht gefürchtet, dass das deutsche Volk, sondern dass der Staatsmann Hitler den Krieg will. (…)
Der Redekünstler.
Und nun steht er oben auf dem Podium. Zuweilen benimmt er sich meisterhaft. Die Versammlung ruft und winkt andauernd; ein Begleiter reicht ihm einen Steinkrug mit Bier. Hitler behauptet, er sei kein Alkoholiker, aber den Krug hebt er wie ein alter Bräuhausstammgast gegen das Publikum, ruft grinsend „Prost!“ und trinkt einen mächtigen Respektschluck. Wenn die Münchner einen Bier trinken sehen, sind sie vor Jubel fassungslos. (…) Über sein Stimme gibt es die verschiedensten Urteile. Die einen finden sie faszinierend, die anderen abscheulich. Sicher ist, dass die außerordentliche Kraft dieses Organs, die auch in der heulenden Höhenlage wenig abnimmt und nur in erregten Augenblicken in ein fanatisches Krähen übergeht, auf viele suggestiv wirkt. Ton und Haltung des Redners bei Beginn machen den Eindruck von starkem Ernst und Verantwortungsgefühl, umso erregender später wirkt das hemmungslose Schreien; wenn dieser Kraftvolle, so empfindet der Hörer unbewusst, wie ein wahnsinniges Weib kreischt, dann müssen wirklich fürchterliche Dinge passiert sein. Der sogenannte Zauber seiner Persönlichkeit ist im letzten nicht zu enträtseln, aber der Mechanismus ist in diesem Falle ganz primitiv und deutlich: das jähe Wechseln zwischen ausdrucksstarkem Ernst und ausdrucksstarker Hysterie. Oft ist die Frage nach seiner Ehrlichkeit gestellt worden, von der später noch zu reden sei wird. Sicher ist: der Redner Hitler lebt sich selbst einen ehrlichen Mann vor. Er ist auf den Höhepunkten ein von sich selbst Verführter, und mag er lautere Wahrheit oder die dickste Lüge sagen, so ist jedenfalls das, was er gerade sagt, in dem betreffenden Augenblick so vollständig der Ausdruck seines Wesens, seiner Stimmung und seiner Überzeugung von der tiefen Notwendigkeit seines ganzen Tuns, dass selbst von der Lüge noch ein Fluidum von Echtheit auf den Besucher überströmt. Die Einheit von Mann und Wort ist das zweite Geheimnis seines Erfolges.
Den Künstler der Formulierung muss jeder bewundern, der mit dem Ausdruck und seiner widerspenstigen Kraft jemals gerungen hat. „Was nicht Rasse ist, ist Spreu“, ist in seiner klingenden Kürze vollendet; übrigens falsch. „Die Erde ist nicht da für feige Völker“, kommt ihm nahe. „So wenig eine Hyäne vom Aase lässt, so wenig ein Marxist vom Vaterlandsverrat“, ist ein sehr kurzbeiniger Gedanke, aber eine unübertroffene Beschimpfung; von gleicher Kraft „Pazifistenspülwasser“. Mit den Waffen, die einem „nationalen Volk aus der Faust herausquellen“ würden, kommt er der bewussten Unwahrheit schon sehr nahe. Einen Satz wie „Die braune Garde grüßt das Schicksal“, würde man kitschig nennen, wenn in diesem Schlamm-Meer von kunstvoller Lüge noch ein trockener Fleck für den guten Geschmack übrig bliebe. (..)
Wenn beispielsweise die Kommunisten „hämmern“, dann hämmern sie ihren Zuhörern etwa so einen schwierigen Begriff wie „Klassenfeind“ ein, der ohne Vorkenntnisse und Nachdenken gar nicht zu verstehen ist. Hitler sagt „Jude“ – und jeder versteht. Immer wieder wird die Wahrheit vergessen, dass die Masse – zu der bekanntlich jeder, selbst der Gebildetste gehört, wenn er unter Tausenden steckt – erlogene Tatsachen lieber hört, als wahre Begründungen. Und dass sie eine erlogene Tatsache, die mehrmals wiederholt wird, schließlich bedingungslos glaubt – ein „ungeheures, kaum verständliches Ereignis“, das selbst ein Hitler „mit Staunen“ feststellt.
Ja, das tätige Nachspüren hinter der Frage: wie komme ich an die Massen heran, wie in die Gemüter hinein? – hat ihn zu erstaunlichen Ergebnissen und schwindelnden Höhen geführt. Aber mag moralisch die Lehre Hitlers noch so verurteilenswert sein; seine Leistung ist die Bestätigung des alten Satzes, dass Genie Fleiß ist. Durch seine Unermüdlichkeit hat er seine Gegner geschlagen.
Aktivierung der Masse, Hingabe an die Rede und Rastlosigkeit im Wirken sind die drei Schlüssel seines Erfolges. (…)
Das Führerprinzip.
Die einzigartigen Leistungen Hitlers als Propagandist und Organisator beruhen nicht auf einem ausgeklügelten Plan, sondern auf Experiment und Glück, raschem Zugriff und manchem Fehlgriff. Er ist den Ereignissen mit gesundem Menschenverstand entgegengetreten; so wurde ihre Lehre ihm heilsam und selbst der Irrtum nicht auf Dauer verderblich. Indem er im einzelnen Fall meistens das Zweckmäßige herausfand, entstand aus tausend Fällen und ihrer Bemeisterung mit der Zeit eine Art System. (…) Das Führerprinzip durchläuft die Partei von oben bis unten. Grundsätzlich wird keine Organisation, keine Gliederung, keine Gruppe ins Leben gerufen, bevor ein geeigneter Mann als Führer vorhanden ist. Fehlt er, so bleiben die bereits vorhandenen Parteianhänger eben vorläufig unorganisiert.
Das ist in den Augen Hitlers kein Unglück. Nach seiner Ansicht soll die Partei klein sein. Denn er unterscheidet zwischen den Mitgliedern und Anhängern; die Mitglieder sind die Erprobten, Zuverlässigen, blind Gehorchenden, und zehn Gehorsame sind selbstverständlich wertvoller als hundert Unberechenbare. Die Anhänger dagegen füllen die Versammlungssäle, wo sie durch ihre Anwesenheit nützen und im Übrigen keine Schaden stiften.
Denn Hitler hat mit teuflischem Scharsinn begriffen, was andere Parteien ( es ehrt sie ) nicht gesehen haben: „dass die Stärke einer politischen Partei keineswegs in einer möglichst großen und selbständigen Geistigkeit der einzelnen Mitglieder liegt, als vielmehr im diszipliniertesten Gehorsam, mit dem ihre Mitglieder der geistigen Führung Gehorsam leisten. Denn derjenige siegt, „ der die überlegendste Führung und zugleich die disziplinierteste, blind gehorsame, bestgedrillte Truppe hat….“
Eine hohe Meinung von seinen Anhängern hat Hitler jedenfalls nicht und kann er nicht haben. Denn – das ist die unausgesprochene Voraussetzung seiner Führerauslese – er kann natürlich nur solche Menschen brauchen, mit denen er selbst geistig fertig zu werden vermag. Und so hoch man die politische Klugheit des Mannes, der diese Organisationsgrundsätze ersann und anwandte, schätzen muss, so eng sind, wie wir noch sehen werden, ihre Grenzen in einer echten Auseinandersetzung, wo er einen echten Gegner aus Fleisch und Blut und nicht einen zusammenphantasierten Feind vor sich hat, wirkliche Gegengründe und nicht eigens zur Widerlegung erfundene Widersprüche beantworten soll und Beweise statt wirksamer Behauptungen vorbringen muss. Diese Eigenschaften Hitlers ziehen dem Niveau seiner Anhänger nach oben eine sichere Grenze.
So erklärt sich auch die Gelassenheit, mit der er dem Theorienstreit in seiner Partei zusieht, wo radikale Sozialisten und radikale Kapitalisten miteinander im ewig unentschiedenen Kampf liegen. Eine derart auf Stumpfsinn ausgesuchte Gefolgschaft wird durch den im engen Zirkel tobenden Streit der Privatmeinungen in ihrem Gehorsam nicht beunruhigt – und darauf kommt es allein an. (…) Erst der Führer, dann die Truppe; kleiner Kern, breite Masse; Verantwortung nach oben, Autorität nach unten; absolute Befehlsgewalt der Zentrale über das Ganze, absolute Befehlsgewalt der Unterführer in ihrem Bereich; Ausschaltung der Debatte aus dem Parteileben und Konzentration der Mitglieder auf die einzige große technische Aufgabe, nämlich auf die Propaganda zur Erringung der Macht; immer schärferer Schliff der Partei zur fruchtbaren Waffe des Machtkampfes, Zurückdrängung aller menschlichen Werte, die diesem Machtkampf nicht dienen, Pflege des gehorsamen Mittelmaßes, Verkümmerung persönlicher Eigenart, Herdenzucht – dank solcher Prinzipien erringt Hitler mit seiner Partei die Macht über ein großes, geistig reiches Volk.
Er hat das deutsche Volk meisterhaft verdorben.
8. Der Weg in die Gesellschaft
Wovon lebt er eigentlich?
Die Partei wird zum Heer werden, die Propaganda zur Legende, und vor den Augen der Zeitgenossen baut sich die Kolossalfigur des Tribunen Adolf Hitler auf, in der der Mensch Adolf Hitler einfach verschwindet. Bevor er dort sich selbst und uns verloren geht, versuchen wir noch einmal seine Gestalt in ihrem verschwimmenden Naturzustande festzuhalten.
Der schmächtige Ansichtskarten-Zeichner von 1913 ist seitdem ein harter Berufssoldat geworden. Seit sechs Jahren trägt er die Uniform. Er ist längst eine bekannter „Hetzer und Volksaufwiegler“, ein Wühler gegen Staat und Regierung, aber die Reichswehr besoldet ihn immer noch. Am 1.Mai 1920 scheidet er aus; die Vorgesetzten müssen ihn fallen lassen, weil nach dem missglückten Kapp-Putsch die hervorstechendsten politischen Gestalten nicht mehr bei der Truppe zu halten sind. (…)
Hitler muss zusehen, wie er sich durchs Leben schlägt. (…) Den Parteigenossen ist sein bürgerliches Dasein ein Rätsel. Niemand weiß, wovon er lebt. Sie wagen schon gar nicht zu fragen. Was sie vor sich sehen, ist ein Bohemien der ungezieltesten Sorte. Er hat kein Geld, aber er gibt es aus und die Widersprüche sind ihm peinlich. (…) Wegen eines Flugblattes kommt es zu einem Beleidigungsprozess. Hitler wird vor Gericht aufgefordert, nun doch einmal frei herauszusaugen, wovon er eigentlich lebe. Bekomme er für seine Versammlungsreden Geld? Das sei doch nichts Unehrenhaftes. Antwort: „Wenn ich für die nationalsozialistische Partei spreche, dann nehme ich kein Geld für mich. Aber ich spreche auch als Redner in mehreren Organisationen, zum Beispiel im Deutsch-völkischen Schutz- und Trutzbund. Dann nehme ich natürlich Honorar.“ – „Und das reicht aus?“ – „Ich esse auch abwechselnd bei einzelnen Parteigenossen zu Mittag. Außerdem werde ich von einigen Parteigenossen in bescheidener Weise unterstützt.“ (…)
Sicherlich haben alle diejenigen geirrt, die den Hitler der ersten Jahre wegen seines chronischen Geldmangels für einen armen Teufel hielten. Sein Bedürfnis nach sprunghaftem Wechsel zwischen tiefer Einsamkeit und wimmelnder Gesellschaft führt bei eben nicht unbeschränkten Mitteln zu bescheidener Wohnung und großem Wirtshausgelage. Er ist ein zügelloser Mensch. Dabei hält sich wahrscheinlich ganz ehrlich für ein „armes Luder“, das kaum ein anständiges Dach über dem Kopf hat, denn so haben die Menschen noch immer ihre Genies behandelt. In Wirklichkeit kann Hitler mit Geld nicht umgehen; so wenig wie er mit seiner Zeit umgehen, mit seiner Kraft haushalten, sein Personal ökonomisch verwenden oder Schrift und Rede architektonisch gliedern kann. Er ist ein zügelloser Mensch, gegen Mühen und Schmerzen bisweilen wie in einem Rauschzustand unempfindlich und dadurch zu bewundernswerten Kraftleistungen fähig; auf lange Dauer zu Selbstdisziplin jedoch nicht imstande.
„Im Kreise schöner Frauen“.
Im Sommer 1923 entdecken die Freunde Dietrich Eckart und Hermann Esser eine ländliches Asyl bei Berchtesgaden, den Platterhof. Ein reicher junger Verehrer Hitlers, Ernst Hanfstaengl, ist eine willkommene Ergänzung der Gesellschaft, zu der auch Max Amann, der damalige Geschäftsführer der Partei gehört. In dieser fidelen Bande wusste Hitler die Grenzen nicht zu finden. Gottfried Feder las (Mitbegründer der Partei, informiert die Volksgenossen. Anm. d. Red.) einen Brief vor, den er an Hitler gerichtet hatte und in dem es hieß:
„ Mit wachsender Sorge sehen wir den unhaltbaren Zuständen zu. Wir verkennen nicht, dass es dem Führer (…) vergönnt sein muss im Kreise schöner Frauen Erholung zu finden … . Der Führer muss sich bewusst sein, dass er mit seinem ganzen Tun und Lassen im öffentlichen Leben steht und dass man nach seinem Verhalten den idealen und sozialen Wert der Partei beurteilt.“
Feder sagte ferner noch, man müsse Hitler zu einer geordneten Arbeitsweise erziehen. Er hatte zu diesem Zweck einen Offizier ausgesucht, der Hitler als Sekretär beigegeben wurde, die Tagesarbeit nach der Uhr festlegen und überhaupt in die Tätigkeit des Führers Ordnung und Programm hineinbringen sollte. Als Hitler das hörte, schlug er mit der Faust auf den Tisch und schrie: „ Was bilden sich die Kerle ein? Ich gehe meinen Weg, wie ich ihn für richtig halte.“ Den Sekretär nahm er aber doch noch.
Der Kampf um die Salons.
Man muss nicht glauben , dass dieser unbeherrschte Mensch mit den schlechten Manieren ein beliebter Tafelaufsatz der Münchner Gesellschaft gewesen sei Er wurde wenig eingeladen, die Salons hielten bis 1923 einen fast nirgends durchbrochenen Boykott gegen ihn durch. Ein schüchterner und linkischer Mensch, auffallend durch seine hastige Gier beim Essen und seine übertriebenen Verbeugungen, wurde er aus der Nähe schnell uninteressant. (…)
Das ganze Leben Hitlers ist eine einzige unglückliche Liebe zur guten bürgerlichen Gesellschaft. Er wurde nicht in sie hineingeboren. Das lässt sich reparieren. Zielsicher betrat er den richtigen Weg, auf dem ein zum Glücklichsein Begabter Hätschelkind der Gesellschaft werden kann: er wollte Maler werden. Wir sahen, wie und warum er scheiterte. Seitdem ist sein Verhältnis zur Gesellschaft mit dem Fluch des bösen Gewissens belastet, mit dem ewigen Selbstvorwurf, zu träge zum kecken Griff nach dem Glück gewesen zu sein. (…)
Das erste größeren Stils Haus, das sich Hitler zu freundschaftlichem Verkehr auftut, befindet ich nicht in München, sondern in Berlin. Es ist das des Klavierfabrikanten Bechstein. Die Bechsteins sind alte Freunde von Dietrich Eckart; der führt seinen Schützling dort ein. Frau Helene Bechstein fasst eine warme Zuneigung zu Hitler. „Ich wollte, er wäre mein Sohn“, sagt sie. Hitler benutzt die Freundschaft ohne zarte Bedenken; erbittet immer wieder um Geld. (…) In München ist es das Haus Hanfstaengl, das sich ihm 1923 auf Wunsch des Sohnes öffnet. (…) Andere Bekanntschaften reichen zwar gleichfalls in die Luxussphäre, bleiben aber doch im Bereich dieses Landsknechttums, das man vielleicht besser eine bewaffnete Boheme nennen würde. Da ist der neue Freund, der ehemalige Fliegerhauptmann Göring, zur Zeit ein etwas später Student der Universität München, der mit seiner jungen Frau Karin eine elegante Wohnung im Villenvorort Gern hat. (…)
Nie verlässt ihn, der als Fünfzehnjähriger scheiterte, das Gefühl, er werde nicht voll genommen in dem Kreise, den er als Dreißigjähriger betritt. Er ist ein Arrivist, der nicht den Wunsch hat angenehm zu sein, sondern den Mut aufzufallen. Dafür gibt es drei goldenen Regeln, die er nicht als erster erfunden hat; man kommt grundsätzlich zu spät, dann wird man beachtet; man beteiligt sich nicht an der Unterhaltung, denn damit macht man sich höchstens unangenehm, fällt aber nicht weiter auf; dann redet man plötzlich wie ein Irrsinniger, dass alle schweigen müssen, denn damit erzwingt man Aufmerksamkeit; schließlich geht man vor dem allgemeinen Aufbruch weg, denn dann können die Zurückbleibenden noch über einen reden, was den Eindruck vertieft. Angenehm ist ein Mitmensch mit solchen Methoden freilich nicht.
9. Stufen zur Macht
Die bayrische Fronde.
Hitlers kleines Fahrzeug schwimmt auf dem großen Strom der deutschen Gegenrevolution. Die Gegenrevolution überflutet 1919 ganz Deutschland. Fast die ganze organisierte Macht des Landes ist gegen die Revolution gewendet. Die Unternehmer sind selbstverständlich gegen sie, die Großgrundbesitzer und die Bauern sind selbstverständlich gegen sie, die Reichswehr ist selbstverständlich gegen sie, die Kirche ist selbstverständlich gegen sie. In den Kartoffelgruben der schlesischen und pommerschen Landgüter, in den Kellern und Speichern bayrischer Klöster lagern die versteckten Waffen der Reichswehr und der Freikorps. (…)
Die bayrischen Föderalisten sind gegen Berlin, gegen die Revolution und für eine bayrische Monarchie. Aber man darf sich diese Gruppen nicht als zwei scharf geschiedene Lager vorstellen; vor allem die Massen der Anhänger, der Bürger und Bauern merkten von dem Gegensatz nicht viel, sondern folgten fröhlich der Parole: gegen Berlin, gegen Preußen, gegen die Republik, gegen die Juden! Die Bürokratie, die Reichswehr, die stärksten Parteien und die Kirche standen hinter diesen Losungen, und erst im Lauf der Jahre, als man sich der Unterschiede stärker bewusst wurde , lockerten sich die Bande und rissen schließlich. Dazu hat Hitler wesentlich beigetragen. Er gehörte zu dem Flügel, der scharf gegen die Republik, aber bedingungslos für die Einheit des Reiches und eine starke Zentralgewalt in Berlin eintrat, und wurde schließlich dessen mächtigster Wortführer. (…)
Der Kapp-Putsch.
Am nächsten von allen Machtfaktoren steht ihm die Reichswehr, denn die deutsche Arbeiterpartei ist mit der Reichswehr geradezu identisch. Ihre Mitglieder sind Reichswehrsoldaten, die Röhm in die Partei hineingeschickt hat; die erste Schutztruppe wird von einer Minenwerferkompagnie der Münchner Reichswehr gebildet; der Führer ist Reichswehrsoldat und wird von der Reichswehr bezahlt, handelt im Auftrag Röhms und macht Politik für den General von Epp.
Im März erheben sich Teile der Reichswehr in offenem Aufstand gegen die Republik und wollen die Regierung samt dem Reichspräsidenten Ebert stürzen. Die Führer des Unternehmens sind der General von Lüttwitz und der Kapitän Ehrhardt in Berlin; sie stellen einen bisher wenig hervorgetretenen Politiker, einen ostpreußischen Generallandschaftsdirektor namens Kapp, als Reichskanzler auf, und das Abenteuer erhält nach ihm den Namen Kapp-Putsch, als welches es eine der wichtigsten Episoden in der Geschichte der deutschen Republik bleibt. Ein paar Tage beherrschen die Aufständischen Berlin; dann ringt die Reichsregierung in einem großen Generalstreik der Arbeiter und Angestellten, einer gewaltigen Kraftäußerung des republikanischen Massenwillens, den Putsch ohne große Muhe nieder. Die Reichswehr in den übrigen Landesteilen hat eine Beteiligung an dem Aufstand nicht gewagt. Nur in Bayern macht sie einen kleinen Sonderputsch. (…) (Der sich auch auflöst. Anm. d. Red.)
Für Hitler ist das Ergebnis dieser Märztage ein ungeheurer, vom Glück geschenkter Gewinn. Über Bayern gebietet plötzlich eine Regierung, die die Rechtsparteien und darunter auch das fast noch unbekannte Grüppchen der Deutschen Arbeiterpartei zügellos gewähren lässt; (…). Von der ersten Stunde an genoss also die nationalsozialistische Bewegung den umfassendsten Schutz der Behörde. Und bis zum Endsieg hat Hitler immer wieder den Weg zur Staatsgewalt gesucht, um in ihrem Schutz seine sogenannte Revolution zu machen. Er selber sagt, er sei kühn gewesen. Die Geschichte wird bezeugen, dass er sehr fleißig gewesen ist. Vierzehn Jahre lang hat er sich durch die Weltgeschichte redlich empor gedient, immer den Weg des geringsten Widerstandes und der größten Sicherheit gewählt.
