01. Dezember 2011 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Sprache, Verdichtetes
DIE FACKEL
NR. 751—756 FEBRUAR 1927 XXVIII. JAHR
S.36
Mein Widerspruch
Wo Leben sie der Lüge unterjochten, war ich Revolutionär.
Wo gegen Natur sie auf Normen pochten, war ich Revolutionär.
Mit lebendig Leidendem hab ich gelitten.
Wo Freiheit sie für die Phrase nutzten, war ich Reaktionär.
Wo Kunst sie mit ihrem Können beschmutzten, war ich Reaktionär.
Und bin bis zum Ursprung zurückgeschritten.
29. November 2011 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Notizen zur Zeit, Wilhelm II
Karl Kraus verlas in Innsbruck schier unglaubliche Augenzeugenberichte über Wilhelm II. Kaiser von Deutschland, den Mitinitiator des ersten Weltkrieges. Er ging nach dem Krieg ins Exil nach Holland, tat so, als wäre nichts gewesen, und niemand zog ihn je zur Rechenschaft.
Die Zeitung schreibt: Große Skandale bei einer Karl Kraus-Vorlesung in Innsbruck.
Der Korrespondenz Herzog wird aus Innsbruck telegraphiert: Bei einer Vorlesung, die der Schriftsteller Karl Kraus gestern Abend hier hielt, kam es zu einem ungeheuren Skandal. Als Kraus aus seiner Schrift »Die Letzten Tage der Menschheit« einige Kapitel vorlas, kam es bei der Verlesung des Vortrages »Kaiser Wilhelm mit seinen Generalen« zu furchtbaren Lärmszenen. Von der Galerie herab ertönten Pfuirufe …
Fakt ist, dass die vorhergehende Meldung bis auf die Tatsache der Vorlesung frei erfunden war, vielmehr waren die Zuhörer sprachlos von dem Gehörten. Das hätte die Presse, das hätten die Unbelehrbaren gern anders gehabt. Man lese im Folgenden selbst.
Die folgende „Würdigung“ sollte in die Geschichtsbücher, denn bei zu vielen ist die Botschaft über diesen Versager auf dem Kaiserthron noch nicht angekommen. Die Hervorhebungen wurden hier aus drucktechnischen Gründen etwa wie in „Die Fackel“, aber „fett“ abgedruckt. Die unten erwähnte Szene „Wilheln und die Generale“, wurde in „Die letzten Tage der Menschheit“ veröffentlicht.
DIE FACKEL
Nr. 531—543 APRIL 1920 XXII. JAHR S. 196 -306
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…Ich habe ihnen gesagt, dass ich den Berichten entsetzter Augen- und Ohrenzeugen manche Anregung zu der Szene »Wilhelm und die Generale« verdanke. So die widerwärtige Frage an den einen Flügeladjutanten, seinen erotischen Geschmack betreffend, die in Donau-Eschingen gesprochen ward und für die nicht Wilhelm, sondern ich ein Pornograph genannt wurde; sie war, als Eingriff in eine eheliche Intimität, noch weit abscheulicher als die an einen erfundenen Namen geknüpfte Wendung. Ferner jenen scherzhaften Fußtritt für den andern Flügeladjutanten, der sich in Schönbrunn ereignet hat, und zwar im Beisein Franz Josefs, des Prinzregenten und von allem was dazu gehört, auf der Szene des höchsten Zeremoniells, das sich die untertane Phantasie ausmalt, vor den verblüfften Vertretern aller Höfe. Ich habe nichts als den Schauplatz dieser Grässlichkeiten verändert, ihn ins deutsche Hauptquartier verlegt und die Rüpelszene mit dem Bombast der Gottesaufmachung kontrasthaft verbunden. Das Material zu dem eigenartigen Unfug, den ich den gekrönten Tollhäusler mit seiner Generalität treiben lasse — die heute kaum die Unbefangenheit aufbringen wird, als das letzte, was ihr geblieben ist, ausgerechnet die Ehre vorzuweisen — entstammt dem Werk »Der Seekrieg« von Kontreadmiral Persius (Verlag der Weltbühne, Charlottenburg 1919), aus dem ich hiermit die folgenden Stellen zitiere:
— — Die schon vorliegenden Veröffentlichungen und die sicherlich noch zahllosen nachfolgenden über Wilhelm den Zweiten werden auch Dem, dessen Blick bisher byzantinisch verschleiert war, klar machen, dass von Pflichttreue, ernster Auffassung seiner Stellung und dergleichen nicht die Rede sein kann. Krasser Materialismus war die Triebfeder für fast jede Handlung des Exkaisers. — —
— — Der Gedanke, dass Wilhelm der Zweite, einer seiner Söhne oder sein Bruder Heinrich ernste Arbeit leisten könnten, ist einfach absurd. — —