Der Unermüdliche.
Jede Woche ist Versammlung. Jedes Mal sind etwa 2000 Menschen da – ein treuer Stamm, von dem immer einige Hundert wechseln. (…) Hitler sagt so ziemlich dasselbe (…). Aber jedes Mal har er neue Bilder, neue Witze und neue Schimpfworte gegen Berlin und gegen die Juden. (…) Und doch setzen sich die einfachen Gedanken binnen drei Versammlungen so tief in den Köpfen fest, dass der Hörer beim vierten Mal meint, der Redner sage nur dasselbe, was er selbst seit jeher gedacht habe.
Neben Hitler zeichnet sich ein zweiter Agitator aus, der gerade zwanzigjährige Hermann Esser. Er hat nicht Hitlers Pathos, aber er kann sich mit zweitausend Menschen unterhalten, als wären es zwei. Er wirkt ein bisschen schmierig und bald sickern Geschichten durch, die auf seine private Moral ein bedenkliches Licht werfen. (…) Er ist der erste, der Hitler in öffentlicher Versammlung als „den Führer“ begrüßt. Ein dritter mächtiger Redner ist ein gewisser Max Weber, literarisch und schneidend, im Äußeren und im Ton Goebbels ähnlich. 1923 verschwindet er plötzlich und taucht nie mehr auf, eine Anzeige wegen Meineids ist das Letzte, was von ihm gehört wird. (…)
Die Entstehung des „Führers“.
Aber der Glanz all dieser Erfolge wirft hinter Hitler einen Schatten auf die Bewegung. Diese zerfällt immer deutlicher in zwei Schichten. Da sind erstens die alten Parteigründer,(…); da ist zweitens der Kreis um Hitler(…). Zwischen beiden pendelt Hermann Esser hin und her, der unmögliche Jüngling mit dem schlechten Ruf. (…)
Hitler ist im Juli 1921 in Berlin, wohnt bei Bechsteins, nimmt Sprachstunden, besucht den Nationalen Club und wird von dem Grafen York von Wartenburg aufgefordert seine Bewegung nach Berlin zu verlegen. Zufall oder Zusammenhang – zur gleichen Zeit arbeiten auch in München Leute dran, die Bewegung nach Norden zu verschieben.(…) Unter der zentralen Leitung ist Drexler selbst verstanden; Hitler mag weiter in München agitieren.
Nun wird es dramatisch. Hitler zeigt den erschütterten Parteigenossen wie man eine Krise niederkämpft. Die Fronten sind geschieden Drexler, Körner und die ganze Schar der kleinen Gründungsmitglieder, auf der andern Seite Hitler mit den Kavalieren der Partei Eckart, Rosenberg, Feder und dem Freunde Heß. Der ergreift zum ersten Mal öffentlich das Wort: „Seid Ihr wirklich blind dagegen“, schreibt er in dem erwähnten Brief an den „Völkischen Beobachter“, „dass dieser Mann die Führerpersönlichkeit ist, die allein den Kampf durchzuführen vermag?“ Zwischen den Gruppen steht Esser. (…)…, der hat erfahren, dass der Führer zu Dritten äußerte: „Ich weiß, dass Esser ein Lump ist, und ich brauche ihn nur, solange ich ihn für meine Zwecke nötig habe.“ Das ist der Ton in der Partei; zu Drexler sagte Hitler, als er zornerfüllt von Berlin zurückkam: „Dreckiger Hund, gemeiner Lump, der größte Idiot aller Zeiten….“ Dabei ist Drexler ein Ehrenmann, Esser das Gegenteil. Aber Hitler kennt jetzt nur Freund oder Feind. Er erklärt jetzt seinen Austritt aus der Partei.
Das ist Blitz und Donner zugleich, damit gewinnt Hitler den Kampf, bevor der Gegner überhaupt zu Besinnung kommt. Denn Hitler ist bereits die Macht, das Ansehen und das Vermögen der Partei, er braucht sich nur halb abzuwenden, und den Genossen wird sein Unersetzlichkeit sofort klar. Bei Hitler steht Dietrich Eckart, dem der „Völkische Beobachter“ gehört, bei ihm steht die Reichswehr, bei ihm die Polizei. Epp, Röhm, Pöhner, Frick entscheiden den Kampf aus der Ferne. Ohne Hitler ist die Partei nur ein zusammensinkender Sandhaufen. (…) In zwei Mitgliederversammlungen am 26. Und 29. Juli 1921 diktiert Hitler die Friedensbedingungen. Anton Drexler wird als Ehrenvorsitzender kaltgestellt, Hitler zum ersten Vorsitzenden der Partei mit unumschränkten Vollmachten gewählt; seitdem gibt es keine Ausschüsse und beratende Körperschaften in der Partei mehr, sondern nur „Referenten“, die dem Führer Bericht erstatten und seine Befehle empfangen. Seit dem 29. Juli 1921 ist Hitler der „Führer“ der nationalsozialistischen Bewegung wie wir sie heute kennen. Er befestigt seine Herrschaft sofort, indem er seinen persönlichen Freund Max Amann als Geschäftsführer der Partei erklärt. Ferner verkündet er, dass München für immer das Zentrum der Bewegung bleiben werde; nie werde er nach dem Norden gehen. Denn jede Verlegung weg von München wäre vorläufig noch eine Bedrohung seiner persönlichen Herrschaft über die Partei. Im Übrigen könnte er München gar nicht verlassen, selbst wenn er wollte. Denn die Grundlage der Bewegung ist die Münchner Reichswehr, die man nicht mitnehmen kann.
Die Anfänge der SA.
(…) Eine Schar von Männern zieht sich in vielfacher Kette durch den Versammlungssaal. Sie geben das Zeichen zum Beifall, sie beginnen den Gesang, sie bilden dem Führer eine Gasse, sie stürzen sich mit Übermacht auf den Zwischenrufer und schlagen ihn zu Boden. Sie lernen es allmählich, all das auf Kommando zu machen. (…) Ganz von selbst treten nach der Versammlung in Kolonnen auf der Straße zusammen und marschieren durch die Stadt. (…) Das Gefühl, mit dem Marsch ein Polizeiverbot zu übertreten, erhöht den Stolz, und das Bewusstsein, dass die Polizei beide Augen zudrückt, hebt die Zuversicht. Wehe dem „Marxisten“, wehe dem Juden, der dem Zug in die Quere kommt. Rasch springt – der Nationalsozialist Czech-Jochberg hat das in seiner Hitler- Biographie geschildert – ein halbes Dutzend flinker Kerle aus der Kolonne, und der Unglückliche liegt am Boden unter den Stiefeln der wütend trampelnden Nationalsozialisten. Stundenlang schwärmen die kleinen Überfalltrupps durch die Stadt, (…). Sie machen Judenjagd. Einmal fällt ihnen ein adlernasiger, dunkelhäutiger, sehr eleganter Herr in die Hände, der wütend protestiert: Er sei kein Jude, sondern der Konsul einer großen südamerikanischen Republik. Da drängen sie ihn in eine dunkle Ecke und untersuchen jene diskrete Körperstelle, an der sich die Beschnittenen von den Unverschnittenen unterscheiden. Ihr Grundsatz ist, immer in geschlossenen Trupps aufzutreten, um immer die Überlegenen zu sein. So errichten sie eine rohe und eindrucksvolle Herrschaft über die Straße. Die Polizei hilft, indem sie gewähren lässt.
Das waren die Anfänge der SA.
Terror.
Es ist die Zeit der politischen Morde in Deutschland. Auf offener Straße hatte ein junger bayrischer Student, Graf Arco-Valley den sozialistischen bayrischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner niedergeschossen. (…) Zwei Jahre später schossen zwei Meuchelmörder, (…), den Minister Erzberger nieder; am 24. Juni 1922 tötete eine ganze Kolonne nach raffiniert ausgeklügeltem Plan den bedeutenden Minister Rathenau aus dem fahrenden Auto und floh in alle Winde. Aus dem Hinterhalt wurde in dunkler Nacht in München der sozialistische Abgeordnete Gareis niedergeschossen; niemals fand die bayrische Justiz den Täter, obwohl sie ihn zwei Jahre lang in den Händen gehabt hat. Denn noch zahlreiche andere Morde fielen in jener Zeit vor, zumeist an armen Teufeln, die einem der heimlichen Wehrverbände angehört hatten und denen man nicht mehr traute. Ein fanatischer antisemitischer Professor namens Arnold Ruge erfand für diese Morde den zynischen Ausdruck „Umlegen“. Gelegentlich wurden der Tat Verdächtige verhaftet, aber regelmäßig wieder freigesprochen; die bayrische Justizbehörde, an deren Spitze der spätere Reichsjustizminister Gürtner stand, fand nie genügend Beweise. Und immer gehörten die Verdächtigen zu dem Kreise um Röhm; oft waren es, wie der erwiesene Mörder Heines, wie die Leutnants Neunzert und Bally, seine engsten persönlichen Freunde. (…) Der älteste Führer der SA, ein Leutnant Klintzsch, wird unter dem Verdacht verhaftet, bei der Ermordung Rathenaus geholfen zu haben, aber die Anklagebehörde findet angeblich nicht genug Material gegen ihn. Als er freikommt, ruft Hitler zu seinen Ehren die Partei zusammen und erklärt schäumend: Der Vorwurf Rathenau ermordet zu haben, werde die SA nur noch fester an Klintzsch binden.
Mit dieser Truppe erobert Hitler München. Seine später – auch in „Mein Kampf“- aufgestellte Behauptung, es sei nur eine Truppe für Schutz und Verteidigung gewesen, ist einfach lächerlich. Er hat am 4. Januar 1921 öffentlich erklärt: „Die nationalsozialistische Bewegung in München wird in Zukunft rücksichtslos alle Veranstaltungen und Vorträge verhindern – wenn es sein muss , mit Gewalt – die geeignet sind, zersetzend auf unsere ohnehin schon kranken Volksgenossen einzuwirken ( zitiert nach dem „Völkischer Beobachter“ Nr. 3, 1921)“. Hitler hat also den Angriff angekündigt und ausgeführt und wenn die Partei heute von ihren Toten spricht, so muss der Geschichtsschreiber hinzufügen, dass diese Toten, historisch gesehen, als Angreifer gefallen und in Notwehr erschlagen worden sind.
Hitler zieht auch hinaus in die kleinen Städte, nach Ingolstadt, nach Coburg. Wenn er in Überzahl den Gegner anfällt, steht die Polizei mit verschränkten Armen daneben, oder ist überhaupt nicht zu sehen; wird er aber selbst angefallen, dann erscheint sie, räumt das Schlachtfeld, trennt die Kämpfer und verhaftet die „Roten“. An der Spitze einer mit schweren Eichenstöcken bewaffneten Bande dringt er in die Versammlung eines Rivalen um die Volksgunst, eines gewissen Ballerstedt, ein. Hitler und Esser stürmen mit geschwungenem Sparzierstock auf das Podium und auf Ballerstedt hagelt es Schläge. Die Polizei kapituliert wieder einmal; der arme Wachtmeister weiß, dass Hitler bei seinen Vorgesetzten tausendmal mehr gilt als er und bittet schüchtern: „Herr Hitler, sie sehen ja selbst, hier gibt es Tote, bringen Sie doch Ihre Leute zur Räson!“ Hitler wirft einen Siegerblick über das Schlachtfeld und sagt gnädig: „Schön, der Zweck ist ja erreicht, Ballerstedt spricht heute nicht mehr!“ (…)
Bruch mit der Reichswehr.
(..) Am 1. Mai wagt sich Hitler zu weit vor. Die Sozialdemokraten und Kommunisten begehen an diesem Tag ihren Weltfeiertag des Proletariats. Hitler will an der Spitze seiner SA und einiger anderer Miltitärverbände die rote Demonstration mit Gewalt auseinanderschlagen.(…) Nun fordert er, dass die Reichswehr ihm für einen Tag die Waffen überlässt, die ursprünglich für den äußeren Feind bestimmt waren. Lossow ( General, Oberbefehlshaber der Reichswehr München. Anm. d. Red.) hat früher einmal Ähnliches versprochen. Hitler geht zu ihm und fordert die Waffen. Lossow erwidert zynisch: „ Sie können mich ruhig einen Meineidbauern nennen, die Waffen gebe ich nicht heraus.“ Er warnt Hitler, etwas gegen die Sozialisten zu unternehmen, dann werde die Staatsgewalt mitleidlos gegen ihn zuschlagen.
Hitler schäumt. So geht das also zu: Wort gegen Wort und Wortbruch gegen Wortbruch. Er gibt nicht nach. Er lässt Flugblätter verbreiten: Frauen und Kinder, morgen weg von der Straße! Und das Wort zirkuliert, man werde die Roten niederschießen wie tolle Hunde. Röhm meutert, er lässt die Kasernen öffnen, Hitler schickt seine Leute hin, sie holen die Waffen gegen Lossows Verbot. Die Untergebenen Röhms in den Kasernen hindern es nicht. Am Morgen des 1. Mai stehen ein paar tausend SA-Leute unter Waffen.
Aber jetzt verlässt Hitler der Mut. Er wagt den Streich nicht, sondern zieht sich mit seinen Schwerbewaffneten vor die Stadt zurück, so weit wie möglich von den sozialistischen Gegnern entfernt. Dort bewegt er sich, einen Stahlhelm auf dem Kopf, ziemlich ratlos mit seinem militärischen Berater Kriegel, mit Göring und dem Unterführer Brückner zwischen den seinen. Aber Lossow, erbittert über den Waffenraub, erbittert über einen unzuverlässigen Untergebenen wie Röhm, statuiert jetzt ein Exempel. Er lässt Hitler von der Reichswehr umzingeln und zwingt ihn, die Waffen wieder in die Kaserne zurückzubringen. Es ist eine glatte Kapitulation. Kein Röhm verhindert sie diesmal.
10. Der Putsch
Der Generalstaatskommisssar.
Der Widerspruch zwischen Röhms militärischem Denken und Hitlers politischen Zielen, den Hitler von Anfang an sah, hat sich zur Katastrophe entwickelt. Für Röhm ist das ein edler Seelenschmerz, aber Hitler muss seine Politik neu überdenken. Er hat gegen besseres Wissen nachgegeben und trägt jetzt die Folgen; er hat entscheidende Vorteile von dem Bündnis mit der Reichswehr (das ja Blutsverwandtschaft ist) gehabt, aber wenn sich ein Schlag wie dieser 1. Mai wiederholt, dann splittert es in der Partei. Ein gefährlicher Schritt wird getan: Hitler bricht die Beziehungen zur Reichswehr ab. (…) Da fällt mit einem Schlage das ganze politische Theater um. Die Reichsregierung Cuno, die Regierung des Ruhrkrieges, wird im August 1923 gestürzt. Der Ruhrkrieg ist verloren, die Währung zerstört, die Wirtschaft im Sterben und das Reich im Zerfall. (…) Am 24. September bricht die Reichsregierung den Ruhrkrieg ab.
Am 25. September treten in höchster Erregung die Führer des sogenannten Deutschen Kampfbundes in München zusammen; dies ist ein am 2. September in Nürnberg geschlossenes Kartell, dem auch die NSDAP angehört. Neben ihr ist der Bund Oberland durch seinen Führer, den Tierarzt Dr. Friedrich Weber vertreten; ein dritter, sehr starker Verband ist die Reichsflagge unter dem Hauptmann Heiß, der aber bald mit Hitler bricht. Auch Röhm und Göring sind da, und dann noch Scheubner-Richter, der dunkle Abenteurer aus dem Osten, auf den Hitler neuerdings große Stücke hält und von dem er sich oft politisch beraten lässt. Die Zusammenkunft ist von Röhm vorbereitet, ihr Programm von Röhm entworfen, ihr Ziel von Röhm festgelegt. Nun tritt Hitler in die Szene. Er ist wirklich ein großer Redner. Volle zweieinhalb Stunden spricht er auf die Kameraden ein und bittet sie schließlich, ihn alle zu ihrem politischen Führer zu wählen. Da springt Heiß auf streckt ihm, Tränen in den Augen, die Hand hin; auch Röhm weint. Selbst der kühle Dr. Weber ist bewegt. Hitler ist politischer Führer des Deutschen Kampfbundes; gestern noch Redner einer Lärmpartei, heute Herr der stärksten Wehrverbände in Bayern. Es ist ein Ereignis und hat sofort seine Folgen.
Am 26. September verhängt die bayrische Landesregierung, die eine Putsch Hitlers befürchtet, den Ausnahmezustand und setzt einen Diktator über das Land, den Generalstaatskommissar Dr. von Kahr( ermordet 1934 in Dachau. Anm. d. Red.). Dieser ehemals Ministerpräsident und sehr volkstümlich, soll die Gemüter von Hitler ablenken und ihm notfalls mit Gewalt entgegentreten; er erweist sich aber bald als ganz unfähig. Seine erste Tat ist ein Schlag gegen Hitler, der diesen heftig verdrießt: Kahr verbietet vierzehn große Veranstaltungen, die Hitler an einem Abend gleichzeitig in München abhalten wollte. Durch dieses Kunststück, mit einem Schlage vierzehn Säle zu füllen und dann im Wagen von Saal zu Saal zu fahren, hat Hitler schon öfter die Öffentlichkeit verblüfft. Hitler ist ungeheuer erregt, dass er nicht reden darf: „Vierzehn Versammlungen, „schreit er; „ wegen vierzehn Versammlungen geraten die Herrschaften schon in Aufregung? Was werden die erst sagen, wenn die ersten Vierzehnhundert, nein, die ersten Vierzehntausend an die Laternenpfähle hängen!“ (…)
Hitler war vor Ekstase halb aberwitzig geworden – so kam es wenigstens dem General von Lossow vor (mit dem er sich aus taktischen Gründen wieder versöhnt hatte. Anm. d. Red.), wenn er sich vor dessen Ohren mit Gambetta und selbstverständlich auch mit Mussolini verglich. Zu Lossows Mitarbeiter, dem Oberstleutnant von Berchem, sagt er: „ Ich fühle in mir den Beruf, Deutschland zu retten.“- Berchem: „Zusammen mit Ludendorff? Exzellenz Ludendorff dürfte außenpolitisch nicht tragbar sein.“- Hitler. „ Bah, Ludendorff hat lediglich militärische Aufgaben. Ihn brauche ich zur Gewinnung der Reichswehr. In der Politik wird er mir nicht das Mindeste dreinreden – ich bin kein Bethmann-Hollweg.“ – Pause . Dann: „Wissen Sie, dass auch Napoleon bei Bildung seines Konsulats sich nur mit unbedeutenden Männern umgeben hat?“ (…)
In einer Besprechung des Kampfbundes am 23.Oktober (1923. Anm. d. Red.) gab Göring Befehle aus, die alle späteren Gräuelberichte des Jahres 1933 verständlich machen und ihre Ableugnung Lügen strafen. Er sagt – und hierüber besitzen wir Zeugenaussagen vor dem Untersuchungsrichter: „ Wer nach der Machtergreifung die geringste Schwierigkeit macht, ist zu erschießen. Es ist notwendig, dass die Führer sich schon jetzt die Persönlichkeiten heraussuchen, die beseitigt werden müssen. Mindestens einer (gemeint ist offenbar: in jedem Ort) muss zum Abschrecken nach dem Umsturz sofort erschossen werden.“ (…)
„Kannst du schweigen Toni?“
Der Zufall bot für den Überfall eine wunderbare Gelegenheit. Herr von Kahr hielt auf Bitten einiger Wirtschaftsorganisationen am Abend des 8. November eine große Programmrede im Bürgerbräukeller.(…) Hitler zog sich am 8. November seinen besten Anzug an, einen langen Gehrock, heftete das Eiserne Krauz drauf und rief … den Veranstalter der Kundgebung an, er möge doch mit dem Versammlungsbeginn bis zu seiner Ankunft warten. (…) Neben ihm im Auto saß Anton Drexler, der harmlos glaubte, man fahre zu einer Versammlung aufs Land. Plötzlich wandte sich Hitler zu seinem Ehrenvorsitzenden: „Toni, “ sagte er, „kannst Du schweigen? Also, wir fahren heute nicht nach Freising. Um halb neun schlage ich los.“ Drexler, überrumpelt, verstand die Demütigung. Er erwidert trocken: „ Ich wünsche dir Glück.“
Der Schuss im Bürgerbräu.
Als Kahr etwa eine halbe Stunde gesprochen hatte, fuhren die Sturmabteilungen vor dem Lokal an. Es war der „Stoßtrupp Hitler“. Drinnen spricht Kahr, … , drinnen sind dreitausend ahnungslos; draußen bilden Sechshundert Sperrketten. Das Ganze ist ein Werk von drei Minuten. In diesen drei Minuten wird Geschichte geschrieben. (…)
Die Polizei aber sah zu. Ihr ratloser Führer rief im Polizeipräsidium bei seinem diensthabenden Vorgesetzten an und bat um Verhaltensmaßregeln. (…) Dieser pflichtbewusste Vorgesetzte war der damalige Oberamtmann und spätere Reichsminister Frick. Eine Stunde später hatte Hitler ihn zum Polizeipräsidenten von München ernannt. Denn inzwischen, es war etwa dreiviertel neun Uhr, hatte Hitler mit seinen Bewaffneten geräuschvoll den Saal betreten. Mit einer Pistole in der Hand rast er auf das Podium los. Wie ein Augenzeuge, Graf Soden, später vor Gericht sagte, machte er den Eindruck eines völlig Irrsinnigen. Seine Leute postierten im Saaleingang ein Maschinengewehr. Hitler selbst sprang, seiner Sinne kaum noch mächtig, auf einen Stuhl, feuerte einen Pistolenschuss in die Decke und stürmte dann weiter durch den plötzlich totenstill gewordenen Saal nach dem Podium. Ein pflichtgetreuer Polizeimajor trat ihm entgegen, die Hand in der Tasche. Hitler fürchtete eine versteckte Schusswaffe, setzte dem Major blitzschnell die Pistole auf die Stirn und schrie wie im Kriminalroman: „Hände aus den Taschen!“ Ein anderer Beamter griff von der Seite zu und riss Hitlers Arm weg. Der angegriffene Polizeimajor ist zehn Jahre später im Konzentrationslager Dachau ermordet worden .( Also gleich1933, wie Göring angekündigt hatte. Anm. d. Red.)
Hitler stieg jetzt auf das Podium … und schrie: „ Die nationale Revolution ist ausgebrochen. Niemand darf den Saal verlassen. Wenn nicht sofort Ruhe ist, werde ich ein Maschinengewehr auf die Galerie stellen lassen. Die Kasernen der Reichswehr und Landespolizei sind besetzt – dies war falsch – Reichswehr und Landpolizei rücken bereits unter den Hakenkreuzfahnen heran.“ Dann rief er Kahr sowie Lossow und Seißer, die in der Nähe saßen, in gebieterischem Tone zu, sie sollten ihm folgen. (…) Die Stimmung wurde so bedrohlich, dass Göring aufs Podium stieg und mit Donnerstimme versicherte, der Anschlag solle kein feindseliger Akt sein ,sondern der Beginn der nationalen Erhebung.(…) Er schloss: „Im Übrigen können Sie zufrieden sein, Sie haben ja hier Ihr Bier!“
„Morgen Sieger oder tot“.
Inzwischen begann Hitler in einem Nebenzimmer die Verhandlungen mit den Worten: „Niemand verlässt lebend das Zimmer ohne meine Erlaubnis!“ Dann redete er auf die kalt Abgeschreckten glühend los: „ Meine Herren, die Reichsregierung ist bereits gebildet und die bayrische Regierung ist abgesetzt. Bayern wird das Sprungbrett für die Reichsregierung, in Bayern muss ein Landverweser sein. Pöhner wird Ministerpräsident mit diktatorischen Vollmachten und Sie, Herr von Kahr, werden Landverweser.“ Dann stieß er kurz und fetzenartig hervor: „Reichsregierung Hitler, nationale Armee Ludendorff, Seißer Polizeiminister.“ Der „Trommler“ hatte die Maske abgeworfen.
Als er keine Antwort bekam, hob er die Pistole und rief leidenschaftlich:
„Ich weiß, dass den Herren das schwerfällt. Der Schritt muss aber gemacht werden. Ich will den Herren ja nur erleichtern, den Absprung zu finden. Jeder von Ihnen muss den Platz einnehmen, auf den er gestellt wird; tut er das nicht, so hat er keine Daseinsberechtigung.“ Als die Drei in finsterem Schweigen verharrten, fingen seine Nerven an, zu zappeln: „Sie müssen,verstehen Sie, Sie müssen einfach mit mir kämpfen, mit mir siegen oder mit mir sterben, wenn die Sache schief geht. Vier Schuss habe ich in meiner Pistole, drei für meine Mitarbeiter, wenn sie mich verlassen, die letzte Kugel für mich.“ Er setzte sich die Pistole an die Schläfe und sprach feierlich: „ Wenn ich nicht Morgen Sieger bin, bin ich ein toter Mann.“
Herr von Kahr war der Situation gewachsen. Er fasste Hitlers Drohung als richtiggehenden Mordanschlag auf und sagte das Anständigste, was in diesem Augenblick gesagt werden konnte: „Herr Hitler, Sie können mich totscheißen lassen, Sie können sich selber totschießen. Aber Sterben oder Nichtsterben ist für mich bedeutungslos“ – er wollte sagen, dass er sich nicht durch die Drohung mit einer Kugel einen Entschluss abzwingen lasse. Vor diesem Misserfolg versagten Hitlers Nerven einen Augenblick, und das Ergebnis war eine subalterne Taktlosigkeit. Während Kahr von Sterben und Nichtsterben sprach, brüllte er plötzlich seinen Begleiter Graf an: „Maßkrug her!“ (…)
Der, auf den es Hitler eigentlich abgesehen hatte, der General von Lossow, schwieg. Aber Seißer redete jetzt. Er warf Hitler vor, dass er sein Ehrenwort gebrochen habe. Schon wieder eines von einem halben Dutzend Ehrenwörtern! In der Tat, Hitler hatte Seißer öfters versprochen keine Putsch gegen die Polizei zu machen. (…) Gleichzeitig betrat Ludendorff mit Scheubner-Richter das Zimmer; er sah sich nicht um, fragte nach nichts, sondern begann zu reden: er sei ebenso überrascht wie alle, aber es handele sich um eine große nationale, völkische Sache, und er könne den drei Herren nur raten mitzutun. Sie möchten in seine Hand einschlagen.
Das Ehrenwort.
Und nun muss Hitler noch eine peinliche Szene über sich ergehen lassen – schon die dritte dieser Art an einem Abend. Unter den Gästen ist auch der Innenminister Dr.Schweyer. Der tritt auf Hitler zu und spricht – aber lassen wir ihn das besser mit seinen eigenen Worten sagen, so wie er sie als Zeuge vor dem Staatsanwalt gesprochen hat; der Untersuchungsausschuss des bayrischen Landtags hat im April 1928 diese Aussage aus den Akten ans Licht gezogen. Schweyer berichtet:
„Mich würdigte Hitler keines Blickes. Ich trat daraufhin auf ihn zu, klopfte ihm mit dem Finger auf die Brust und sagte in nachdrucksamem Ton: „ Jetzt will ich Ihnen aber etwas sagen, Herr Hitler. Erinnern sie sich noch, was Sie im Sommer vorigen Jahres in meinem Büro aus freien Stücken erklärt haben? Wissen Sie es noch?“ Darauf geriet Hitler in eine gewisse Verlegenheit, ohne eine Antwort zu geben.“
Ein tapferer Man, dieser graubärtige, leicht schwäbelnde Dr. Schweyer. Er meinte natürlich das berühmte Ehrenwort, keinen Putsch zu machen. Ringsum sind sechshundert Begeisterte, er aber klopft dem Sieger des Abends wie ein zorniger Schulmeister auf die Brust und sagt ihm ins Gesicht, dass sein Sieg nur ein Wortbruch ist. Das Ganze ist aber tief sinnbildlich. Hitler bedeutet in jeder Form den Untergang dieser verwehenden Schicht von Reserveoffizieren und Korpsstudenten. Er stellt, der Halbprolet, durch seinen Aufstieg ihre gesellschaftliche Hierarchie auf den Kopf, zerstört die Sicherheit ihres Eigentums und macht ihre Ehrenwörter lächerlich, indem er sie rücksichtslos als Mittel benutzte, um seinen Prozess gegen die bürgerliche Gesellschaft zu gewinnen. Aber diesmal fand er Gegenspieler, die auf Wortbruch mit Wortbruch antworteten und das Spiel gewannen.
Wütende Generäle.
Die weitläufige Entstehungsgeschichte von Kahrs und Lossows Gegenreaktion soll hier nicht erzählt werden. (…) Der ganze Zorn der Offiziere gegen die Freischärler brach jetzt los; die Generäle empfanden die Bürgerbräuszene einfach als Schmach der Armee. Seit der Pistolenszene war Hitler nach herkömmlichem militärischem Ehrbegriff ein Mann, den man mit dem Seitengewehr niederstechen konnte. Das hatte der ehemalige Gefreite nicht bedacht.
Noch bevor sie sich mit Lossow verständigen konnten, waren Danner, General Kreß von Krtessenstein und Major von Loeb zusammengetreten und hatten dafür gesorgt, dass die Truppen abwehrbereit standen. Sie hätten sie wahrscheinlich sogar gegen Lossow marschieren lassen, wenn dieser sich nicht fügte. Aber inzwischen war außerhalb Bayern etwas geschehen, wovor der ganze Spuk aus dem Bürgerbräu zerstob. Es wurde nämlich bekannt, dass der Reichspräsident Ebert dem General von Seeckt( Chef der Reichswehr. Anm. d. Red.) die ganze vollziehende Gewalt im Reich übertragen hatte. Seeckt ließ in München telegraphisch wissen, dass er den Putsch niederschlagen werde.
Die fehlenden vierundzwanzig Stunden.
In der Nacht zum 9. November ging Hitler durch ein Dampfbad von Jubel, Verzweiflung, Trotz und Hoffnung. (…) Was an den verschiedenen Ecken der Stadt biwakierte, auf den Landstraßen marschierte, auf Lastautos heranfuhr, das waren mehrere Tausend. Zahlenmäßig war die Truppenzahl des Kampfbundes an der entscheidenden Stelle weit stärker als die des Staates. Dem Kampfbund fehlten auch nicht Maschinengewehre und Kanonen, sondern vierundzwanzig kostbare Stunden. Darum hatte er die Kasernen nicht besetzen ,die Bahnhöfe nicht absperren, die Telegraphenämter nicht unter Kontrolle nehmen können, obwohl für all das genaue Pläne ausgearbeitet waren.
Der Marsch zur Feldherrnhalle.
(…) Gegen elf Uhr traten Hitler und Ludendorff mit mehreren tausend Leuten ihren „Erkundungsmarsch“ in die Stadt an. Um besser erkunden zu können, trug man Gewehre über der Schulter, zum Teil mit aufgepflanztem Bajonett; Hinter den ersten Reihen fuhr ein Auto mit Maschinengewehren. Der Plan des Zuges war in erster Linie, die Stadt moralisch zu erobern und die Gegner in die Winkel zu scheuchen: jedoch war man auch auf Kampf gefasst. Falls die Revolutionäre ganz genau wissen wollten, was die Regierung beabsichtigte, hätten sie ihren Erkundungsmarsch nicht mehr zu machen brauchen. Denn an den Häuserwänden klebten Plakate:
„Trug und Wortbruch ehrgeiziger Gesellen haben aus einer Kundgebung für nationales Wiedererwachen eine Szene widerwärtiger Vergewaltigung gemacht. Die mir, General von Lossow und Oberst Seißer mit vorgehaltenem Revolver abgepressten Erklärungen sind null und nichtig. Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei sowie die Kampfverbände „Oberland“ und „Reichsflagge“ sind aufgelöst.“ von Kahr . Generalstaatskommissar
An der Spitze des Zuges gingen Ludendorff und Hitler, Dr. Weber, Scheubner-Richter und Kriebel; in der zweiten Reihe Göring. Der Zug traf an der Isarbrücke auf Sperrketten der Landespolizei. Die senkten die ‚Gewehrläufe nicht; würden sie schießen? Da trat Göring aus den Reihen nach vorn, legte die Hand an die Mütze und sagte: „ Der erste Tote auf unserer Seite bedeutet Erschießung sämtlicher Geiseln, die wir in Händen haben.“ (…) Die Polizisten schossen nicht. Im Nu waren sie entwaffnet, bespuckt und geohrfeigt.(…)
Der Zug marschierte dann durch die innere Stadt. (…) Ludendorff führte, wie er später angab, ohne einen bestimmten Plan; nur die allgemeine Richtung schwebte ihm vor.
Streicher greift ein.
Hitler schritt zwischen Ludendorff und Scheubner-Richter, dessen Arm er untergefasst hatte. In der rechten Hand hielt er ein Pistole und rief, unmittelbar vor dem Schießen, den Polizisten zu: „Ergebt Euch!“ In diesem Augenblick …aber hier sollen die Augenzeugen sprechen. Der Zeuge Friedrich, der den Zug als Zuschauer begleitete, sah folgendes:
„Hitler trug in der rechten Hand eine Pistole offen und schussbereit. Ein Nationalsozialist, der in der Hand ebenfalls eine schussbereite Pistole trug, sprang aus der Umgebung Hitlers vor den Zug, ging zu einem Beamten der Landespolizei und sprach kurz mit ihm. In diesem Augenblick fiel ein Schuss. Da dieser Nationalsozialist und Hitler eine Pistole schussbereit in der Hand trugen, nehme ich an, dass der erste Schuss entweder von Hitler oder von dem vorgesprungenen Nationalsozialisten abgegeben wurde.“
Hier beginnt eine Kette merkwürdiger, ja unheimlicher Vermutungen. Sollte also tatsächlich Hitler oder jener Nationalsozialist zuerst geschossen haben? Friedrich glaubte es, denn: „Der erste Schuss war bestimmt ein Pistolen- oder Revolverschuss“ – die Landespolizei hatte Karabiner.(…) Dr. Weber und der Zeuge haben beide von verschiedenen Punkten aus dasselbe gesehen. Aber noch ein dritter Zeuge sah, und dieser weiß auch, wer der Nationalsozialist war. Der Zugteilnehmer Robert Kuhn berichtet:
„Streicher sprang einige Schritte vor und sprach mit einem Beamten. Dieser winkte aber ab. Streicher wurde von einem Beamten der Karabiner auf die Brust gesetzt. Dann krachte ein Schuss…“ (…)
Kein Zufall in Gestalt eines unbekannten SA-Mannes. Keine Nebenfigur. Der Strahl der Verantwortung trifft niemanden mit voller Entschlossenheit, aber die Wolke des Verdachts sammelt sich m dichtesten über zwei Häuptern: Hitler und Streicher.
Der Zusammenbruch.
Nun rollen Salven auf beiden Seiten. Als erster auf der Seite des Kampfbundes wird Scheubner-Richter tödlich getroffen; stürzend renkte er Hitlers Arm aus. Auch Hitler lag auf der Erde; ob von Scheubner-Richter mitgerissen, ob nach Soldatengewohnheit Deckung suchend, wird er selbst kaum zuverlässig angeben können.(…) Vorwürfe möge ihm machen, wer mit gutem Gewissen von sich behaupten kann, dass erstehen geblieben wäre. Aber wenige Minuten später wird Hitler sich wirklich so benehmen, dass er Vorwürfe verdient.(…) Der Feuerhagel hatte in der engen Straße entsetzlich gewirkt. Vierzehn tote lagen auf dem Pflaster.
Hitlers Flucht.
Und dann schweigt das Feuer. Da erhebt sich ein Mann… aber wiederum sollen die Augenzeugen das Wort haben. Der praktische Arzt, Dr. Walter Schulz Nationalsozialist, Teilnehmer am Zuge, der mit den anderen auf der Erde lag, sagte in der Voruntersuchung aus:
„Ich nahm wahr, dass Hitler der Erste war, der aufstand und sich, scheinbar am Arm verwundet, nach rückwärts begab….“
Auch der zweite Zeuge ist Arzt, Dr. Karl Gebhardt:
„Beim Schießen fuhr plötzlich in die Menge hinein ein gelbes Automobil, auf dem ein Nationalsozialist stand und rief: Wo ist Hitler? Dr. Schulz, der direkt in dem Haufen lag, anscheinend neben Hitler, rief: Er ist hier! Und schon war Hitler in dem Automobil, das mit ihm und Dr. Schulz davonfuhr.“ (…)
Das Gesamturteil über Hitlers Putsch muss lauten: gutes Spiel und schlechte Arbeit. Der erste Fehler war das Losschalgen ohne genügende militärische Vorbereitung, der Zweite die psychologische Fehlbehandlung des Reichswehrkommandeurs, der Dritte der mangenlde Mut am 9. November. Selbst ein so tapferer Soldat wie röhm ließ sich vom Gegner einkreisen, weil er es nicht übers Herz brachte, den ehemaligen Kameraden mit Maschinengewehren zu drohen. Ludendorff wollte überhaupt nicht kämpfen, sondern zaubern. Als sogar Hitler vor dem Zug zaghaft wurde: „Man wir auf uns schießen“, wusste Ludendorff bl0ß eine heroische und gedankenlose Antwort: „Wir marschieren!“
Für die NSDAP ist der blutige Tag trotz allem ein Segen gewesen. Er schnitt sie endgültig aus dem Leibe der Reichswehr heraus. So wurde der 9. November 1923 ihr eigentlicher Geburtstag.
02. November 2012 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel"
Die Fackel
Nr. 259 – 60 WIEN, 13. JULI 1908 X. JAHR S .35 -56
Tagebuch.
Der moderne Geschmack braucht die ausgesuchtesten Komplikationen, um zu entdecken, dass ein Wasserglas in der Rundform am bequemsten sei. Er erreicht das Sinnvolle auf dem Weg der Unbequemlichkeiten. Er arbeitet im Schweiße seines Angesichts, um zuzugeben, dass die Erde kein Würfel, sondern eine Kugel sei. Dies Indianerstaunen der Zivilisation über die Errungenschaften der Natur hat etwas Rührendes.
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Auch die Dummheit hat Ehre im Leib, und sie wehrt sich sogar heftiger gegen den Spott, als die Gemeinheit gegen den Tadel. Denn diese weiß, dass die Kritik recht hat, jene aber glaubt’s nicht.
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In einem geordneten geistigen Haushalt sollte ein paar Mal im Jahr ein gründliches Reinemachen vor der Schwelle des Bewusstseins stattfinden.
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Schönheitsfehler sind die Hindernisse, an denen sich die Bravour des Eros bewährt. Bloß Weiber und Ästheten machen eine kritische Miene.
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Wer zu den Dingen in seinem Zimmer eine persönliche Beziehung gewonnen hat, rückt sie nicht gern von der Stelle. Ehe ich ein Buch aus meiner Bibliothek leihe, kaufe ich lieber ein neues. Sogar mir selbst, dem ich auch nicht gern ein Buch aus meiner Bibliothek leihe. Ungelesen an Ort und Stelle, gibt es mir mehr als ein gelesenes, das nicht da ist.
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Es wäre eine interessante Statistik: Wie viel Leute durch Verbote dazu gebracht werden, sie zu übertreten. Wie viel Taten die Folgen der Strafen sind. Wie viel Menschen etwa von der Altersgrenze, die die Sexualjustiz festgesetzt hat, gereizt werden, sie zu überschreiten. Interessant wäre es, herauszubringen, ob mehr Kinderschändungen trotz oder wegen der Altersgrenze begangen werden.
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Die Strafen dienen zur Abschreckung derer, die keine Sünden begehen wollen.
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Es verletzt in nichts den Respekt vor Schopenhauer, wenn man die Wahrheiten seiner kleinen Schriften manchmal als Geräusch empfindet. Wie plastisch wirkt in seiner Klage das Türenzuschlagen! Man hört förmlich, wie offene Türen zugeschlagen werden.
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Ein Soldatenzeichner, dessen Figuren Habtacht vor dem Betrachter stehen. Und wenn er eine Armee malte, es wären lauter Einzelne. Ein anderer malt einen Soldaten und man sieht die Armee.
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Auf den Bildern derer, die ohne geistigen Hintergrund gestalten und den Nichtkenner durch eine gewisse Ähnlichmacherei verblüffen, sollte der Vermerk stehen: Nach der Natur kopiert. Hätten sie ein Wachsfigurenkabinett zu zeichnen, so wüsste man zwischen den Figuren und den Besuchern nicht zu unterscheiden.
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Mit einem Blick ein Weltbild erfassen, ist Kunst. Wie viel doch in ein Auge hineingeht!
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Weh dem armen Mädchen, das auf dem Pfad des Lasters strauchelt!
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Er war so eifersüchtiger Natur, dass er die Qualen des Mannes, den er betrog, empfand und der Frau an die Gurgel fuhr.
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Sich im Beisammensein mit einer Frau vorzustellen, dass man allein ist — solche Anstrengung der Phantasie ist höchst ungesund.
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Passende Wüste für Fata morgana gesucht.
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Der Philosoph denkt aus der Ewigkeit in den Tag, der Dichter aus dem Tag in die Ewigkeit.
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Welch sonderbarer Aufzug! Sie geht hinter ihm, wie eine Leiche hinter einem Leidtragenden.
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In zweifelhaften Fällen entscheide man sich für das Richtige.
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Wie unperspektivisch die Medizin die Symptome einer Krankheit beschreibt! Sie passen immer auch zu den eingebildeten Leiden.
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Wenn ein Künstler Konzessionen macht, so erreicht er oft nicht mehr als der Reisende, der sich im Ausland durch gebrochenes Deutsch verständlich zu machen hofft.
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Wie unwesentlich und ungegenwärtig dem Mann das Geschlechtliche ist, zeigt sich darin, dass selbst die Eifersüchtigen ihre Frauen auf Maskenbällen sich frei bewegen lassen. Sie haben vergessen, wie viel sie sich ehedem mit den Frauen anderer dort erlauben konnten, und glauben, dass seit ihrer Verheiratung die allgemeine Lizenz aufgehoben sei. Ihrer Eifersucht genügen sie durch ihre Anwesenheit. Dass diese ein Sporn ist und kein Hemmschuh, sehen sie nicht. Keine eifersüchtige Frau würde ihren Mann auf die Redoute gehen lassen.