— — Die guten Eigenschaften der meisten Mitglieder des Seeoffiziercorps wurden durch den übeln Einfluss Wilhelms des Zweiten vielfach ertötet. Kriecherei nach oben, Fußtreten nach unten, ungesundes Strebertum, Genusssucht, Bombastereien wurden durch ihn großgezogen, und dem Material hat er durch sein Dreinreden in die Kriegsschiffkonstruktion unendlich geschadet. Unter dem Motto: »Mehr scheinen als sein« entstand so mancher Kriegsschiffbau. Es war im Königlichen Schloss zu Berlin, am 25. Februar 1905: ich war aus Ostasien in die Heimat zurückgekehrt und hatte Wilhelm dem Zweiten die Abgabe meines Kommandos zu melden. Ich erzählte ihm, dass die Chinesen mein Schiff mit geringschätzigen Augen betrachtet hätten, weil es nur Einen Schornstein führte. Schiffe mit mehreren Schloten, auch wenn sie schwächer armiert waren, hätten sich der Achtung dieser Kinder in weit höherm Maße erfreut. »Nein, nein, so ists überall, nicht nur in China«, wurde ich unterbrochen. »Die Menschen wollen Sand in die Augen gestreut bekommen. Klappern gehört zum Handwerk, das sage ich Tirpitz immer. Powerful, powerful muss solch ein Kasten ausschauen. Das ist die Hauptsache.« — —
Im Kreise des Personals der Marine erfreute sich Wilhelm der Zweite keiner Sympathien. Die Offiziere der »Hohenzollern« — die Garde — und ähnliche Günstlinge unterdrückten selbstverständlich jede Kritik, aber sonst wurde offen über den Kaiser geschimpft. Man nahm ihn nicht ernst, wusste, dass er ein Scharlatan war.
Dem Korrespondenten der ‚Daily Chronicle‘ hat Wilhelm der Zweite erklärt, dass seine Generale ohne seine Zustimmung gemacht hätten, was sie wollten. Das taten sie, und das taten mehr oder minder alle Offiziere bereits im Frieden. Die zahllosen Allerhöchsten Kabinettsordres wurden mit einem Lächeln gelesen und beiseite gelegt. Niemand richtete sich danach. »Je mehr Luxus und Wohlleben um sich greifen, umso mehr hat der Offizier die Pflicht …« Wer kennt sie nicht, alle die leeren Worte! Luxus und Wohlleben wurden im Offiziercorps durch Wilhelm den Zweiten großgezogen.
Wilhelm der Zweite hat — wenn auch nur »mit dem Munde« — unsre Flotte geschaffen, leider, denn sie war der ureigenste Grund des Krieges und unsrer Niederlage. Ohne unsre Flotte hätte sich Großbritannien niemals unsern Feinden gesellt. Aber was tat nun Wilhelm der Zweite im Kriege für die Flotte? Er erschien oft in Kiel und Wilhelmshaven und hielt Ansprachen. Nach der Schlacht vor dem Skagerrak sagte er, am fünften Juni an Bord des Flotten-Flaggschiffs in Wilhelmshaven, zu der Abordnung der Mannschaften sämtlicher Schiffe: »Die englische Flotte wurde geschlagen. Der erste gewaltige Hammerschlag wurde getan, der Nimbus der englischen Weltherrschaft ist geschwunden. Ein neues Kapitel der Weltgeschichte ist von euch aufgeschlagen. Der Herr der Heerscharen hat eure Arme gestählt, hat euch die Augen klar gehalten. Kinder, was ihr getan habt, das habt ihr getan für unser Vaterland, damit es in alle Zukunft auf allen Meeren freie Bahn habe für seine Arbeit und seine Tatkraft …«Ein sehr loyaler, äußerst königstreuer alter Seeoffizier, der die Schlacht mitgemacht hatte und bei der Rede anwesend war, sprach bald darauf die folgenden Worte: »Wir lagen mit unsern arg zusammengeschossenen Schiffen am Bollwerk. Die vielen Toten und Verwundeten wurden an Land geschafft. An den Kais standen die schwarz gekleideten Angehörigen, Frauen und Kinder weinten herzzerbrechend. Uns war gar nicht siegestrunken zu Mut. Wir wussten, dass dies die erste und letzte Schlacht gewesen war, die wir schlagen konnten. Unerhörtes Glück hatten wir gehabt, undenkbar, dass es noch einmal so gut für uns abgehen würde. Da kam der Kaiser an Bord, sehr aufgekratzt, übersät mit Orden, umgeben von seinem großen Gefolge, das lachend gnädigst rechts und links Händedrücke und Glückwünsche austeilte. Die bombastische Ansprache des Kaisers, der ganze Zauber war mir so widerwärtig, dass ich mich schüttelte. Ich ziehe die Uniform aus, sobald es möglich ist.«
So also war die Wirkung »kaiserlichen« Gebarens! Überall verscherzte sich Wilhelm die Sympathien; von Keinem, der sich ein bisschen Rückgrat bewahrt hatte, konnte er geachtet werden.