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Das kurze Gedächtnis der Männer erklärt sich aus ihrer weiten Entfernung vom Geschlecht, welches in der Persönlichkeit verschwindet. Das kurze Gedächtnis der Frauen erklärt sich aus ihrer Nähe zum Geschlecht, in welchem die Persönlichkeit verschwindet.
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Wenn ein Vater, der aus Liebe geheiratet hat, seinem Sohn eine Eheschließung verbietet und die Mutter sie befürwortet, so geht es durchaus mit natürlichen Dingen zu. Denn die Mutter hat sich genug Natur bewahrt, um eine Kupplerin aus Gefühl zu sein, und dem Vater ist nichts übrig geblieben als die Fähigkeit, die Rentabilität menschlicher Verhältnisse abzuschätzen.
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Jemand gab zu, dass Hetären Genies entzünden: aber Mütter bestünden als unbedingter Wert. Das ist wahr, aber man hat immer das Recht, den Acker oder die Landschaft vorzuziehen.
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Es kommt schließlich nur darauf an, dass man überhaupt über die Probleme des erotischen Lebens nachdenkt. Widersprüche, die man zwischen seinen eigenen Resultaten finden mag, beweisen nur, dass man in jedem Falle recht hat. Und die Widersprüche zwischen den eigenen und den Resultaten, zu denen andere Denker gelangt sind, entfernen uns nicht so weit von diesen, wie uns der Abstand von solchen entfernt, die überhaupt nicht über die Probleme des erotischen Lebens nachgedacht haben.
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Nicht immer muss, wer an der Seele krank ist, den Unterleibsspezialisten aufsuchen, und nicht immer braucht man mit einer Darmfistel zum Psychologen zu gehen. Im Allgemeinen sind aber die Kompetenzen zwischen den Rationalisten des Seelenlebens und den Mystagogen des Unterleibes schwer abzustecken.
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Daß eine Sache künstlerisch ist, muss ihr nicht unbedingt beim Publikum schaden. Man überschätzt das Publikum, wenn man glaubt, es nehme die Vorzüglichkeit der Form übel. Es beachtet die Form überhaupt nicht und nimmt getrost auch Wertvolles in Kauf, wenn nur der Stoff zufällig einem gemeinen Interesse entspricht.
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Man glaubt mit einem Mann zu sprechen und plötzlich fühlt man, dass sein Urteil aus dem Uterus kommt. Das beobachtet man häufig, und man sollte so gerecht sein, die Menschen nicht nach den physiologischen Merkmalen, die zufällig da sind, zu unterscheiden, sondern nach denen, die fehlen.
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Daß Bäcker und Lehrer streiken, hat einen Sinn. Aber die Aufnahme der leiblichen und geistigen Nahrung verweigern, ist grotesk. Wenn es nicht etwa deshalb geschieht, weil man sie für verfälscht hält. Die lächerlichste Sache von der Welt ist ein Bildungshungerstreik. Ich stimme schon für die Sperrung der Universitäten, aber sie darf nicht durch einen Streik herbeigeführt werden. Sie soll freiwillig gewährt, nicht ertrotzt sein.
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Den Frauen gegenüber ist man durch die Gesellschaftsordnung immer nur darauf angewiesen, entweder Bettler oder Räuber zu sein.
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Die gefährlichsten Literaten sind die, denen zufällig etwas Fremdes angeflogen ist und die nichts dafür können, dass sie nicht immer originell sind. Da ist mir ein ehrlicher Plagiator viel lieber.
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Wenn ein Wagen rollt, legt der Hund trotz längst erkannter Aussichtslosigkeit immer wieder seine prinzipielle Verwahrung ein. Das ist reiner Idealismus, während die Unentwegtheit des liberalen Politikers den Staatswagen nie ohne eigensüchtigen Zweck umbellt.
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Die Einteilung der Menschheit in Sadisten und Masochisten ist beinahe so albern wie die Einteilung in Esser und Verdauer. Von Abnormitäten muss man in jedem Fall absehen, es gibt ja auch Leute, die besser verdauen als essen und umgekehrt. Und so wird man, was den Masochismus und den Sadismus betrifft, getrost behaupten können, dass ein gesunder Mensch über beide Perversitäten verfügt. Scheußlich an der Sache sind bloß die Worte, besonders entwürdigend jenes, das sich von dem deutschen Romanschriftsteller herleitet, und es ist schwer, sich von den Bezeichnungen nicht den Geschmack an den Dingen verderben zu lassen. Trotzdem gelingt es einem Menschen mit künstlerischer Phantasie, vor einer echten Frau zum Masochisten zu werden und an einer unechten zum Sadisten. Man brutalisiert dieser die gebildete Unnatur heraus, bis das Weib zum Vorschein kommt. Die es schon ist, gegen die bleibt nichts mehr zu tun übrig, als sie anzubeten.
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Gewiss, der Künstler ist ein Anderer. Aber gerade deshalb soll er es in seinem Äußeren mit den anderen halten. Er kann nur einsam bleiben, wenn er in der Menge verschwindet. Lenkt er die Betrachtung durch eine Besonderheit auf sich, so macht er sich gemein und führt die Verfolger auf seine Spur. Es ist ja auch töricht, mit der Extraausgabe einer Zeitung in ein Lokal zu treten, denn man lockt sogleich hundert Dummköpfe auf sein Terrain. Je mehr den Künstler alles dazu berechtigt, ein anderer zu sein, um so notwendiger ist es, dass er sich der Tracht der Durchschnittsmenschen als einer Mimikry bediene. Auffälliges Aussehen ist die Zielscheibe der Betrunkenheit. Diese, sonst verlacht, dünkt sich neben langhaariger Exzentrizität noch planvoll und erhaben. Über den Mann in der Narrenjacke lacht der Betrunkene, über den der Pöbel lacht. Sich absichtlich verwahrlosen, um sich vom Durchschnitt abzuheben, schmutzige Wäsche als ein Ehrenzeichen für Kunst und Wissenschaft tragen, über die Verkehrtheit der Gesellschaftsordnung eine ungekämmte Mähne schütteln — ein Vagantenideal, das längst von Herrschaften abgetragen ist und heute jedem Spießbürger erreichbar! »Mutter Landstraße« will von solchen Söhnen nichts mehr wissen; denn auch sie ist heute schon gepflegter. Die Bohême macht den Philistern nicht mehr das Zugeständnis, sie zu ärgern, und die wahren Zigeuner leben nach der Uhr, die nicht einmal gestohlen sein muss. Armut ist noch immer keine Schande, aber Schmutz ist keine Ehre mehr.
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Fechten und Keulenschwingen sind trügerische Entfettungskuren. Sie schaffen Hunger und Durst. Was den meisten Menschen abgeht und was ihnen unfehlbar helfen könnte, ist die Möglichkeit, geistige Bewegung zu machen.
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Ein sonderbarer Ehrgeiz, einem Mädchen der erste zu sein. Und gerade das nennt sich Genießer und behandelt eine Frau wie einen beliebigen Labetrunk. Daß auch Frauen Durst haben, wollen sie nicht gelten lassen. Aber jedenfalls würde ich mir die Flasche von einem Küfer öffnen lassen und dann erst trinken.
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In männermordenden Kämpfen kann man manchmal einer Frau einen Blumenstrauß zuwerfen, ohne dass ein Zuschauer es merkt. Aber bei der zweiten Lektüre offenbart sich dem Feingefühl ein Pamphlet als Liebesbrief.
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Das Christentum hat die erotische Mahlzeit um die Vorspeise der Neugier bereichert und durch die Nachspeise der Reue verdorben.
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Es ist ein schmerzliches Erlebnis, zu sehen, wie eine lebensfähige Frau ihren faulen Frieden mit der Welt macht: Sie verzichtet auf ihre Persönlichkeit und bekommt dafür die Galanterien zugestanden.
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Kinder spielen Soldaten. Das ist sinnvoll. Warum aber spielen Soldaten Kinder?
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Nichts kränkt den Pöbel mehr, als herablassend zu sein, ohne heraufzulassen.
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Beim Vergnügen, das einer am Betrug empfindet, ist die Schönheit der Frau eine angenehme, wenn auch nicht notwendige Begleiterscheinung.
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Der ist ein unkluger Berater einer Frau, der sie vor Gefahren warnt.
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Aus purer Romantik nimmt sich manche Schöne einen Handeljuden. Denn sie hofft immer, dann werde der erotische Raubritter auch nicht mehr weit sein.
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Praterfahrt: Das Pferd hat die Welt vor sich. Dem Kutscher ist die Welt so groß wie ein Pferdehinterer. Dem Kavalier ist die Welt so groß wie der Rücken des Kutschers. Und dem gaffenden Volk, dem ist die Welt nur so groß wie das Gesicht des Kavaliers.
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Drei Stufen der Zivilisation gibt es: Wenn in einem Anstandsorte überhaupt keine Tafel angebracht ist. Wenn eine Tafel angebracht ist, auf der die Weisung steht, dass die Kleider vor dem Verlassen der Anstalt in Ordnung zu bringen sind. Wenn die Weisung ausdrücklich bemerkt, dass es aus Schicklichkeitsrücksichten zu geschehen habe. Auf dieser höchsten Stufe der Zivilisation stehen wir.
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Die Bildung schlottert an seinem Leib wie ein Kleid an einem Haubenstock. Bestenfalls sind solche Gelehrte Probiermamsellen des Fortschritts.
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Wem »glauben« nicht mehr bedeutet als »nichts wissen«, der mag über die Dogmen demonstrativ den Kopf schütteln. Aber es ist jämmerlich, sich zu einem Standpunkt erst »durchringen« zu müssen, bei dem ein Hilfslehrer der Physik längst angelangt ist.
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Es gibt zwei Arten von Schriftstellern. Solche, die es sind, und solche, die es nicht sind. Bei den ersten gehören Inhalt und Form zusammen wie Seele und Leib, bei den zweiten gehören Inhalt und Form zusammen wie Leib und Kleid.
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Unverstandene Frauen gibt es nicht. Sie sind bloß die Folge einer Wortverwechslung, die einem Feministen passierte, weil sie nämlich nicht verstanden, sondern begriffen sein wollen. Es gibt also doch unverstandene Frauen.
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So lange die Frauenrechtsbewegung besteht, sollten es sich die Männer wenigstens zur Pflicht machen, die Galanterie einzustellen. Man kann es heute gar nicht riskieren, einer Frau auf der Straßenbahn Platz zu machen, weil man nie wissen kann, ob man sie dadurch nicht in ihren Ansprüchen auf den gleichen Anteil an den Unannehmlichkeiten des Daseins beleidigt. Dagegen sollte man sich gewöhnen, gegen die Feministen in jeder Weise ritterlich und zuvorkommend zu sein.
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Ob Goethe oder Schiller bei den Deutschen populärer sei, ist ein alter Streit. Und doch hat Schiller mit dem Wort »Franz heißt die Kanaille« nicht entfernt jene tiefgreifende Wirkung geübt, die dem Satz, den Goethes Götz dem Hauptmann zurufen lässt, dank seiner allgemeinen Fassung beschieden war. Da seit Jahrzehnten kaum ein Gerichtstag vergeht, ohne dass der Bericht von dem Angeklagten zu sagen wüsste, er habe an den Kläger »die bekannte Aufforderung aus Goethes Götz« gerichtet, so ist es klar, dass Goethes Nachruhm bei den Deutschen fester gegründet ist. Wie das Volk seine Geister ehrt, geht aber nicht nur daraus hervor, dass es in Goethes Werken sofort die Stelle entdeckt hat, die der deutschen Zunge am schmackhaftesten vorkommt, sondern dass heute keiner mehr so ungebildet ist, die Redensart zu gebrauchen, ohne sich dafür auf Goethe zu berufen.
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Der Momo ist ein unentbehrlicher pädagogischer Behelf im deutschen Familienleben. Erwachsene schreckt man damit, dass man ihnen droht, der Gerichtspsychiater werde sie holen.
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Wenn man bedenkt, dass dieselbe technische Errungenschaft der Verbreitung der »Kritik der reinen Vernunft« und den Berichten über eine Reise des Wiener Männergesangsvereines gedient hat, dann weicht aller Unfriede aus der Brust und man preist die Allmacht des Schöpfers.
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Wie viel Stoff hätte ich, wenn keine Ereignisse gäbe!
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Was doch die soziale Sitte aus den Frauen machen kann! Nur ein Spinnweb liegt über dem Krater, aber es gibt nicht nach.
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Wenn eine Frau Gescheitheiten sagt, so sage sie sie mit verhülltem Haupt. Aber selbst dann ist das Schweigen eines schönen Antlitzes noch immer anregender.
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Ein selbstbewusster Künstler hätte dem Fiesko zugerufen: Ich habe gemalt, was du nur tatest!
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Sire, geben Sie wenigstens bis auf Widerruf freiwillig eröffnete Gedankengänge!
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Polonia est omnis divisa in partes tres.
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Ein Zitatenprotz leitete einen Nekrolog mit den Worten ein: De mortuis nil admirari.
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Sie hatte immerhin noch so viel Schamgefühl, dass sie errötete, wenn man sie bei keiner Sünde ertappte.
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In Berlin wächst kein Gras und in Wien verdorrt es.
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Wie hier alles doch den Flug lähmt! Aus Einfliegern werden Einsiedler.
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Es ist eine schreckliche Situation, dazuliegen, wenn die Pferdehufe der Dummheit über einen hinweggegangen sind, und weit und breit keine Hilfe!
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An einem Wintersonntag nachmittags in einem Wiener Kaffeehause, eingepfercht zwischen kartenspielenden Vätern, kreischenden Weibern und witzblattlesenden Kindern, erfasst einen ein solches Gefühl der Einsamkeit, dass man sich nach dem wechselvollen Leben sehnt, das um diese Stunde an der Adventbai herrschen mag.
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O über die gemeine Geschäftsmäßigkeit der Berliner Prostitution! Der Wiener ist gewohnt, für drei Gulden seelische Hingabe und das Gefühl des Alleinbesitzes zu verlangen.
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Ich kannte einen Mann, der fuhr beim Sprechen mit dem Finger in die Nase und nicht einmal in seine eigene.
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So wie es immer noch neue Gesichter gibt, wiewohl sich der Inhalt der Menschen wenig unterscheidet, so muss es bei analogem Gedankenmaterial immer noch neue Sätze geben. Es kommt eben auch da auf den Schöpfer an, der die Fähigkeit hat, die leiseste Nuance auszudrücken.
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Die einzige Konzession, zu der ich mich etwa noch herbeiließe, wäre die, mich so weit nach den Wünschen des Publikums zu richten, dass ich das Gegenteil tue. Aber ich tue es nicht, weil ich keine Konzessionen mache und eine Sache selbst dann schreibe, wenn sie das Publikum erwartet.
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In der literarischen Arbeit finde ich einen Genuss und der literarische Genuss wird mir zur Arbeit. Um das Werk eines andern Geistes zu genießen, muss ich mich erst kritisch dazu anstellen, also die Lektüre in eine Arbeit verwandeln. Trotzdem werde ich noch immer lieber und leichter ein Buch schreiben als lesen.
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Der wahrhaft und in jedem Augenblick produktive Geist wird zur Lektüre nicht leicht anstellig sein. Er verhält sich zum Leser wie die Lokomotive zum Vergnügungsreisenden. Auch fragt man den Baum nicht, wie ihm die Landschaft gefällt.
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Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen?
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Einen Roman zu schreiben, stelle ich mir als ein reines Vergnügen vor. Nicht ohne Schwierigkeit ist es bereits, einen Roman zu erleben. Aber einen Roman zu lesen, davor hüte ich mich, so gut es irgend geht.
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Von einem Bekannten hörte ich, dass er durch Vorlesen einer meiner Arbeiten eine Frau gewonnen hat. Das rechne ich zu meinen schönsten Erfolgen. Denn wie leicht hätte ich selbst in diese Situation geraten können!
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Wohl hat das Grinzinger Bachl Beethoven zur Pastoral-Symphonie angeregt. Das beweist aber nichts für das Grinzinger Bachl und alles für Beethoven. Je kleiner die Landschaft, desto größer kann das Kunstwerk sein, und umgekehrt. Aber zu sagen, die Stimmung, die der Bach einem beliebigen Spaziergänger vermittelt, sei kongruent mit der Stimmung, die der Hörer von der Symphonie empfängt, ist töricht. Sonst könnte man ja auch sagen, der Geruch von faulen Äpfeln gebe uns Schillers Wallenstein.
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Ein Hungerleider, der Anarchist wird, ist ein verdächtiger Werber für die Sache. Denn wenn er zu essen bekommt, wird er eine Ordnungsstütze. Oft sogar ein Sozialdemokrat. Nichts ist dagegen sinnloser als sich über die Söhne besitzender Bürger lustig zu machen, die anarchistischen Ideen anhängen. Sie können immerhin Überzeugungen haben. Jedenfalls verdächtigt kein abgerissenes Gewand die geistige Echtheit ihrer kommunistischen Neigungen.
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Die Sozialdemokraten lassen den Armen klassenbewusst werden und überlassen ihn dann der Pein. Dieses Vorgehen nennen sie Organisierung.
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Dass Bildung der Inbegriff dessen sei, was man vergessen hat, ist eines der schönsten Worte. Darüber hinaus ist Bildung eine Krankheit und eine Last für die Umgebung des Gebildeten. Eine Gymnasialreform, die auf die Abschaffung der toten Sprachen mit der Begründung hinarbeitet, man brauche sie eben nicht fürs Leben, ist lächerlich. Brauchte man sie fürs Leben, so müsste man sie eher abschaffen. Sie dienen freilich nicht dazu, dass man sich einst in Rom oder Athen durch die Sehenswürdigkeiten durchfragen könne. Aber sie pflanzen in uns die Fähigkeit, uns diese vorzustellen. Die Schule dient nicht der Anhäufung praktischen Wissens. Aber Mathematik reinigt die Gehirnbahnen, und wenn man Jahreszahlen büffeln muss, die man nach dem Austritt sogleich vergisst, so tut man trotzdem nichts Unnützes. Verfehlt ist nur der Unterricht in der deutschen Sprache. Aber dafür lernt man sie durch das Lateinische, das noch diesen besonderen Wert hat. Wer gute deutsche Aufsätze macht, wird in der Regel ein Kommis. Wer schlechte macht und dafür im Lateinischen besteht, wird wahrscheinlich ein Schriftsteller. Was die Schule bewirken kann, ist, dass sie jenen Dunst von den Dingen schafft, in den eine Individualität hineingestellt werden kann. Weiß einer noch nach Jahren, aus welchem klassischen Drama und aus welchem Akt ein Zitat stammt, so hat die Schule ihren Zweck verfehlt. Aber fühlt er, wo es stehen könnte, so ist er wahrhaft gebildet und die Schule hat ihren Zweck vollauf erreicht.
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Nicht der Stock war abzuschaffen, sondern die Lehrer, die ihn schlecht anwenden. Die neue Gymnasialreform ist, wie alles humanitäre Flickwerk, ein Sieg über die Phantasie. Dieselben Lehrer, die bis nun nicht imstande waren, mit Hilfe des Katalogs zu einem Urteil zu gelangen, werden sich jetzt liebe voll in die Schülerindividualität versenken müssen. Die Humanität hat den Alpdruck der Furcht vor dem »Drankommen« beseitigt, aber das gefahrlose Schülerleben wird unerträglicher sein als das gefährliche. Zwischen vorzüglich und ganz ungenügend lag ein Spielraum für romantische Erlebnisse. Ich möchte den Schweiß um die Trophäen der Kindheit nicht von meiner Erinnerung wischen. Mit dem Stachel ist auch der Sporn dahin. Der Gymnasiast lebt ehrgeizlos wie ein lächelnder Weltweiser und tritt unvorbereitet in die Streberei des Lebens, die sein Charakter ehedem schadlos antizipiert hatte, wie der geimpfte Körper die Blattern. Er hatte früher alle Gefahren des Lebens bis zum Selbstmord verkostet. Anstatt dass man die Lehrer verjagt, die ihm das Spiel der Gefahren manchmal zum Ernst erwachsen ließen, wird jetzt der Ernst des geruhigen Lebens verordnet. Früher erlebten die Schüler die Schule, jetzt müssen sie sich von ihr bilden lassen. Mit den Schauern ist die Schönheit vertrieben und der junge Geist steht vor der Kalkwand eines protestantischen Himmels. Die Schülerselbstmorde, deren Motiv die Dummheit der Lehrer und Eltern war, werden aufhören, und als legitimes Selbstmordmotiv bleibt die Langeweile zurück.
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Die Humanität ist eine physikalische Enttäuschung, die mit Naturnotwendigkeit eintritt. Denn der Liberalismus stellt immerzu sein Licht unter eine Glasglocke und glaubt, dass es im luftleeren Raum brennen werde. Eher brennt es noch im Sturm des Lebens. Wenn der Sauerstoff verzehrt ist, geht das Licht aus. Aber glücklicherweise steht die Glocke im Phrasenwasser und dieses steigt in dem Augenblick, da die Kerze erloschen ist. Hebt man die Glocke ab, so verspürt man erst die wahren Eigenschaften des Liberalismus. Er stinkt nach Kohlenwasserstoff.
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Man meidet die Gesellschaft. So sucht sie einen auf »neutralem Boden« auf, setzt sich dreist in einem Lokal an unseren Tisch. Die Frage: »Sie gestatten doch«, die nie einen fragenden Ton hat, ist die ärgste Perfidie. Man wird mit der Schlinge der Konvention gefangen. Im Augenblick ist man in medias res eingeführt. Wird nach dem neuen Roman von Schnitzler gefragt, um seine Ansicht über das Wetter und um die Sommerpläne. Der Feind rechnet damit, dass man nicht grob werden, »kein Aufsehen« machen wird. Er ist gar nicht hochmütig, sondern behandelt mich wie seinesgleichen, und als ob ich zur guten Gesellschaft gehörte. Da sieht er sich plötzlich getäuscht; es zeigt sich, dass ich keine Manieren habe. Aber da ich eben nicht gewillt bin, meinen Bekanntenkreis zu erweitern, sondern zu verringern, so wird mir das in meinem weiteren Fortkommen nicht schaden.
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Wenn man mir persönliche Antipathien vorwirft, weil ich einen Literaten für einen Pfuscher erkläre, so unterschätzt man meine Bequemlichkeit. Ich werde doch nicht meine Verachtung strapazieren, um eine literarische Minderwertigkeit abzutun!
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Das Gesindel besichtigt »Sehenswürdigkeiten«. Noch immer wird also bloß gefragt, ob das Grab Napoleons würdig sei, vom Herrn Schulze gesehen zu werden, und noch immer nicht, ob Herr Schulze des Sehens würdig sei.
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Ich las eine Beschreibung, die E. Pötzl von einem niederösterreichischen Städtchen gab, und eine von der Ruhe der Inneren Stadt am Tage des Festzuges. Ich fand wieder, wie ungewöhnlich fein dieser Kleinkünstler ist, dessen Enge erst stört, wenn er ihrer bewusst wird und gegen die Außenwelt sich wendet. Bei seinen Wiener Schilderungen, die voll lyrischer Prosa sind, ist mir, als ob ein Einspännerross an der Hippokrene getrunken hätte; an seinen übrigen Sachen spürt man, dass der Musenquell in Böotien entspringt.
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P. A., der ein Fetischist der Frauenseele ist und den Frauenleib zu jenen Objekten rechnet, die man in der irdischen Ausstellung nur ansehen und nicht berühren darf, steht um einer Weisheit willen, die genug Humor hat, sich selbst in Frage zu stellen, trotz alledem über dem schreibenden Haufen. Wenn man den Durchschnitt zieht zwischen dem, was man ihn im Verkünderton tagtäglich stammeln lässt, und dem Kunstwert seiner beiläufigen lyrischen Betrachtung — deren feinste Proben er jetzt gesammelt hat —, so bleibt erst recht ein Original übrig. Kürzlich verkündete er freilich: »Eine getreue Frauenseele muss also mit einem Walle von Unnahbarkeit und Uneinnehmbarkeit, von Würde und Seelenadel geschützt, behütet und verteidigt sein, dass Don Juans Blick sich senkte und scheu zur Seite sich wendete! … Frauen, seiet so, dass der wilde Krieger vor dem Walle eures Tempels freiwillig umkehre! … Dann wird die Eifersucht, diese schrecklichste Erkrankung der Mannesseele, gebannt, verbannt, besiegt sein!« Was hat er denn?! Das ist ja durchaus vom Standpunkt des Besitzers gesprochen, der den weiblichen Seelenadel monopolisieren möchte, während der Wegnehmer ihn vielleicht so gut wie der bekannte Wanderer die Wiese empfindet. Aber andererseits — müsste der Dichter gewiss auch zugeben, dass die Uneinnehmbaren, die sich hinter Adel, Wall und Würde verschanzen, »perfide Heldenreizerinnen« sind. Und eine Anschauung, die die Wunschfähigkeit einer Gewünschten überhaupt nicht gelten lässt und alles Unheil vom Don Juan und nie von der Frauenseele erwartet, führt uns in eine ästhetische Puppenwelt, deren Friede von dem keuschen Blick des Betrachters abhängt. Wo bleibt da noch Raum für Eifersucht? Es genügt eine Weisung, die ausgestellten Gegenstände nicht zu berühren; und Erotik wäre die objektive Wertung einer Rückenlinie, einer Nasenform, einer Hand. Aber in unserer Welt werden die Puppen lebendig oder hysterisch. Je nach der Strenge der Vorschriften. Und manchmal hilft es dem Don Juan nicht, dass er ordnungsgemäß den Blick senkt und scheu zur Seite wendet. Schon hat die getreue Frauenseele den wilden Krieger beim Wickel, oder bei der Uniform. Er kehrt zum Tempel zurück, und alles ist verziehen. Erforderlichenfalls dient auch die Würde als Lockung und der Seelenadel als Lasso. Die Unnahbarkeit ist Annäherung und die Uneinnehmbarkeit Herausforderung. Vorläufig dürfte also der Vorschlag des Dichters nicht den gewünschten praktischen Erfolg erzielen. Und dass er in einem Buche erschienen ist, das den Titel führt »Felix Austria: Österreichische Dichter im Jubeljahre 1908«, ist nicht günstig. P. A. lässt sich besser repräsentieren als durch Rezepte zur Heilung der Eifersucht, und Felix Austria wird nicht heiraten, wenn sie sie befolgt.
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Der ständige Mitarbeiter eines militärischen Witzblattes: Der Clown in der Menage.
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Ich kann einen Festzug oder eine gewisse Sorte von Theaterstücken wirklich nur dann objektiv nach dem ästhetischen und kulturellen Wert beurteilen, wenn ich nicht dabei war. Sonst unterliege ich einer beliebigen Nervenwirkung, höre auf, kritisch zu sein und rede wie der Blinde von der Farbe. Wie leicht kann Musik oder Glockenläuten einen zur Duldung einer Geschmacklosigkeit bringen! Um mir also ein gerechtes Urteil zu bewahren, darf ich es gewissenhafter Weise nicht unterlassen, dem Schauspiel fernzubleiben.
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Die Gewalttätigkeit des Daseins und die Unmotiviertheit aller menschlichen Dinge geht einem nie so deutlich auf, wie wenn man das Malheur hat, in einem Wagen zu sitzen, der halten muss, weil ihn die Burgmusik umbrandet.
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Die populärsten Gesichter in Wien sind die zweier Heurigenwirte. In Überlebensgröße sind sie an jeder Straßenecke plakatiert, und ihr Ruhm hat sicher die Größe des Überlebens. So etwa haben sich die Deutschen die Köpfe ihrer Schiller und Goethe eingeprägt. Aber das österreichische Kulturniveau ist wahrlich ein höheres. Denn zu Schiller und Goethe besteht nur jene dekorative Beziehung, die das Geflunker von Bildung herstellt, während gewiss ein innerer Zusammenhang zwischen den Wienern und ihren Heroen besteht. Großväter werden einst aufhorchenden Enkeln erzählen, dass sie noch den Wolf in Gersthof gesehen haben, und Großmütter werden von der Erinnerung verjüngt sein, dass das Auge Hartwiegers auf ihnen geruht hat.
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Was ist alles Machtbewusstsein eines Nero, was ist aller Vernichtungsdrang eines Tschingiskhan, was ist die Machtvollkommenheit des jüngsten Gerichtes gegen das Hochgefühl eines Konzipisten der konskriptionsämtlichen Abteilung des magistratischen Bezirksamtes, der einen wegen Nichtfolgeleistung einer Vorladung zur Anmeldung behufs Veranlagung zur Bemessung der Militärtaxe zu einer Geldstrafe von zwei Kronen verurteilt!
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Viele Leute möchten mich persönlich kennen lernen. Wenn aber einer ein Beamter des magistratischen Bezirksamtes ist, so erreicht er es. Ich verkehre seit Jahren nur noch mit Beamten des magistratischen Bezirksamtes; habe aber wenig Anregung davon.
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Wer Gehirngymnastik treiben will, versuche das Gespräch einer Tafelrunde, dessen Entfernung von dem ursprünglichen Thema ihm an einem Punkt besonders auffällt, so schnell als möglich zu rekonstruieren. Man blättere in diesem Konversationslexikon und man wird einen Zickzackweg übersehen, an dessen Anfang und Ende Gegenstände sind, die einen an die drollige Zusammenhanglosigkeit der Aufschriften erinnern: Von Gotik bis Heizanlage und von Newton bis Pazifik.
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Im Kampf zwischen Natur und Sitte ist die Perversität eine Trophäe oder eine Wunde. Je nachdem, ob die Natur sie erbeutet oder die Sitte sie geschlagen hat.
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Wer Witz hat, kann nie einen Witz entlehnt haben, auch wenn dieser noch so bekannt wäre. Es kommt gerade hier auf das Gewordene an. Wer Zeuge der Geburt ist, kann an eine Unterschiebung nicht glauben, auch wenn das Kind aufs Haar einem fremden gliche.
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Den Witz eines Witzigen zitieren heißt bloß einen Pfeil aufheben. Wie er abgeschossen wurde, kann das Zitat nicht zeigen.
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Der Nachahmer verfolgt die Spuren des Originals, und hofft, irgendwo müsse ihm das Geheimnis der Eigenart aufgehen. Aber je näher er diesem kommt, um so weiter entfernt er sich von der Möglichkeit, es zu nützen.
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Nicht ob das Resultat originell, sondern ob man selbst dazu gelangt sei, darauf kommt es an. Also eigentlich auf den Kredit des Finders. Ich habe dies und das in mir gefunden und fand es nachträglich in Büchern. Da erkannte ich, dass es nur auf den Weg ankomme und nicht auf das Ziel. Und fand auch diesen Gedanken in Büchern.
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Zum Beispiel fiel mir auch ein: Schimpfworte sind nicht an und für sich zu verpönen. Nur wenn sie an und für sich stehen. Ein Stilist muss ein Schimpfwort so gebrauchen können, als ob es nie zuvor noch ein Kutscher gebraucht hätte. Die Unfähigkeit sucht ungewohnte Worte. Aber das Gewöhnlichste kann getrost verwendet werden, wenn es nur so gebracht wird, als ob es eben zum ersten Male gebracht würde. So kann eine Drohung mit Ohrfeigen nicht nur als der organische Ausdruck einer Stimmung, sondern sogar wie eine Novität wirken … Nachdem ich dies niedergeschrieben hatte, fand ich bei Goethe den Satz: »Die originalsten Autoren der neuesten Zeit sind es nicht deswegen, weil sie etwas Neues hervorbringen, sondern allein, weil sie fähig sind, dergleichen Dinge zu sagen, als wenn sie vorher niemals wären gesagt gewesen.« Und dann diesen: »Alles Gescheite ist schon gedacht worden, man muss nur versuchen, es noch einmal zu denken.« Und diesen Gedanken hatte schon La Bruyère ausgesprochen.
*
Ich hatte diesen und Goethes Maximen nie zuvor gelesen. Nun fand ich, dass ich manches Gescheite gedacht habe. Denn Goethe schreibt zum Beispiel: »Es ist nicht immer nötig, dass das Wahre sich verkörpere; schon genug, wenn es geistig umher schwebt und Übereinstimmung bewirkt; wenn es wie Glockenton ernstfreundlich durch die Lüfte wogt.« Oder: »Tief und ernstlich denkende Menschen haben gegen das Publikum einen bösen Stand.« Oder: »Die größte Achtung, die ein Autor für sein Publikum haben kann, ist, dass er niemals bringt was man erwartet, sondern was er selbst, auf der jedesmaligen Stufe eigner und fremder Bildung für recht und nützlich hält.« Oder: »Ein jeder, weil er spricht, glaubt auch über die Sprache sprechen zu können.« Und da ich mich so zu stützen vermesse, berufe ich mich auch auf das Wort: »Man sagt, eitles Eigenlob stinket; das mag sein: was aber fremder und ungerechter Tadel für einen Geruch habe, dafür hat das Publikum keine Nase.«
Karl Kraus.
10. Oktober 2012 | Kategorie: Artikel, Menschenwürde, Zeitzeugnisse/Zeitzeugen
Bernhard Diehl wollte Arzt werden, aber bekam nicht sofort einen Studienplatz. So ging er 1968 als Krankenpflegehelfer für die Malteser nach Vietnam, um das Elend der Menschen zu lindern und arbeitete in einem Hospital, das jeden Monat mehreren tausend Verletzten, Zivilisten wie Soldaten, kostenlos medizinische Hilfe leistete. Aber irgendwie war Bernhard Diehl für den Vietcong trotz des roten Kreuzes auf der „anderen Seite“. In den Wirren des Krieges wurde er vom Helfer mit Malteserkreuz zum Gefangenen und vier lange Jahre festgehalten. Von den fünf gefangenen deutschen Helfern überleben nur zwei. In der Gefängniseinzelzelle entsteht u.a. das Lied/Gedicht eines Schuldlosen, der wie ein Mörder gehalten wird. Damals war er 23 Jahre alt. Hier klingt der Schrei all derer an, die auch heute schuldlos in den Gefängnissen der Welt sitzen, von Guantanamo bis Baghram, von Minsk und bis Pjöngjang. Es ist der Schrei, den ein Munch gemalt hat, ein Schrei, der im Universum nicht verstummen wird, solange irgendwo auf der Welt der Unschuldige leidet. Der Text ist entnommen dem Band:
Gedichte und Liedertexte
Dr. med. Bernhard J. M. Diehl
August von Goethe Literaturverlag
179 S. TB 2009 (erhältlich über amazon)
Seht da den Mörder … (Bekenntnis eines Schuldlosen)
Wenn nachts die Ketten rasseln, wach ich auf aus meinem Schlaf,
Denn ich weiß, ein neuer Mörder wird gebracht.
Und dann hör ich Leute lachen, hör Befehle laut und scharf,
und ich denk daran, dass man auch mich verlacht.
Seht da, den Mörder! Endlich ist er zahm.
Gefängniszelle, eine wahre Hölle.
Nur wer drin war, kann verstehen, was das heißt.
Die Gitterstäbe rosten, der Putz fällt von der Wand,
Und morgens modern Ratten vor der Tür.
Ich sitz´ auf meinem Holzbett, hab´ Ketten um die Hand,
Nur Brot und Wasser, sonst gibt´s hier nichts mehr.
Seht da, den Mörder! Endlich ist er zahm.
Gefängniszelle, eine wahre Hölle.
Nur wer drin war, kann verstehen, was das heißt.
Zweimal am Tage waschen, mal morgens früh um sechs
und dann noch einmal nachmittags um zwei.
Ich fasse einmal Essen und esse wie verhext,
Und dann ist so ein Zellentag vorbei.
Seht da, den Mörder! Endlich ist er zahm.
Gefängniszelle, eine wahre Hölle.
Nur wer drin war, kann verstehen, was das heißt.
Hier gibt es keine Butter und kein weiches Ei,
Und Wurst hat diese Zelle nie geseh´n.
Ich sammle meine Kippen, mal zwei oder auch drei
Und kann dann aus dem Rest ´ne neue dreh´n.
Seht da, den Mörder! Endlich ist er zahm.
Gefängniszelle, eine wahre Hölle.
Nur wer drin war, kann verstehen, was das heißt.
Die Decken sind vermottet, die Seife rationiert,
und in dem Holzbett sitzen Wanzen drin.
Mein Pisspott hat zwei Löcher und wenn ich urinier,
Dann stinkt die ganze Bude nach Urin.
Seht da, den Mörder! Endlich ist er zahm.
Gefängniszelle, eine wahre Hölle.
Nur wer drin war, kann verstehen, was das heißt.
Warum bin ich gefangen? Was hab ich denn getan?
Wann lasst ihr mich denn endlich mal nach Haus?
Ich schreie diese Fragen, doch keiner stört sich dran… .
Wer hier mal sitzt, kommt nicht so schnell heraus.
Seht da, den Mörder! Endlich ist er zahm.
Gefängniszelle, eine wahre Hölle.
Nur wer drin war, kann verstehen, was das heißt.
01. Oktober 2012 | Kategorie: Menschenwürde, Notizen zur Zeit, Randnotizen
Excessive bail shall not be required, nor excessive fines imposed, nor cruel and unusual punishments inflicted.
Es sollen weder übermäßige Kautionen verlangt noch übermäßige Bußgelder verhängt noch grausame und ungewöhnliche Bestrafungen angewendet werden.
Los Angeles – Die Menschenrechtsorganisation Amnesty international hat scharfe Kritik an den Zuständen in kalifornischen Gefängnissen geäußert. Rund 3000 Häftlinge seien in Gefängnissen des US-Bundesstaats in fensterlosen Isolationszellen inhaftiert ohne Zugang zu Arbeit, Mithäftlingen oder Rehabilitierungsprogrammen, erklärte Amnesty am Donnerstag. 78 Häftlinge seien bereits mehr als zwei Jahrzehnte in derartigen Zellen eingesperrt.(…)Laut Amnesty sind die Isolationszellen eigentlich für besonders gefährliche Häftlinge wie Gang-Mitglieder vorgesehen, doch viele der Insassen litten unter Geistes- und Verhaltensstörungen oder würden für wiederholte kleinere Vergehen bestraft. Wright erklärte, Amnesty erkenne zwar die Notwendigkeit an, im Falle von Bandenkriminalität einzelne Häftlinge zu isolieren. Doch sollte Isolationshaft nur in außergewöhnlichen Fällen und nur für kurze Zeit eingesetzt werden. (APA, 27.9.2012)
Focus 28.09.2012,San Francisco
Amnesty: «Grausame» Haftbedingungen in Kalifornien
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International hat scharfe Kritik an den Zuständen in kalifornischen Haftanstalten geübt. (…) Die kalifornische Gefängnisverwaltung wehrte sich gegen die Vorwürfe. Die Haftanstalten würden der « n a t i o n a l e n N o r m » entsprechen, sagte die Beamtin Terri McDonald der «Los Angeles Times». « S i e s i n d s a u b e r . S i e s i n d s i c h e r .» (dpa)
Wenn das also die n a t i o n a l e N o r m ist, wir uns über S a u b e r k e i t u n d S i c h e r h e i t keine Sorgen machen müssen, dann haben wir gleichzeitig eine Erklärung dafür bekommen, warum die Befürworter der Foltermethode des sogenannten Waterboarding aus der Zeit der Regierung des George W. Bush nicht zur Verantwortung gezogen werden. Man hielt eine Simulation des Ertrinkens vermutlich auch für im Rahmen der N o r m , da durch den Gebrauch von Wasser die S a u b e r k e i t u n d S i c h e r h e i t nicht gefährdet wurde, wohl aber die Verfassung, der 8. Z u s a t z a r t i k e l d e r a m e r i k a n i s c h e n Ve r f a s s u n g b e s c h m u t z t w u r d e u n d w e i t e r h i n w i r d , weil Haftbedingungen, wie die oben beschriebenen, zur N o r m erklärt werden können, und stattdessen eine öffentliche Erklärung hinreicht, dass alles s a u b e r u n d s i c h e r ist. Wo gehobelt wird, da fallen späne, weiß der Volksmund, seinen es auch Späne vom Stammholz der einer Verfassung. Amnesty irrt daher, wenn man ausführt, dies würde allein internationale Richtlinien verletzen. Ein Blick in die amerikanische Verfassung genügt. Ich fühle mich hier, in der zugegeben intellektuellen Diaspora des vor 250 Jahren aufgeklärten Europa, aber keinesfalls sicher und auch nicht sauber, wenn ich an Haftanstalten hierzulande denke, in denen nach Grundgesetz Artikel 1 die Würde des Menschen unantastbar zu sein hat, sie zu achten und zu schützen die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt ist. Aber vermutlich handelt sich da bei mir um ein Missverständnis. „Würde“ scheint dem Konjunktiv des Verbs „sein“ entlehnt und zwar grammatikalisch im Imperfekt – Vergangenheit also. „Würde“ sei also Konjunktiv Imperfekt von „sein“, und auf einmal wird alles wieder stimmig. Das klingt dann ebenfalls sauber und sicher und bewegt sich absolut im Rahmen der Norm.
16. September 2012 | Kategorie: Artikel, Randnotizen
Kölner Stadtanzeiger 13. September 2012
Daniela Katzenberger will gefunden werden.
TV-Blondine Daniela Katzenberger hat keine Lust mehr, ihren Märchenprinz zu suchen. „Ich will endlich mal gefunden werden.Den Mann, den ich mal heirate, den gibt es ja schon. Aber irgendwas macht er falsch, dass ich ihn nicht treffe.“(dpa)
Das muss ein Irrtum sein, wenn die Dame ihren Märchenprinz e n nicht mehr suchen will. Der Mann macht nichts falsch, auch nicht im Nominativ. Ich denke, er ist einfach nur auf der Flucht.
29. August 2012 | Kategorie: Artikel
Es lässt mich nicht los.
Hier geht es wieder um Geld:
Frankfurter Rundschau 23. April 2012
Fünf Jahre Haft Landkreisbeamtin veruntreut 500.000 Euro
Fünf Jahre Haft wegen Veruntreuung: So lautet das Urteil gegen eine Beamtin des Landkreises.