In einem norwegischen Hafen wars. Wilhelm kehrte an Bord zurück. Wir Offiziere standen am Fallreep zur Begrüßung. Wilhelm stieg »high spirits«(d.h. betrunken. Anm. d. Red.) die Treppe herauf. Er schwankte ein wenig. Wir konnten ein despektierliches Lächeln nicht unterdrücken. Wilhelm bemerkte es und rief mit einer drastischen Handbewegung:
»Was, Ihr verf… Kerls, wollt Ihr euern Obersten Kriegsherrn auslachen? Ich werde euch …«
Ein Kreuzer hielt Schießübungen ab. Wilhelm an Bord. Heiterer Sonnenschein, warmes schönes Wetter. Wilhelm war in bester Laune. Hier und dort, wie er das bei solchen
Gelegenheiten liebte, teilte er mit seiner starken rechten Hand Schläge aus an — Bevorzugte, ulkte überall herum. Sein Leibmedicus, der
Generalarzt … stand auf der rechten Seite der Kommandobrücke, am hintern Geländer. Dem alten Herrn war das lange Stehen wohl beschwerlich. Traumverloren schaute er,
hintenüber gelehnt, aufs glitzernde Meer, in den blauen Himmel und ließ sich wohlig von der warmen Sonne bescheinen.
Da sprang Wilhelm auf ihn zu, griff ihm mit der rechten Hand zwischen beide … und rief ihm einige Worte zu, die ich, weil ich einige Schritte entfernt stand, nicht genau hören konnte. Der arme Generalarzt taumelte vor wahnsinnigem Schmerz und krampfte sich an das Geländer, um nicht niederzusinken. Kreidebleich war er geworden. Wilhelm war anfangs in ein tolles Gelächter ausgebrochen, wandte sich aber, als er die Wirkung seines Zugriffs sah, stumm ab und ging auf die andre Seite der Brücke. Es sollte wohl ein Scherz sein, aber es war ein höchst übler Scherz und ein unanständiger, besonders zu verurteilen, weil das Signalpersonal und verschiedene Matrosen den Vorfall mit ansahen.
Auf einem Schiff, mit dem Prinz Heinrich längere Zeit auf der ostasiatischen Station geweilt hatte, gab es bei der Heimkehr in Kiel Inspizierung durch Wilhelm. Es war im März
und das Linoleum auf der Kommandobrücke schwitzte bei der feuchten Witterung viele dicke Tropfen aus. Wilhelm war in übermütigster Laune und Riss einen Witz nach dem andern. Sein Flügeladjutant Admiral … stand vor ihm, mit dem Rücken zu ihm. Plötzlich sauste die rechte Hand Wilhelms mit aller Wucht auf des Admirals hintere Front nieder, so dass dieser sich vor Schmerzen krümmte. »Sind Sie verrückt geworden? P…. Sie mir doch nicht immer auf die Stiebeln«, schrie Wilhelm ihn an. Die breite große Kommandobrücke des Panzerkreuzers war voll von Offizieren, Unteroffizieren und Matrosen, die das Schauspiel grinsend mit ansahen. Kann Jemand ermessen, was solch ein Gebaren Wilhelms für einen Offizier bedeutete, der mit heißer Liebe an seinem Beruf hing, der loyal seine Kräfte in den Dienst seines Obersten Kriegsherrn zu stellen bemüht war? Nur Der kanns, der sich in ähnlicher Situation befand. Der weiß, wie einem der Ekel in den Hals stieg, wie man Jenen, der einem alle Begeisterung vernichtete, hätte anspeien mögen. Mir war an dem Tage die Freude über das Wiedersehen mit der Heimat geraubt. Als wir Offiziere am Schluss der Inspizierung, bevor Wilhelm von Bord ging, zusammen mit ihm für die ‚Woche‘ photographiert wurden, barg ich meinen Kopf hinter den Rücken eines Kameraden — ich wollte nicht mit S. M. auf einem Bild erscheinen. Und solche Fälle waren keineswegs Ausnahmen. Wie häufig machte man sich im engern Kameradenkreis Luft mit Worten wie: »Dieser Idiot!« oder: »Den Kerl kann ja kein Mensch ernst nehmen.« Und obgleich nur Eine Stimme über Wilhelm herrschte, obgleich alle ältern Seeoffiziere darin einig waren, dass er die Flotte und das ganze deutsche Volk dem Verderben zuführe, fand sich Niemand, konnte sich unter den obwaltenden Verhältnissen Niemand finden, der den Mut zur rettenden Tat aufgebracht hätte. Erst die Tragödie des viereinhalbjährigen Krieges führte zur Katharsis.
Wer mir vorwirft, ich hätte hier übertrieben, dem empfehle ich das köstliche Porträt Wilhelms des Zweiten von Johannes Fischart, das in der ‚Weltbühne‘ erschienen ist. Und wie ein andrer Seeoffizier — Admiral Foß — über seinen Obersten Kriegsherrn denkt, das entnehme man einigen Stichproben aus seinen »Enthüllungen über den Zusammenbruch«. »Wilhelm der Zweite war von vorn herein von der Überzeugung durchdrungen, dass ein durch Gottes Gnade an die Spitze eines Volkes gestellter Fürst Alles könne. Daraus entwickelte sich, geschürt durch eine grade bei seiner Veranlagung besonders verderbliche Vergötterung seitens seiner Umgebung eine schließlich krankhaft gewordene Eitelkeit, die dahin führte, dass er glaubte, die Fähigkeiten zu besitzen, sein eigner Kanzler und Generalstabschef sein zu können. Er duldete keine Einwendungen gegen seine Ansichten und Befehle. Wer sich zu Vorstellungen für verpflichtet hielt, wurde entfernt. So ist es gekommen, dass es schließlich keine aufrechten Männer mehr um ihn gab. Und wenn seine Verteidiger manche der Unbegreiflichkeiten seiner Handlungen seinen Beratern zur Last legen wollen, so muss darauf erwidert werden, dass er selbst daran schuld war, wenn diese nichts taugten. Es fehlte Wilhelm an Charakter. Es ist entschieden irrig, wenn von ihm als einem pflichtgetreuen Mann gesprochen wird. Sein ganzes Tun war nur von persönlichen Launen und Neigungen bestimmt. Überall wollte er mitreden, auch in Sachen, von denen er schon deswegen nichts verstehen konnte, weil er sich ein Urteil nur auf Grund von Studien hätte bilden können, zu denen ihm die dazu erforderliche Zeit und der dazu nötige Fleiß fehlten. Sein Wissen war ganz oberflächlicher Art. Es gab kein Gebiet, in das er sich versenkt hätte. Weder taktisch noch strategisch kam er als Führer in Betracht, weil dazu neben andrer Begabung Nerven gehören, und die besaß er nicht. Alles trieb er in oberflächlicher, spielerischer, dilettantischer Art, ließ eine Sache fallen, die er zuerst mit Feuer aufgenommen hatte, da sie nach kurzer Zeit das Interesse für ihn verlor, oder kümmerte sich nicht mehr um sie, wenn er auf nicht ohne weiteres zu überwindende Hindernisse stieß. Seine Überzeugung, alles zu verstehen, ging so weit, dass er sich sogar an einem vom Reichsmarineamt ausgeschriebenen Wettbewerb betreffend den Entwurf von Plänen für den Bau zu einem Panzerkreuzer beteiligte. Natürlich fehlte ihm dazu die erforderliche technische Bildung, und so wurde ihm ein Techniker als Mitarbeiter und Handlanger zur Verfügung gestellt. Das Unglück wollte aber, dass dieser lange der Praxis entrückte Herr seiner Aufgabe ebenso wenig gewachsen war, und so erklärt es sich, dass, wie bei der Prüfung festgestellt wurde, der kaiserliche Kreuzer umgefallen sein würde, wenn er ausgeführt und zu Wasser gebracht worden wäre. Wilhelm duldete keinen aufrechten Mann in seiner Umgebung. Schon seine krankhafte Eitelkeit erlaubte nicht, dass sich in seiner Nähe ein geistig hochstehender Mann sehen ließ. Er dachte nur an sich und sein Vergnügen. Ein sehr kluger und hoher Seeoffizier sagte im Sommer 1918: ‚Wehe dem Lande, an dessen Spitze ein solcher Feigling steht‘!«
Genügt das? Man erkennt, dass Admiral Foß weit schärfer spricht, als ich es getan. Danach brauch’ ich wohl nichts mehr von der andern Seite hierherzusetzen, von der Partei des Grafen Schulenburg, der »die liebe starke Hand unter Tränen zum letzten Mal küsste«, bevor Wilhelm als Deserteur über die holländische Grenze floh.