Das Frankfurter Landgericht hat die 47 Jahre alte Patricia M., die den Hochtaunuskreis um m e h r a l s e i n e h a l b e M i l l i o n Euro betrogen hat, zu fünf Jahren Haft, ihren Mann zu eineinhalb Jahren verurteilt. E s w a r e i n U r t e i l , d a s e s i n s i c h h a t t e. Das galt auch für die Urteilsbegründung.
F ü n f J a h r e Freiheitsstrafe – so lautete das Urteil für Patricia M.. Ihr mitangeklagter Ehemann Manfred wurde wegen Beihilfe zu a n d e r t- h a l b J a h r e n H a ft verurteilt – die Strafe wurde n i c h t zur Bewährung ausgesetzt.
Denn dem Vorsitzenden Richter Horst Zimmermann w a r s o g a r n i c h t n a c h B e w ä h r u n g . Er zeigte sich von dem Prozess, der sich seit Monaten zähflüssig dahinzog, deutlich genervt. Zimmermann ist genervt von den Angeklagten. Patricia M., ehemalige Postbeamtin, die 2009 nach längerer Beschäftigungslosigkeit einen Posten beim Landratsamt antrat, nutzte ihre Stellung als Geldquelle.
Hier wurden wieder mehrere Leben zerstört:
FOCUS online 27.08.2012
ProzesseMissbrauch in Großfamilie: Haftstrafe für Vater
D r e i seiner sieben Töchter hat ein 48-Jähriger in einem Dorf in Dithmarschen (Schleswig-Holstein) jahrelang missbraucht. Dafür hat das Landgericht Itzehoe den zehnfachen Familienvater am Montag zu a c h t e i n h a l b Jahren Haft verurteilt.
Sein mitangeklagter 18 Jahre alter Sohn erhielt eine z w e i j ä h r i g e J u g e n d s tr a f e a u f B e w ä h r u n g. Nach Überzeugung des Gerichts h a t t e n s i c h b e i d e v i e l e M a l e a n d e n M ä d c h e n v e r g a n g e n , d i e h e u t e 1 7, 1 3 u nd 8 Jahre alt sind . Auch der 16-jährige Sohn des Mannes stand am Montag wegen Missbrauchs vor Gericht – unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Wie die Richter über ihn urteilten, wurde nicht mitgeteilt.
Im Verfahren gegen den Vater wertete der Vorsitzende Richter Eberhard Hülsing es als s t r a f v e r sc h ä r f e nd, dass dessen Verhalten der N ä h r- b o d e n für die Taten der Söhne gewesen sei. „So etwas habe ich noch nicht erlebt, dass ein Vater seinen Söhnen ein solches Verhalten vorlebt“, sagte Hülsing. S t a a t s a nw ä l t i n Stephanie Poensgen hatte für den 48-Jährigen neuneinhalb Jahre Haft verlangt, das Strafmaß für den 18-Jährigen entsprach ihrer Forderung. 2 6 Taten hatte sie in ihrem Plädoyer für den Vater aufgelistet, bei dem 18-Jährigen waren es 8 0 Taten.
Beide h a t t e n d ie V o r w ü r f e z u n ä c h s t b e s t r i t t e n, doch später widerriefen sie ihre Unschuldsbeteuerungen. Der Sohn legte ein umfassendes Geständnis ab, doch der Vater gab n u r e i n e n T e i l der Vorwürfe zu: Er habe sich nur an einer seiner Töchter vergriffen, als diese bereits älter als 14 Jahre gewesen sei. Beide entschuldigten sich am Ende des Prozesses bei ihren Opfern. Der Verteidiger des Vaters überlegt, ob er in Revision geht. Der Anwalt des 18-Jährigen akzeptierte den Urteilsspruch. Die Bewährung wurde ausgesprochen, weil der 18-Jährige bereits sechs Monate in U-Haft gesessen hatte.
Nach Überzeugung der Prozessbeteiligten kam in dem Verfahren nur „d i e S p i t z e d e s E i s b e r g s “ zur Sprache.
Aufs Neue wird der Beweis geführt, dass die Macht das Recht nicht nur hat, sondern auch anwendet – gegen die Machtlosen. Fünf Jahre und eineinhalb Jahre ohne Bewährung für einen Betrag der im legalen Milliardenspiel noch weit unterhalb von Peanuts rangierte und über den jeder Banker lacht, der wegen eines Vielfachen ungestraft davonkommt. Da muss man schon drei und nicht nur zwei Kindern die Seelen morden um fünf Jahre zu toppen. Mal abgesehen davon, dass ich mir nicht einmal vorstellen kann, wie es sich mit der Spitze eines Eisberges verhält, der laut Beobachter wohl nur zur Sprache gekommen sein soll, kann ich mir noch weniger vorstellen, dass sogar ein strafverschärfender Nährboden nötig war, um den Richter auf ein Jahr weniger erkennen zu lassen als die Staatsanwältin gefordert hatte. Was hatte er denn ohne die Strafverschärfung vor? Man kommt pro Kind, zynisch kalkuliert, auf unter drei Jahre Haft, wobei man sich nolens-volens die Frage vorlegt und lieber nicht beantwortet haben möchte, wie alt die Kinder bei den Vergewaltigungen waren – denn um etwas anderes handelt es hierbei sicherlich nicht -, wenn sie heute erst 17, 13 und unaussprechliche 8 Jahre alt sind. Das wirken die fünf Jahre Haft für mal gerade eine halbe Million Euro doch eher nett übertrieben, und das Leben ist dem Geld in seiner Bedeutung wieder einmal hoffnungslos unterlegen.
07. August 2012 | Kategorie: Anthologie der Menschheit, Artikel, Aus "Die Fackel", Nachts
DIE FACKEL
Nr. 360/361/362 7. NOVEMBER 1912 XIV. JAHR S.1- 10
Nachts
Ich muss wieder unter Menschen gehen. Denn zwischen Bienen und Löwenzahn, in diesem Sommer, ist mein Menschenhass arg ausgeartet.
In der Schöpfung ist die Antithese nicht beschlossen. Denn in ihr ist alles widerspruchslos und unvergleichbar. Erst die Entfernung der Welt vom Schöpfer schafft
Raum für die Sucht, die jedem Gegenteil das verlorene Ebenbild findet.
Flucht in die Landschaft ist verdächtig. Die Gletscher sind zu groß, um unter ihnen zu denken, wie klein die Menschen sind. Aber die Menschen sind klein genug, um unter ihnen zu denken, wie groß die Gletscher sind. Man muss jene zu diesem und nicht diese zu jenem benützen. Der Einsame aber, der Gletscher braucht, um an Gletscher zu denken, hat vor den Gemeinsamen, die unter Menschen an Menschen denken, nur eine Größe voraus, die nicht von ihm ist. Gletscher sind schon da. Man muss sie dort erschaffen, wo sie nicht sind, weil Menschen sind.
Die Ärzte wissen noch nicht, ob es humaner sei, die Leiden des sterbenden Menschen zu verlängern oder zu verkürzen. Ich aber weiß, dass es am humansten ist, die Leiden der sterbenden Menschheit zu verkürzen. Eines der besten Gifte ist das Gefühl der geschlechtlichen Unsicherheit. Es ist vom Stoff der Krankheit bezogen. An welcher Krankheit denn leiden sie? Dass sie sich ihrer Gesundheit schämen. Die Menschheit stirbt heimlich an dem, wovon zu leben sie sich verbietet: am Geschlecht. Hier lässt sich nachhelfen, indem
man an das, was sie wie einen Diebstahl ausführen und hinterdrein Liebe nennen, noch etliche Zentner jener Vorstellung einer Zeugenschaft hängt, die das Vergnügen versalzt. Ein Alpdruck, schwerer als das Gewicht der Sünde. Und dies Gift wird die Männer umso gewisser bleich machen, als es für die Konkubinen ein Verschönerungsmittel ist. Es geht nicht länger an, den Frieden denaturierter Bürger ungestört zu lassen, und tausend Casanovas sind Stümper neben dem Gespenst, das ein Gedanke hinter die Gardine schickt. Ist denn solche Vorstellung schlimmer als die, mit der der Anblick der Zufriedenheit unsereinen peinigt? Soll
es wirklich noch Augenblicke geben dürfen, in denen ein Wucherer unbewusst wird? Dem Verstande der Gesellschaft, die das heutige Leben innehat, lässt sich mit nichts mehr beikommen. Will man die Heutigen treffen, so muss man warten, bis sie unzurechnungsfähig sind. Nicht im Rausch: denn was hätten sie dabei zu fürchten, und wüssten sie dort Gefahr, so würden sie enthaltsam. Nicht im Schlaf: denn nicht im Traum fällt es ihnen ein, unzurechnungsfähig zu sein. Aber manchmal liegen sie im Bett und wissen von nichts. Da sollen sie es erfahren.
Die Tragik des Gedankens, Meinung zu werden, erlebt sich am schmerzlichsten in den Problemen des erotischen Lebens. Jedes Frauenzimmer, das vom Weg des Geschlechts in den männlichen Beruf abirrt, ist im Weiblichen echter, im Männlichen kultivierter als die Horde von Schwächlingen, die es im aufgeschnappten Tonfall neuer Erkenntnisse begrinsen
und die darin nur den eigenen Misswachs erleben. Das Frauenzimmer, das Psychologie studiert, hat am Geschlecht weniger gefehlt, als der Psycholog, der ein
Frauenzimmer ist, am Beruf.
Die Lust des Mannes wäre nur ein gottloser Zeitvertreib und nie erschaffen worden, wenn sie nicht das Zubehör der weiblichen Lust wäre. Die Umkehrung dieses Verhältnisses zu einer Ordnung, in der sich eine ärmliche Pointe als Hauptsache aufspielt und nachdem sie verpufft ist, das reiche Epos der Natur tyrannisch abbricht, bedeutet den Weltuntergang: auch
wenn ihn die Welt bei technischer, intellektueller und sportlicher Entschädigung durch ein paar Generationen nicht spürt und nicht mehr Phantasie genug hat, sich ihn vorzustellen.
Das sind die wahren Wunder der Technik, dass sie das, wofür sie entschädigt, auch ehrlich kaputt macht.
Die Verluste an Sinnlichkeit und Phantasie, die Ausfallserscheinungen der Menschheit, sind kinodramatisch.
Die Eignung zum Lesen der Kriegsberichte dürfte bei mancher Nation schon heute die Kriegstauglichkeit ersetzen.
Die Technik ist ein Dienstbote, der nebenan so geräuschvoll Ordnung macht, dass die Herrschaft nicht Musik machen kann.
Es ist gut, dass es der Gesellschaft, die daran ist, die weibliche Lust trocken zu legen, zuerst mit der männlichen Phantasie gelingt. Sie wäre sonst durch die Vorstellung ihres Endes behindert.
Der Mann hat keinen persönlicheren Anteil an der Lust, als der Anlass an der Kunst. Und wie jeder Anlass überschätzt er sich und bezieht es auf sich. Der einzelne Lump sagt auch, ich hätte über ihn geschrieben, und hält seinen Anteil für wichtiger als den meinen. Nun könnte er noch verlangen, dass ich ihm treu bleibe. Aber die Wollust meint alle und gehört keinem.
Wer sich durch eine Satire gekränkt fühlt, benimmt sich nicht anders als der zufällige Beischläfer, der am andern Tage daherkommt, um seine Persönlichkeit zu reklamieren. Längst ist ein anderes Beispiel an seine Stelle getreten, und wo schon ein neues Vergessen
beginnt, erscheint jener mit der Erinnerung und wird eifersüchtig. Er ist imstande, die Frau zu kompromittieren.
Was mir und jedem Schätzer von Distanzen einen tätlichen Überfall auf mich peinlich macht, ist die Verstofflichung der Satire, die er bedeutet. Anstatt dankbar zu sein, reinkarniert sich das, was mir mit Mühe zu vergeistigen gelang, wieder zu leiblichster Stofflichkeit, und der dürftige Anlass schiebt sich vor, damit mein Werk nur ja auf ihn reduziert bleibe. Darum muss mich in einer Gesellschaft, der es an Respekt fehlt, die Waffe schützen. Mir fehlt es nicht an Respekt vor den kleinen Leuten, die mich zu etwas anregen, was ihnen längst nicht mehr gilt, wenn’s fertig ist. Ich nehme jede nur mögliche Rücksicht. Denn lähmte mich nicht die Furcht, mit ihnen zusammengespannt zu werden, so würde ich sie doch selbst überfallen. Was mir nicht nur Genuss, sondern auch Erleichterung der satirischen Mühe brächte.
Man muss dazu gelangen, die erschlagen zu wollen, die man nicht mehr verarbeiten kann, und im weiteren Verlauf sich von denen erschlagen zu lassen, von denen man nicht mehr verstanden wird.
Alle sind von mir beleidigt, nicht einzelne. Und was die Liebe betrifft, sollen alle rabiat werden und nicht die, die betrogen wurden.
Der Mann ist der Anlass der Lust, das Weib die Ursache des Geistes.
Das Weib nimmt einen für alle, der Mann alle für eine.
Die Lust hat es nur mit dem Ersatzmann zu tun. Er steht für den andern, für alle oder für sich selbst. Der ganze Mann in der Lust ist ein Gräuel vor Gott. Hierin dürfte die Wedekindsche Welt begrenzt sein:
vor dem tief erkannten Naturbestand des Weibes die tief gefühlte Sehnsucht des Rivalen. Weibliche Genussfähigkeit als Ziel des Mannes, nicht als geistige Wurzel:
Anspruch einer physischen Wertigkeit, mit der sich’s in Schanden bestehen ließe. Nicht Kräfte, die einander erschaffen, sondern Lust um der Lust willen. Tragisch das Weib erfasst, weil es anders sein muss als von Natur, und damit eine Tragik des Mannes gepaart, weil er anders von Natur ist. Aber tragisch wird nur das weiblich Unbegrenzte an einer Ordnung,
die sich die männliche Begrenztheit erfunden hat. Diese ist nicht tragisch, sondern nur traurig von Natur und hassenswert, weil sie die Freiheit des Weibes in das Joch ihrer Eitelkeit spannt, den eigenen Defekt an der Fülle rächt und etwas beraubt, um es zu besitzen. Hier ist nicht Schicksal, sondern ein Zustand, dessen Verlängerung, ja Verewigung selbst keine Schöpferkraft gewährte. Denn in nichts wird die Hemmungslosigkeit des Mannes umgesetzt. Sie bleibt irdisch. Die Lust aber, die der Erdgeist genannt wird, braucht ihren Zunder, doch auf den Funken kommt es an, den sie in eine Seele wirft. Dieser Dichter hat Lulu erkannt; aber er beneidet vielleicht ihren Rodrigo. Dieses Genie der Begrenztheit — in der genialen Hälfte genialer als irgendein Ganzer im heutigen Deutschland — stelle ich mir im Anblick des Fremier’schen Gorilla vor. Um die Ohnmacht der Frau — ihr Anblick gibt den Engeln
Stärke, wenn keiner sie ergründen mag — weiß er. Aber die Kraft des Tieres dürfte ihm imponieren.
Trauer und Scham sollten alle Pausen wahrer Männlichkeit bedecken. Der Künstler hat außerhalb des Schaffens nur seine Nichtswürdigkeit zu erleben.
Die Eifersucht auf die ungestaltete Materie, die mir täglich um die Nase schwippt und schwätzt, wippt und wetzt, auf Menschen, die leider noch existent, aber noch nicht erschaffen sind, lässt sich schwer dem andern begreiflich machen.
Die wahren Wahrheiten sind die, welche man erfinden kann.
Das Verständnis meiner Arbeit ist erschwert durch die Kenntnis meines Stoffes. Dass das, was schon da ist, noch erfunden werden muss und dass es sich lohnt, es zu erfinden, sehen sie nicht ein. Und auch nicht, dass ein Satiriker, der die vorhandenen Personen erfindet, mehr Kraft braucht, als der, der die Personen so erfindet, als wären sie vorhanden.
Dieser Wettlauf mit den unaufhörlichen Anlässen! Und dieser ewige Distanzlauf vom Anlass zur Kunst! Keuchend am Ziel — zurückgezerrt zum Start, der sich
erreicht fühlt.
Man kennt meine Anlässe persönlich. Darum glaubt man, es sei mit meiner Kunst nicht weit her.
In keiner Zeit war das Bedürfnis so elementar wie in der heutigen, sich für das Genie zu entschädigen.
Psychologie ist der Omnibus, der ein Luftschiff begleitet.
Man sagt mir oft, dass manches, was ich gefunden habe, ohne es zu suchen, wahr sein müsse, weil es auch F. gesucht und gefunden habe. Solche Wahrheit wäre wohl ein trostloses Wertmaß. Denn nur dem, der sucht, ist das Ziel wichtig. Dem, der findet, aber der
Weg. Die beiden treffen sich nicht. Der eine geht schneller, als der andere zum Ziel kommt. Irgendetwas ist ihnen gemeinsam. Aber der Prophet ist immer schon da und verkündet den apokalyptischen Reiter.
Analyse ist der Hang des Schnorrers, das Zustandekommen von Reichtümern zu erklären. Immer ist das, was er nicht besitzt, durch Schwindel erworben. Der andere hat’s nur, er aber ist zum Glück eingeweiht.
Das Unbewusste zu erklären, ist eine schöne Aufgabe für das Bewusstsein. Das Unbewusste gibt sich keine Mühe und bringt es höchstens fertig, das Bewusstsein zu verwirren.
Die Nervenärzte haben es jetzt mit den Dichtern zu schaffen, die nach ihrem Tode in die Ordination kommen. Es geschieht ihnen insofern recht, als sie tatsächlich nicht imstande waren, die Menschheit auf einen Stand zu bringen, der die Entstehung von Nervenärzten ausschließt.
Alle Naturwissenschaft beruht auf der zutreffenden Erkenntnis, dass ein Zyklop nur ein Auge im Kopf hat, aber ein Privatdozent zwei.
Der Handelsgeist soll sich im Pferch der Judengasse entwickelt haben. In der Freiheit treiben sie Psychologie. Sie scheint aber wie ein Heimweh jenes enge Zusammenleben zurückzurufen, unter dem die Ansprache zur Betastung wird. Was nun vollends eine
Verbindung von Handelsgeist und Psychologie für Wunder wirken kann, sehen wir alle Tage.
Die Rache der Molluske am Mann, des Händlers am Helden, des Shaw an Shakespeare, des Ghetto an Gott macht jenen rapiden Fortschritt, gegen den aufzutreten rückschrittlich heißt.
Nein, es spukt nicht mehr. Es spuckt.
Die liberale Presse krebst jetzt mit neu aufgefundenen Bemerkungen Lichtenbergs: gegen den Katholizismus und »wenn noch ein Messias geboren würde, so könnte er kaum so viel Gutes stiften, als die Buchdruckerei«. Um sich aber mit Fug auf Lichtenberg zu berufen, wäre der Beweis nötig, dass er auch nach 125 Jahren noch derselben Ansicht ist. Wäre er’s, er wäre nicht derselbe Mann. Den wahren Segen der Buchdruckerei hat er nicht erlebt. Denn
er hat nicht nur nicht die Presse erlebt, sondern nicht einmal eine Drucklegung seiner Tagebücher, deren Tiefe dort, wo sie unverständlich ist, auf ihrem Grund Druckfehler hat, die die literarhistorischen Tölpel in Ehren halten, weitergeben und fortpflanzen. Darüber ließen sich ergötzliche Dinge sagen. Was muss aus den Gedanken Lichtenbergs geworden sein, wenn selbst Eigennamen, die er niederschreibt, verdreht wurden, und in Stellen, deren Nachprüfung den Herausgebern nicht nur geboten, sondern auch möglich war. Keines dieser
Subjekte aber hat sich auch nur die Mühe genommen, die von Lichtenberg gepriesene Stelle aus Jean Paul zu lesen. »Haben Sie wohl die Stelle in dem ‚Kampaner Tal‘ gelesen, wo Chiaur in einem Luftball aufsteigt?« Nein, sie haben es nicht getan, denn sonst hätten sie eine solche Stelle nicht gefunden. Wie das? Steigt Chiaur nicht auf? Im ganzen Buch nicht. Nur
eine Gione. Diese sonderbare Tatsache, dass Lichtenberg einen Chiaur und Jean Paul eine Gione aufsteigen lässt, gestattet vielleicht die Rekonstruierung der Handschrift
Lichtenbergs, die ich nicht gesehen habe:
Gione (handschriftlich Sütterlin)
Es lässt die Möglichkeit zu, dass jedes zweite Wort verdruckt wurde. Denn die Herausgeber dürften dort, wo sie nur auf die Handschrift Lichtenbergs und jeweils auf die vorhergehende fehlerhafte Ausgabe angewiesen waren, sich kaum findiger gezeigt haben, als dort, wo
ihnen ein Vergleich mit dem Jean Paul’schen Druck möglich war. Und dafür, dass dieselbe Schande, nur immer in anderer Einteilung und mit anderem Umschlag, wiederholt wird, zahlen Verleger Honorare. Die Erwartung des Messias dürfte also — gegen und für Lichtenberg — dem Glauben an die Buchdruckerei noch immer vorzuziehen sein. Kaum ein Autor ist gröblicher misshandelt worden; nicht nur durch eine wahllose Zitierung, die den aus
Vernunft, Stimmung oder Glauben entstandenen Notizen den gleichen Bekenntniswert beimisst. Man könnte, wenn eine von Natur meineidige Presse Lichtenberg zum Eidhelfer beruft, ihr auch mit dem Gegenteil dienen, und vor allem mit jenem Gegenteil, zu dem eine Menschlichkeit seiner Art vor der heutigen Ordnung der Dinge ausschließlich fähig wäre. Der Liberalismus ist, wenn alle Stricke reißen, imstande, sich auf Gott zu berufen, der einmal gesehen haben soll, dass es gut war. Aber heute, nach 5673 Jahren, ist er gewiss auch nicht mehr derselben Ansicht. Wäre er’s, er wäre nicht derselbe Gott.