Der Admiral Foß ist ein Alldeutscher. Eine Stelle aus dem »Porträt«, auf das Persius verweist, betrifft die von mir verwertete Kaviar-Episode und lautet:
Der Kaiser war, am ersten Juli 1901, auf dem kleinen Kreuzer »Nymphe«, um in der Lübecker Bucht einem Torpedo-Versuchsschießen im Anschluss an die Kieler Woche beizuwohnen. Ein großes Gefolge war an Bord. In den Zwischenpausen der Anläufe kam Wilhelm ins Kartenhaus und erledigte hier Unterschriften. Tirpitz legte ihm die Schriftstücke vor. Als es ihm zu langweilig wurde, blickte er zu dem Offizier neben sich auf:
»Schrecklich, dieser Tirpitz mit seiner Tinte! Ein Glas Sekt wär’ mir lieber.« »Zu Befehl«, schnarrte der Offizier, sprang hinaus nach einer Ordonnanz und ließ eine Flasche besten Heidsieck kommen. (Für den Kaiser musste freilich der französische Champagner mit dem Etikett »Burgeff-Grün« versehen werden, weil er zu glauben wünschte, dass er vorzüglichen deutschen Sekt vor sich habe.) Der Kaiser trank das Glas bis auf einen kleinen Rest aus, ging, impulsiv, auf die Kommandobrücke, rief auf das Verdeck, wo sich das ganze Gefolge in Gala aufgestellt hatte: »Ha — Hahnke, Sie möchten wohl auch Sekt«, und schwippte den Rest auf das Gefolge. »Zu gnädig, Euer Majestät«, stammelten die Herren da unten und verbeugten sich tief. Der Kaiser kam belustigt ins Kartenhaus zurück und verlangte etwas zu essen. Man reichte ihm geröstete Kaviarschnitten. Er schmierte von einer mit dem Zeigefinger der rechten Hand den Kaviar und die Butter herunter, strich sie sich in den Mund, trat wieder hinaus auf die Kommandobrücke, rief hinunter: »Ha — Hahnke, möchten wohl auch Kaviar haben …!« und warf das leere Stück Brot unter die Hahnke und Konsorten. Ein neues: »Zu gnädig, Euer Majestät« war die devoteste Antwort. Dann erkundigte Majestät sich ganz leise bei dem Offizier nach der Geschwindigkeit dieses Kreuzers und fragte, belehrt, hinunter: »Ha — Hahnke, wieviel Knoten fährt das Schiff in der Stunde?« Und als der Generaloberst stammelnd seine Unkenntnis zugestand: »Ha — Hahnke, wissen auch garnichts. Einundzwanzig Knoten, und Sie sind der zweiundzwanzigste.« »Zu gnädig, Euer Majestät.«
Dies, mit dem Herrn der Heerschaaren im Lästermaul, ist die Gestalt, die die Menschheit regiert und in den Tod geführt hat. Wie? ich habe, als ich sie vorführte, nicht diese, sondern mich in meiner »wahren Gestalt gezeigt«? Sie sahen in Innsbruck »die Mache eines eitlen Menschen, der klug genug war, sich den Anschein eines Gottesstreiters zu geben und so die Besten zu täuschen«? Vielleicht sehen sie sie jetzt! Sie erkannten »die namenlose Geschmacklosigkeit, den Wehrlosen zu treten«, sie wurden sich »mit einem Schlage bewusst«, hier sei einer »ohne Maske«? Ja, wer vermöchte sich denn auch dem Eindruck dieser Szenen an Bord, da eine animierte Majestät handgemein wird, zu entziehen, wer erlebte nicht schaudernd »die ekelerregende Minute der Offenbarung solcher Niedrigkeit«? Welche Enthüllung! Welch eine Wendung durch Gottes Fügung! Millionen starben und dieser Kaiser