Die Druckerschwärze ist noch nie zu der Verwendung gelangt, für die sie erschaffen ist. Sie gehört nicht ins Hirn, sondern in den Hals jener, die sie falsch verwenden.
Der Liberalismus beklagt die Veräußerlichung des christlichen Gefühls und verpönt das Gepränge. Aber in einer Monstranz von Gold ist mehr Inhalt als in einem Jahrhundert von Aufklärung. Und der Liberalismus beklagt nur, dass er im Angesicht verlockender Dinge,
die eine Veräußerlichung des christlichen Gefühls bedeuten, es doch nicht und um keinen Preis zu einer Veräußerung des christlichen Gefühls bringen kann.
Ich habe von Monistenklöstern gehört. Bei ihrem Gott, keine der dort internierten Nonnen hat etwas von mir zu fürchten!
Wiewohl es nicht reizlos wäre, einer Bekennerin des Herrn Goldscheid auf dem Höhepunkt der Sinnenlust »Sag: Synergetische Funktion der organischen Systeme!«
zuzurufen.
Die gebildete Frau ist unaufhörlich mit dem Vorsatz befasst, keinen Geschlechtsverkehr einzugehen, und ist auch imstande, ihn, nämlich den Vorsatz, auszuführen.
Der gebildete Mann ist nie mit dem Vorsatz befasst, keinen Gedanken zu haben, sondern es gelingt ihm, ehe er sich dazu entschließt.
Zu der Blume mag ich nicht riechen, die unter dem Hauch eines Freidenkers nicht verwelkt.
18. Juli 2012 | Kategorie: Artikel, Tagebuch
DIE FACKEL
Nr. 256. 5. Juni 1908. X. Jahr. S. 15 – 32
Tagebuch
Meine Leser glauben, dass ich für den Tag schreibe, weil ich aus dem Tag schreibe. So muss ich warten, bis meine Sachen veraltet sind. Dann werden sie möglicherweise Aktualität erlangen.
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Wie souverän doch ein Dummkopf die Zeit behandelt! Er vertreibt sie sich oder schlägt sie tot. Und sie lässt sich das gefallen. Denn man hat noch nie gehört, dass die Zeit sich einen Dummkopf vertrieben oder totgeschlagen hat.
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Seitdem faule Apfel einmal in der deutschen Dramatik zur Anregung gedient haben, fürchtet das Publikum, sie zum Gegenteil zu verwenden.
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»Dass wir die Übel, die wir haben, lieber ertragen als zu unbekannten fliehn«. Ich verstehe aber nicht, wie die Rechtfertigung der monarchischen Staatsform bis zur Begeisterung gehen kann.
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Ein Liebesverhältnis, das nicht ohne Folgen blieb. Er schenkte der Welt ein Buch.
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Der Balkan liegt da wie das große Hindernis »Kultur«, das unsere christliche Zeit vor einem Rückfall in heidnische Sitten bewahrt. Wer das Land der Griechen mit der Seele sucht, bekommt Läuse.
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Liebe soll Gedanken zeugen. In der Sprache der Gesellschaftsordnung sagt die Frau: Was werden Sie von mir denken!
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Die Treue wäre kein leerer Wahn, wenns keine Schlafwagenkondukteure gäbe.
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Nun, ein so besonderes Vergnügen ist die Enthaltung vom Weibe auch nicht, das muss ich schon sagen.
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Es gibt keinen Ort, der eine größere Öffentlichkeit bedeutet, als ein Lift, in dem man angesprochen wird.
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Ein schönes Kind hört an der Wand eines Schlafzimmers ein scharrendes Geräusch. Sie fürchtet, es seien Mäuse, und ist erst beruhigt, da man ihr sagt, daneben sei ein Stall und ein Pferd rühre sich. »Ist es ein Hengst?« fragt sie und schläft ein. Der Traum von einem Leutnant ist gesellschaftsfähiger. Etwa auch die Frage: Mama, was ist das ein Hengst? … Auch gebe ich zu, dass Wildbäche in Privatwohnungen unbequem sind. Aber man sollte sich doch nicht die Gelegenheit entgehen lassen, sie zu bewundern.
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Dasselbe Mädchen sagte einmal von einem, der ihr nachgegangen war: »Er hatte einen Mund, der küsste von selbst.« Wäre je einem jungwiener Dichter solch ein Satz gelungen, ich hätte ihn in mein Herz geschlossen.
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Seit vielen Jahren schon versäume ich den Frühling. Aber dafür habe ich ihn zu jeder Jahreszeit, sobald ich die Stimmung eines Tags der Kindheit mir hervorhole, mit dem jähen Übergang vom Einmaleins zu einem Gartenduft von Rittersporn und Raupen. Da ich vermute, dass es dergleichen nicht mehr gibt, halte ich persönliche Erfahrungen in diesem Punkt geflissentlich von mir fern.
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Es war eine Flucht durch die Jahrtausende, als sie in der kältesten Winternacht von einem Theaterball halbnackt auf die Straße lief, in den tiefsten Prater hinein, Kellner, Kavaliere und Kutscher hinter ihr her. Eine tödliche Lungenentzündung brachte sie in unser Jahrhundert zurück.
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Ich stelle mir ihn nicht unrichtig vor. Wenn er anders ist, so beweist das nichts gegen meine Vorstellung: der Mann ist unrichtig.
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Wenn ich einschlafe, spüre ich so deutlich, wie die Bewußtseinsklappe zufällt, dass sie für einen Augenblick wieder offensteht. Aber es ist nur die Vergewisserung, dass das Bewusstsein aufhört. Gleichsam das Imprimatur des Einschlafens.
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Wer schlafen will und nicht kann, der ist ohnmächtiger als wer schlafen muss und nicht will. Dieser hat die Ausrede des Naturgebots, dem man freilich mit schwarzem Kaffee trotzen kann. Jener lässt sich ein gutes Gewissen, hilft’s nicht, einen deutschen Roman, schließlich Morphium verordnen. Würdig sind solche Mittel nicht. Die menschliche Natur wird vom Schlaf überwältigt; da sie den Schlaf nicht überwältigen kann, lerne sie es, ihn zu überlisten. Man zeichne die Figuren in die Luft, die er am liebsten hat; ohne das absurdeste Spielzeug steigt er nicht ins Bett: Ein Kalb mit acht Füßen, ein Gesicht, dem die Zunge bei der Stirn heraushängt, oder der Erlkönig mit Kron’ und Schweif. Man stelle die Unordnung her, die der Schlaf braucht, ehe er sich überhaupt mit einem einlässt. Man ahnt gar nicht, welche Menge von Bändern, Kaninchen und sonstigen Dingen, die nicht zur Sache gehören, man bei einiger Geschicklichkeit aus dem Zauberhut des Unbewusstseins hervorholen kann. Nichts imponiert dem Schlaf mehr. Schließlich glaubt er daran, und der Zauberer ist unter allem Tand verschwunden. Ich habe das Experiment oft mit wachstem Bewusstsein unternommen, und es gelang so vollständig, dass ich mir das Gelingen nicht mehr bestätigen konnte.
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Moralische Verantwortung ist, was dem Mann fehlt, wenn er es von der Frau verlangt.
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Wenn der Wert der Frauen absolut messbar ist, so ist er es gewiss eher nach der Fähigkeit, zu spenden, als nach dem Wert der Objekte, an die sie spenden. Nicht einmal dem Blitz, der statt in die Eiche in einen Holzschuppen einschlägt, darf man einen moralischen Vorwurf machen. Und dennoch ist kein Zweifel, dass hier die Schönheit des Schauspiels wesentlich von der Würdigkeit des Objektes abhängt, während die Blitze der Sinnlichkeit bei größerer Distanz umso heller leuchten. Nur wenn die Eiche vergebens bettelt, dass der Blitz sie erhöre, dann treffe den Blitz die Verdammnis.
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Der Vorsatz des jungen Jean Paul war, »Bücher zu schreiben, um Bücher kaufen zu können«. Der Vorsatz der meisten jungen Schriftsteller ist, Bücher zu kaufen, um Bücher schreiben zu können.
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Es gibt eine medizinische Richtung, welche die Fachausdrücke der Chirurgie auf Seelisches anwendet. Sie ist wie jede gedankliche Verähnlichung scheinbar entlegener Sphären ein Witz und wahrscheinlich der beste, dessen der Materialismus fähig ist. Wenn jetzt der Arzt das Unterbewusstsein einer Patientin auskratzen will oder wenn Gefühlsabszesse ausgeschnitten werden, so basieren solche Versuche auf einem höchst witzigen Einfall, und auf einem, der seiner Unwiderstehlichkeit umso sicherer sein muss, als die operativen Eingriffe des Seelenarztes ohne die Narkose der Suggestion erfolgen. Ich denke indes, dass es besser wäre, den echten Wert jener ingeniösen Erkenntnis der Ursachen seelischer Erkrankungen, die ihrem Finder zum Ruhme gereicht, nicht durch eine schrullenhafte Methode der Behandlung zu mindern. Der Ehrgeiz eines Meteorologen, schönes Wetter zu machen, gehört nicht zum Fach. Wäre eine seelische Analyse ähnlich ohne die Mitwirkung des Patienten durchführbar wie die seines Harns, der Versuch könnte nicht schaden, wenn er nicht nützte. Das Verfahren jedoch, bei dem der Kranke zum Konsiliarius wird, schafft ihm ein Selbstbewusstsein des Unbewusstseins, das zwar erhebend, aber nicht eben aussichtsvoll ist. Statt ihn vom Herd seines Übels zu jagen, wird er verhalten, sich daran zu rösten, statt Ablenkung wird eine Vertraulichkeit mit seinen Leiden, eine Art Symptomenstolz erzeugt, der den Kranken schließlich in den Stand setzt, an Anderen seelische Analysen vorzunehmen, der aber ihm selbst noch nicht geholfen hat. Alles in allem eine Methode, die augenscheinlich schneller einen Laien zum Sachverständigen, als einen Kranken gesund macht. Auch eine Mechanisierung der seelischen Vorgänge verträgt den Versuch nicht, als Heilfaktor die Selbstbeobachtung der Symptome einer Krankheit zu setzen, zu deren Symptomen die Selbstbeobachtung gehört. Ich weiß nicht, ob man einen Beinbruch durch seelische Einwirkung heilen kann. Sicherlich eher, als ein seelisches Gebrechen durch Amputation. Der transzendentale Wunderglaube hatte den Vorzug, dass er dekorativ war. Den rationalistischen Wundern fehlt der Glaube.
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Der Psychiater verhält sich zum Psychologen wie der Astrolog zum Astronomen. In der psychiatrischen Wissenschaft hat das astrologische Moment seit jeher eine Rolle gespielt. Zuerst waren unsere Handlungen von der Stellung der Himmelskörper determiniert. Dann waren in unserer Brust unseres Schicksals Sterne. Dann kam die Vererbungstheorie. Und jetzt ist es gar maßgebend, ob dem Säugling seine Amme gefällt, in welchem Falle er die Schicksalssterne an ihrer Brust findet. Die sexuellen Kindheitseindrücke sind gewiss nicht zu unterschätzen, und Ehre dem Forscher, der mit dem Glauben aufgeräumt hat, dass die Sexualität mit der Ablegung der Maturitätsprüfung beginnt. Aber man soll nichts übertreiben. Wenn auch die Zeiten vorüber sind, da die Wissenschaft die Enthaltsamkeit von Erkenntnissen übte, so sollte man sich dem Genuss der Geschlechtsforschung darum nicht hemmungslos hingeben. »Mein Vater«, höhnt Glosters Bastard, »ward mit meiner Mutter einig unterm Drachenschwanz und meine Geburtsstunde fiel unter ursa major, und so folgt denn, ich muss rauh und verbuhlt sein.« Und doch war es schöner, von Sonne, Mond und Sternen abzuhängen, als von den Schicksalsmächten des Rationalismus!
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Nervenärzten, die uns das Genie verpathologisieren, soll man mit dessen gesammelten Werken die Schädeldecke einschlagen. Nicht anders soll man mit den Vertretern der Humanität verfahren, die die Vivisektion der Meerschweinchen beklagen und die Benützung der Künstler zu Versuchszwecken geschehen lassen. Wer immer sich zum Nachweis erbötig macht, dass die Unsterblichkeit auf Paranoia zurückzuführen sei, allen rationellen Tröstern des Normalmenschentums, die es darüber beruhigen, dass es zu Werken des Witzes und der Phantasie nicht inkliniere, trete man mit dem Schuhabsatz ins Gesicht, wo man ihrer habhaft wird! Aber die anderen, die modernen Psychiatraliker, die uns die Werke der Großen bloß auf die Sexualität hin prüfen, lache man bloß aus. Mir hat einmal einer den »Zauberlehrling« als einen handgreiflichen Beweis für die masturbatorischen Neigungen seines Schöpfers gedeutet. Ich war sittlich entrüstet, nicht wegen des Inhalts, aber wegen der unsäglichen Ärmlichkeit der Zumutung. Ich fühlte, wie sich zum legitimen Schwachsinn der literarhistorischen Kommentatoren allmählich ein neuer Wahnsinn geselle. Die wissenschaftlich fundierte Stimmung eines Herrenabends reklamiert den Besen des Zauberlehrlings — »oben sei ein Kopf« — für ihre besonderen Zwecke, aber sie würde gegebenenfalls auch nicht davor zurückschrecken, uns den »Mond« ebenso zu deuten, von dem es in dem wundervollen Gedicht doch heißt, dass er »wieder Busch und Tal füllt«. »Was fällt Ihnen dazu ein?« lautet die Frage des psychischen Analytikers. Aber wir haben ein Recht, sie in empörtem Ton zurückzugeben: Was Ihnen nicht einfällt! … Man beruhigte mich mit der Versicherung, dass hier bloß eine Mitwirkung des »Unbewussten« bei Goethe angenommen werde. Dieses Unbewusste eines Dichters ist nun freilich ein Gebiet, in dem das Bewusstsein eines Mediziners volle Bewegungsfreiheit hat. Das ist tief bedauerlich. Denn die psychischen Analysen, die an einem Privatpatienten vorgenommen werden, sind eine Privatsache zwischen den beiden vertragschließenden Teilen, aber Kunstwerke sollten dem Untersucher schon wegen ihrer Wehrlosigkeit Respekt einflößen. Goethe — irrsinnig? In Gottes Namen, daraus können wir uns noch etwas herausfetzen! Vielleicht sinkt die Menschheit auf die Knie und fleht, vor ihrer Gesundheit bang, den Schöpfer um mehr Irrsinn! Aber die Verurteilung zur Masturbation lässt ein Gefühl der Leere zurück; verzweifelnd empfängt man die Erkenntnis, dass selbst wenn alle Welt masturbierte, dennoch kein »Zauberlehrling« entstehen müsste. Und trostlos ist auch der Gedanke, dass er, Goethe, es nicht gewusst, nicht einmal nachträglich bemerkt hat. Er schrieb den Zauberlehrling und wusste nicht, was er bedeute. Und man hatte doch geglaubt, dass das Unbewusste eines Goethe noch immer bewusster sei als das Bewussteste eines Sexualpsychologen!
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Die alte Wissenschaft versagte dem Geschlechtstrieb bei Erwachsenen ihre Anerkennung. Die neue räumt ein, dass der Säugling beim Stuhlgang schon Wollust spüre. Die alte Auffassung war besser. Denn ihr widersprachen wenigstens bestimmte Aussagen der Beteiligten.
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Ich weiß euch eine solidere Deutung des »Zauberlehrlings«. »Hat der alte Hexenmeister sich doch einmal wegbegeben! Und nun sollen seine Geister auch nach meinem Willen leben.« In Abwesenheit eines verdienstvollen Lehrers und Finders sexualpsychologischer Erkenntnisse, versucht einer seiner Schüler die Methode selbst anzuwenden. »Seine Wort’ und Werke merkt’ ich, und den Brauch, und mit Geistesstärke tu’ ich Wunder auch.« Und er vergreift sich an einem Goetheschen Gedicht. Die Kommentierung wächst ihm jedoch über den Kopf. »Wie sich jede Schale voll mit Wasser füllt.« Zu spät erkennt er das Unheil. »Wärst du doch der alte Besen!« Nämlich ein Besen und nicht etwas anderes, das er skrupellos dafür gesetzt hat. Aber da nützt keine Reue, die Kommentierung wächst ins Uferlose. Kein Klassikerwort, das einen greifbaren Gegenstand bedeutet — sei’s der letzte Pfeil, den Tell im Köcher hat, sei’s ein goldener Vogel oder Ammonshorn, wie es der Wanderer findet auf den Bergen —, ist mehr vor Deutung sicher. »Welch entsetzliches Gewässer!« Endlich kommt der Professor Freud zurück. »Herr, die Not ist groß! Die ich rief, die Geister, werd’ ich nun nicht los.« Der Professor sieht, wie die Schüler die Lehre kompromittieren, und beschließt, dem groben Unfug ein Ende zu machen. Es war die höchste Zeit. In die Ecke mit allem, was wie ein Besen aussah und etwas anderes bedeuten sollte! Seid’s gewesen, Denn als Geister Ruft euch nur, zu seinem Zwecke, Erst hervor der alte Meister.
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Es ist mir rätselhaft, wie ein Theolog darob gepriesen werden kann, dass er sich dazu durchgerungen habe, an die Dogmen nicht zu glauben. Wahre Anerkennung wie eine Heldentat schien mir immer die Leistung jener zu verdienen, die sich dazu durchgerungen haben, an die Dogmen zu glauben.
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Eine Stadt, in der die Männer von der Jungfrau, die es nicht mehr ist, den Ausdruck gebrauchen, sie habe »es hergegeben«, verdient dem Erdboden gleichgemacht zu werden.
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Wer ist das: Sie ist blind vor dem Recht, sie schielt vor der Macht, und kriegt vor der Moral die Basedow’sche Krankheit. Und um der schönen Augen dieses Frauenzimmers willen opfern wir unsere Freiheit!
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Die skurrilste Form, in der sich die Menschenwürde auftut: Das empörte Gesicht eines Kellners, der auf ein Klopfen endlich herbeikommt, nachdem man vergebens gerufen hat.
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Die Plattform des Humors: Die Passagiere eines Omnibus lächeln, wenn einer beim Aufsteigen ausrutscht. Dieser lächelt, wenns ihm dennoch gelungen ist.
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Wer die Menschenverachtung an der Quelle studieren will, setze sich in ein Restaurant, das in der Nähe eines Theaters ist, und betrachte die Gesichter der einströmenden Scharen. Wie die Spannung, die noch auf den Zügen der Dummheit liegt, allmählich nachlässt und die Zufriedenheit ein neues Ziel findet. Das Klatschen wird zum Schmatzen sublimiert. Und jeder wäre einzeln befangen und ist nur im Chorus glücklich.
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Wo beginnt denn eigentlich die Unappetitlichkeit und wo hört sie auf? Verdauungssäle gibt es nicht. Aber warum gibts keine Essklosetts? Öffentlich essen und heimlich verdauen, das passt so den Herrschaften! Und doch geht nichts über die Schamlosigkeit einer Table d’ hôte.
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Der Deutsche sagt: Bis ich mit der Arbeit fertig bin, geht’s mir gut. Und meint, dass es ihm so lange gut gehe, solange er mit der Arbeit beschäftigt ist. Der Österreicher sagt: Bis ich mit der Arbeit fertig bin, geht’s mir gut. Und meint, dass es ihm erst gut gehen werde, wenn er mit der Arbeit fertig sei. Diese Anwendung des »bis« lässt beim Osterreicher auf einen grenzenlosen Optimismus schließen. Er setzt den Anfang für ein Ende. Will er aber ausdrücken, was der Deutsche meint, so hilft er sich mit einem eingeschobenen »nicht«. Er sagt: Bis ich nicht mit der Arbeit fertig bin, geht’s mir gut. Er bequemt sich also nicht ohne Widerstreben zu dieser Auffassung. Er ist einer, der sichs gut gehen lassen will und mit der Arbeit nicht fertig wird.
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Es gibt kein unglücklicheres Wesen unter der Sonne, als einen Fetischisten, der sich nach einem Frauenschuh sehnt und mit einem ganzen Weib vorlieb nehmen muss.
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Herr, vergib ihnen, denn sie wissen, was sie tun.
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In der Sprachkunst nennt man es eine Metapher, wenn etwas »nicht im eigentlichen Sinne gebraucht wird«. Also sind Metaphern die Perversitäten der Sprache oder Perversitäten die Metaphern der Liebe.
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In der Erotik gibt es diese Rangordnung: Der Täter. Der Zuschauer. Der Wisser.
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Ein Gast des Bey von Tunis wollte eine Bastonade sehen. Sogleich wurde ein Kerl von der Straße herbeigeschleppt und geprügelt. Den Gast überkam die Humanität, denn er hatte geglaubt, die grausame Strafe werde einen Schuldigen treffen. Der Bey von Tunis meinte: »Er wird schon was angestellt haben!« …. Es stünde auch der zivilisierten Justiz wahrlich besser an, wenn sie nicht dort bastonierte, wo einer etwas angestellt hat, sondern dort, wo einer schon etwas angestellt haben wird. Die Justizmorde wären seltener.
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Wenn ein Fürst besonders geehrt werden soll, werden die Schulen geschlossen, die Arbeit eingestellt und der Verkehr unterbunden.
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In dieser Stadt gibt es Menschen und Einrichtungen, Kutscher, Wirtshäuser und dergleichen, von denen man nicht versteht, warum sie eigentlich so beliebt sind. Nach einigem Nachdenken kommt man aber darauf, dass sie ihre Beliebtheit ihrer Popularität verdanken.
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Wenn man vom Raseur geschnitten wird, ist man immer selbst schuld. Ich zum Beispiel zucke zusammen, wenn der Raseur von Politik spricht, und die Anderen werden ungeduldig, wenn er nicht von Politik spricht. In keinem Falle trifft den Raseur die Schuld, wenn man geschnitten wird.
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Wie abwechslungsvoll muss das Dasein eines Menschen sein, der durch zwanzig Jahre täglich auf demselben Sessel eines Wirtshauses gesessen hat!
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Sie ist mit einer Lüge in die Ehe getreten. Sie war eine Jungfrau und hat es ihm verheimlicht.
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Ich kenne keine schwerere Lektüre, als die leichte. Die Phantasie stößt an die Gegenständlichkeiten und ermüdet zu bald, um auch nur selbsttätig weiterzuarbeiten. Man durchfliegt die Zeilen, in denen eine Gartenmauer beschrieben wird, und der Geist weilt inzwischen auf einem Ozean. Wie genussvoll wäre die freiwillige Fahrt, wenn nicht gerade zur Unzeit das steuerlose Schiff wieder an der Gartenmauer zerschellte. Die schwere Lektüre bietet Gefahren, die man übersehen kann. Sie spannt die Kraft an, während die andere die Kraft frei macht und sich selbst überlässt. Schwere Lektüre kann eine Gefahr für schwache Kraft sein. Leichter Lektüre ist starke Kraft die Gefahr. Jener muss der Geist gewachsen sein. Diese ist dem Geist nicht gewachsen.
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Wenn Heine über den Diplomaten Eulenburg geschrieben hätte: »es fehlte ihm an Sitzfleisch und Ernst«, so hätte er hinzugefügt: natürlich nicht in jedem Sinne der Worte. Es wäre eine niedrige Pointe gewesen, im Stil jener Äußerungen über Platen, von denen man kaum begreifen kann, dass sie den literarischen Ruhm ihres Urhebers nicht erstickt haben. Heine hätte den Witz gemacht oder er hätte wenigstens sofort gemerkt, dass der ernstgemeinte Satz ein Witz sei, was auf das nämliche schöpferische Verdienst hinausläuft. Dem vollständig humorlosen Harden fehlt die Fähigkeit, einen Witz zu beabsichtigen oder sich eines witzigen Sinnes bewusst zu werden. Nun gibt es aber nichts, was das schriftstellerische Können empfindlicher bloßstellt, als im Leser Vorstellungen zu erzeugen, die man nicht beabsichtigt hat. Lieber nicht zum Ausdruck bringen, was man meint, als zum Ausdruck bringen, was man nicht meint. Der Schriftsteller muss sämtliche Gedankengänge kennen, die sein Wort eröffnen könnte, und sich jenen aussuchen, der ihm passt. Er muss wissen, was mit seinem Wort geschieht. Je mehr Beziehungen dieses eingeht, umso größer die Kunst; aber es darf nicht Beziehungen eingehen, die seinem Künstler verborgen bleiben. Wer den Diplomaten Eulenburg in eine Beziehung zu »Sitzfleisch und Ernst« bringt und nicht merkt, dass er einen Witz gemacht hat, ist kein Schriftsteller. Wer freilich den witzigen Sinn der Wendung herstellt, flößt mir nicht gerade Respekt ein. Ich hätte es damit so gehalten: Die ernste Bemerkung unterdrückt, weil ihr witziger Nebensinn mir aufgegangen wäre, und wäre sie mir als Witz eingefallen, sie gerade deshalb nicht geschrieben.
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Gewiss ist die Erwerbung von Persönlichkeit innerhalb einer Partei nicht denkbar. Steht man aber auch außerhalb aller Parteien, so kann man doch manchmal der Notwendigkeit nicht entgehen, eine Farbe zu bekennen, die zufällig eine Parteifarbe ist. Das ist fatal, aber als Schriftsteller hat man einen ehrenvollen Ausweg. Für die anderen mag die Meinung die Hauptsache sein, aber wichtiger ist der Tonfall, in dem man eine Meinung sagt. Der Berliner Journalist, der jahrzehntelang der Lebensanschauung des Adels hofiert hat, fühlt sich im Rechtsstreit mit einem Adeligen verkürzt und ruft: »Ob der Kläger Moltke oder Cohn heißt, ist einerlei; denn vor Gesetz oder Gericht sind alle Bürger gleich.« Das ist wahr. Aber es ist mit tierischem Ernst gesagt, so, als ob das ganze Gedankenleben des Sagenden in dieser Forderung kulminierte. Ich würde in ähnlicher Lage dieselbe Forderung stellen, aber ich glaube, dass mich beim stärksten Nachdruck, mit dem ich’s täte, noch immer eine Kluft von den Verfechtern der Menschenrechte trennte, und zwar so, dass das Gericht zur Einsicht von seiner Ungerechtigkeit käme und die Demokratie um meinetwillen Aufhebung der Gleichheit vor dem Gesetz verlangte. Wenn ich eine liberale Forderung stellen muss, so stelle ich sie so, dass die Reaktion pariert und der Liberalismus mich verleugnet. Auf den Tonfall der Meinung kommt es an und auf die Distanz, in der man sie ausspricht. Es ist ein Zeichen literarischer Unbegabung, alles in gleichem Tonfall und in gleicher Distanz zu sagen.
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Ist Schriftstellerei nicht mehr als die Fertigkeit, dem Publikum eine Meinung mit Worten beizubringen? Dann wäre Malerei die Fertigkeit, eine Meinung in Farben zu sagen. Aber die Journalisten der Malerei heißen eben Anstreicher. Und ich glaube, dass ein Schriftsteller jener ist, der dem Publikum ein Kunstwerk sagt. Das größte Kompliment, das mir je gemacht wurde, war es, als mir ein Leser gestand, er komme meinen Sachen erst bei der zweiten Lesung auf den Geschmack. Das war ein Kenner, und er wusste es nicht. Das Lob meines Stils lässt mich gleichgültig, aber die Vorwürfe, die gegen ihn erhoben wurden, werden mich bald übermütig machen. Ich hatte wirklich lange genug gefürchtet, man werde schon bei der ersten Lektüre ein Vergnügen an meinen Schriften haben. Wie? Ein Aufsatz sollte dazu dienen, dass das Publikum sich mit ihm den Mund ausspüle? Die Feuilletonisten, die in deutscher Sprache schreiben, haben vor den Schriftstellern, die aus der deutschen Sprache schreiben, einen gewaltigen Vorsprung. Sie gewinnen auf den ersten Blick und enttäuschen den zweiten: es ist, als ob man plötzlich hinter den Kulissen stünde und sähe, dass alles von Pappe ist. Bei den anderen aber wirkt die erste Lektüre, als ob ein Schleier die Szene verhüllte. Wer sollte da schon applaudieren? Wer aber ist so theaterfremd, sich vor der Vorstellung zu entfernen oder zu zischen, ehe die Szene sichtbar wird? So benehmen sich die meisten; denn sie haben keine Zeit. Nur für die Werke der Sprache haben sie keine Zeit. Von den Gemälden lassen sie es eher gelten, dass nicht bloß ein Vorgang dargestellt werden soll, den der erste Blick erfasst: einen zweiten ringen sie sich ab, um auch etwas von der Farbenkunst zu spüren. Aber eine Kunst des Satzes? Sagt man ihnen, dass es so etwas gibt, so denken sie an die Einhaltung der grammatischen Gesetze. An die aber muss sich der Schriftsteller nur so halten, wie der Bildhauer für reinen Thon zu sorgen hat. Darin kann man nicht unfehlbar sein, soll es auch gar nicht, denn die Verwendung unreinen Materials kann einem künstlerischen Zweck dienen. Ich vermeide Lokalismen nicht, wenn sie einer satirischen Absicht dienen, der Witz, der mit gegebenen Vorstellungen arbeitet und eine geläufige Terminologie voraussetzt, zieht die Sprachgebräuchlichkeit der Sprachrichtigkeit vor, und nichts liegt mir ferner, als der Ehrgeiz eines puristischen Strebens. Es handelt sich um Stil. Dass es so etwas gibt, spüren fünf unter hundert. Die anderen sehen eine Meinung, an der etwa ein Witz hängt, den man sich bequem ins Knopfloch stecken kann. Von dem Geheimnis organischen Wachstums haben sie keine Ahnung. Sie schätzen nur den Materialwert. Eine platte Vorstellung kann zu tiefster Wirkung gebracht werden; sie wird unter der Betrachtung solcher Leser wieder platt. Die Trivialität als Element satirischer Wirkung: ein Kalauer bleibt in ihrer Hand. Ich schreibe eine Satire über die Geheimniskrämerei einer Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, indem ich ihrer Chiffre Ö. G. Z. B. D. G. Deutungen gebe, die nicht nur jede für sich einen satirischen Sinn haben, sondern durch deren Technik ich eben jenes System der Heuchelei parodiere. Was bleibt davon? Lob oder Tadel eines Buchstabenwitzes. Der Tadel schmeckt noch besser. Ein Holzhacker im Blätterwald wirft mir die Wendung »Brahma um und Brahma auf« vor, als ob sie ein gemeiner Wortspaß sei. An und für sich ist sie es und bliebe es, wenn sie jenem eingefallen wäre. Der Kalauer, als Selbstzweck verächtlich, kann das edelste Mittel einer künstlerischen Absicht sein, weil er der Kontraktion einer witzigen Anschauung am besten dient. Jener derbe Spaß erhellt — ähnlich dem Wort »Der Schmock und die Bajadere« — blitzartig die Verwandlung des Wiener Nachtlebens in einen Esoterikerkultus, bedeutet also ein sozialkritisches Epigramm. Aber dergleichen über dem Stofflichen zu spüren, setzt eben jene literarische Kultur voraus, die man heute im Publikum beinahe so wenig wie bei den Literaten findet.
*
Lebensüberdrüssig sein, weil man in seiner Arbeit einen Fehler gefunden hat, den kein anderer findet; sich erst beruhigen, wenn man noch einen zweiten findet, weil dann den Fleck auf der Ehre die Erkenntnis der Unvollkommenheit menschlichen Bemühens zudeckt: durch solches Talent zur Qual scheint mir die Kunst vom Handwerk unterschieden zu sein. Flachköpfe könnten diesen Zug für Pedanterie halten; aber sie ahnen nicht, aus welcher Freiheit solcher Zwang geboren wird und zu welcher Leichtigkeit der Produktion solche Selbstbeschwerung leitet. Nichts wäre verfehlter, als von Formtüftelei zu sprechen, wo Form nicht das Kleid des Gedankens vorstellt, sondern seinen Körper. Diese Jagd nach den letzten Ausdrucksmöglichkeiten führt ins Innerste der Sprache. Nur so wird jenes Ineinander geschaffen, bei dem die Grenze des Was und des Wie nachträglich nicht mehr feststellbar ist, und in welchem gewiss oft vor dem Gedanken der Ausdruck war, bis er unter der Feile den Funken ergab. Die Dilettanten arbeiten sicher und leben zufrieden. Ich habe oft schon um eines Wortes willen, das die Zentigrammwage meines stilististischen Empfindens ablehnte, die Druckmaschine aufgehalten und das Gedruckte vernichten lassen. Eine unvermeidliche Torheit ist es ferner, zu glauben, das Fehlen eines nachgebornen Einfalls werde der Leser merken. Dieser Leser ist man selbst; der andere merkt auch die Einfälle nicht, die da sind. Und gegenüber einem Schreiben, das seine Unvollkommenheiten so blutig bereut, hält dieser seine am Journalismus entartete Lesefähigkeit für vollkommen. Er hat für ein paar Groschen ein Recht auf Oberflächlichkeit erworben: käme er denn auf seine Kosten, wenn er auf die literarische Arbeit eingehen müsste? Es stünde vielleicht besser, wenn die deutschen Schriftsteller den zehnten Teil der Sorgfalt an ihre Manuskripte wenden wollten, die ich an meine Artikel wende, nachdem sie erschienen sind. Ich bin mit einer Arbeit erst fertig, wenn ich an eine andere gehe; so lange dauert meine Autorkorrektur. Ein Freund, der mir manchmal als Wehmutter beistand, staunte, wie leicht meine Geburten seien und wie lange mein Wochenbett … Freilich geht aus all dem hervor, dass ich kein geselliger Charakter bin; ich könnte höchstens die Leute fragen, ob ihnen diese oder jene Wortfolge besser klingt.
*
Die wahren Agitatoren für eine Sache sind die, denen die Form wichtiger ist. Kunst hindert die unmittelbare Wirkung zu Gunsten einer höhern. Freilich sind ihre Produkte nicht marktgängig. Sie fänden nicht einmal dann reißenden Absatz, wenn die Kolporteure riefen: »Sensationelle Enthüllungen aus dem deutschen Sprachschatz!«
*
Eine kunstlose Wahrheit über ein Übel, über eine Gemeinheit, ist ein Übel, eine Gemeinheit. Sie muss durch sich selbst wertvoll sein: dann gleicht sie das Übel aus, versöhnt mit der Kränkung, die der Angegriffene erleidet, und mit dem Schmerz darüber, dass es Übel gibt.
*
Den Leuten ein X für ein U vormachen — wo ist die Zeitung, die diesen Druckfehler zugäbe?
*
Nach Ägypten wär’s nicht so weit. Aber bis man zum Südbahnhof kommt!
*
Die Polizei sieht jetzt scharf darauf, dass sich nur das Alter und die Hässlichkeit dem Laster ergeben. Im Bordell findet nur eine solche Frau Aufnahme, deren Verdorbenheit noch aus einer früheren Polizeiära datiert und deren Tugend etwa mit den Linienwällen fiel. Es muss eine Emeretrix sein … Die Invaliden singen: Uns hab’ns g’halten!
*
Die Leute verstehen nicht deutsch; und auf journalistisch kann ich’s ihnen nicht sagen.
Karl Kraus.
14. Juli 2012 | Kategorie: Notizen aus Medienland, Notizen zur Zeit
Kölner Stadtanzeiger 14.7.2012
84-Jährigen beraubt und geschlagen
Ein Räuber hat am Donnerstag einen Senioren überfallen und zwei wertlose Gegenstände gestohlen. Kurz vor Mitternacht schlug der Täter den 84-Jährigen auf der Diepenbeekallee zu Boden. Jedoch trug dieser keine Wertgegenstände bei sich – nur einen Roman und einen Regenschirm. Mit d e m D i e b s t a h l d i e s e r D i n g e hat sich der gesuchte T ä t e r s t r a f b a r g e m a c h t . Die Polizei bittet nun Zeugen, die Hinweise zur Tat und zum Täter machen können, sich unter der Telefonnummer 0221/2290 zu melden.
Hätte der Täter nur zugeschlagen, hätte man nachsichtig sein können, weil ein Niederschlag schon mal passieren kann, wofür man ja den Regenschrirm mit sich führte, aber bei samt Roman gestohlenem Regenschirm gibt es offenbar kein Pardon mehr oder habe ich da etwas missverstanden?
14. Juli 2012 | Kategorie: Artikel, Geld oder Leben, Justiz, Seelenmord, Was ein Mensch wert ist
Hier geht es ums Leben:
Hannoversche Allgemeine 22.05.2012
Hohe Strafe für Missbrauch der Tochter
Das Landgericht Hannover hat am Montag einen 38-Jährigen zu s e c h s J a h r e n u n d n e u n M o n a t e n Haft verurteilt, weil er sich 56-mal an seiner eigenen Tochter vergangen hat. Das Gericht befand ihn des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in 49 Fällen und schweren sexuellen Missbrauchs in sieben Fällen für schuldig. Beim ersten Vorfall war das Kind gerade s i e b e n J a h r e a l t .
Kölner Stadtanzeiger 09.07.2012
Hohe Haftstrafe für Kinderschänder
Klaus W. (Name geändert) aus Bergisch Gladbach muss für f ü n f J a h r e u n d s e c h s M o n a t e hinter Gitter. Der Vorsitzende Richter der Zweiten Großen Strafkammer am Kölner Landgericht verurteilte den Rentner wegen sexuellen Missbrauchs und Vergewaltigung in mindestens 28 Fällen zu der mehrjährigen Freiheitsstrafe.
Begonnen hatte der Missbrauch an den Kindern seiner Verlobten im Oktober 2009. Rund zwei Jahre verging sich Klaus W. immer wieder an den zum Zeitpunkt der ersten Taten n e u n und z w ö l f Jahre alten Mädchen. Laut der Staatsanwaltschaft wurden die Taten meist unter Alkoholeinfluss begangen. (…) St r a f v e r s c h ä r f e n d war nach Ansicht von Staatsanwaltschaft und Richter, dass der Missbrauch an den beiden Mädchen u n g e s c h ü t z t verlief.
Das G e s t ä n d n i s w i r k t e s i c h s t r a f m i l d e r n d auf das Urteil aus, ersparte es den Kindern doch die belastende Aussage vor Gericht. „ Die Mädchen befinden s i c h i n p s y c h i a t r i s c h e r B e h a n d l u n g , haben in der Schule nachgelassen, klagen über Schlafstörungen und Albträume“, sagte die S t a a t s a n w ä l t i n in ihrem Plädoyer. „Eines der Mädchen leidet unter nächtlichen Essattacken, ihre Schwester hat sich zurückgezogen und ist sozial isoliert“, berichtete die Vertreterin der Anklage weiter. (…) Verteidiger Bode hatte ein ähnliches Strafmaß erwartet: „Ein angemessenes Urteil für eine schlimme Tat.“
Hier geht es um Geld:
Frankfurter Rundschau 27.06.2012
Gerhard Gribkowsky Bayern LB Ex-Top-Banker muss hinter Gitter
Das Landgericht München hat den früheren BayernLB-Vorstand Gribkowsky zu acht Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Der Vorsitzende Richter sprach ihn der Bestechlichkeit, Steuerhinterziehung und Untreue schuldig. Der ehemalige Landesbanker Gerhard Gribkowsky muss für a c h t e i n h a l b Jahre ins Gefängnis. Er habe keinen Zweifel, dass sich der 53-jährige mit hoher krimineller Energie der Bestechlichkeit, Untreue und Steuerhinterziehung jeweils gewaltiger Millionensummen schuldig gemacht hat, sagte Richter Peter Noll bei seinem Urteilsspruch am Landgericht München. Als Höchststrafe wären 15 Jahre möglich gewesen. Die Staatsanwaltschaft hatte z e h n e i n h a l b Jahre Haft gefordert.
Herr Gribowski hat akzeptiert.Fünfzehn Jahre hätten es sein können für jenen Herrn, so wird getönt, der sich doch nur der Bestechlichkeit, Steuerhinterziehung und Untreue schuldig gemacht hat. Menschen hat er insoweit nicht geschadet, außer sich selbst möglicherweise. Das Leben der Kinder, die missbraucht wurden, ist zerstört, der Seelenmord vollendet. Doch machen weder Strafen nichts auch nur annähernd gut, noch nützt Vergebung, und so kommt es regelmäßig zu Urteilen, die das unversehrte Leben dem Recht auf Besitz strafgemildert nachordnen. Oben hält daher ein Verteidiger die Strafe für angemessen. An welcher Stelle des Urteils im zweiten Fall nicht verwendete Präservative sich strafverschärfend auswirkten, habe ich trotz intensiven Nachdenkens nicht herauszufinden vermocht. Wer sollte hier wovor zusätzlich geschützt werden, wo doch Schutzlosigkeit Bedingung für die Schandtat war? Da hier eine Staatsanwältin von Amts wegen tätig war und keine Hodenträger, die Anklage und Urteil zu vertreten hatten, muss ich mich korrigieren, der ich ausschließlich die Hodenträger verdächtigte, den Missbrauch der Kinder gegenüber dem Vergehen am Gelde zu mild zu beurteilen. Offensichtlich ist diese Haltung Programm. Vor Jahren las ich einen kurzen Artikel in der Ärztezeitung, dass drei Viertel der drogenabhängigen Frauen einen Missbrauch hinter sich haben. Der Artikel erlitt selbstverständlich das Schicksal jeder Randnotiz. Er wurde überlesen und vergessen – nicht von mir.