machte sich einen Jux. Der Weltmord war ein Trunkenheitsdelikt. Aber er war sich dennoch der Tat bewusst. Soweit bewusst: »die Früchte seiner Kälte einzuheimsen, die ihm freilich jede innere Anteilnahme verbot, und seine Eitelkeit damit zu füttern«. Wer sähe es nicht endlich! »Und wer sein von ekelhafter Eitelkeit gesättigtes Gesicht sah, als die Bravorufe seiner Getreuen die Empörung Ehrlicher niederschrieen, wer auf diesem Gesicht, deutlichst für alle, nur die Befriedigung las, dass um ihn da unten gerauft werde«, da unten, wo die Millionen starben, »der wusste alles von ihm«! Ich wusste es, vielleicht wissen sie es jetzt auch. »Wäre es ihm auch nur eine Sekunde ernst gewesen um das, was er mit tönenden Worten am Ende vortrug«, noch am Ende, »er hätte sich nie — niemals so lächelnd, so befriedigt zeigen können. Der blaue Mantel fiel, aber es war kein Erz darunter, nur ein Komödiant«. So ist es, so muss, wer Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, es endlich erkennen; denn Donner und Blitze eines, der als Gott aus der Kriegsmaschine zu der Menschheit sprach, sie waren nur »die Gemeinheit und letzte Aussage einer Verworfenheit, die, den eigenen Hass auszuspeien und eine Eitelkeit des Umstrittenseins zu befriedigen, selbst die Tragik —denn Tragik ist es doch! — nicht respektiert«. Merken die Innsbrucker, dass ich noch immer vom Weltkrieg spreche, »der längst zu Ende ist«? Haben sie mich nicht mit dem Wilhelm verwechselt, den ich ihnen vorführte, und den Wilhelm mit mir?
Es kann nicht anders sein! Sie haben Gestalt und Gestalter verwechselt. Daher der Lärm! Sie haben in Innsbruck gegen die Zumutung getobt, dass ein solcher Ausbund Kaiser aller Deutschen gewesen sein will, und es mich entgelten lassen. Merken sie schon, wie sie’s gemeint haben, und dass ich liebe, wenn ich hasse? Sie liebe ich nicht und von ihnen würde ich die Liebe nicht lernen. Es sind viele Schieber unter ihnen; doch die andern sind unehrlicher. Sie werden mir kein Denkmal errichten. Es wird mir jenes genügen müssen, das ich ihnen errichtet habe. Und noch ein solches sollte ihnen zu denken geben. Ich habe an der Küste eines norwegischen Fjords vor vielen Sommern einen Leichenstein gesehen, der dem Andenken eines dort plötzlich verstorbenen deutschen Offiziers errichtet ist, der gleichfalls Hahnke geheißen hat, aber nur Leutnant war. Einheimische waren zu einer Auskunft erbötig. Der Leutnant Hahnke hatte einen jener Späße, die die Majestät, wie gewohnt, an Bord trieb und den er als Angriff auf seine Menschenehre empfand, mit einer leiblichen Berührung seines Kaisers beantwortet und aus dem hierdurch entstandenen Konflikt mit der Offiziersehre augenblicklich den Weg in den Selbstmord gefunden. Ehre seinem Andenken! Er war der einzige Deutsche, der mit Wilhelm II. die Sprache gesprochen hat, die Wilhelm verstand. Hätten sich zwanzig Jahre später so mutige Männer gefunden, der größte Leichenstein, der je einen Planeten überragt hat, wäre dem unsern erspart geblieben.
Nachdem er aber errichtet war, erhob sich der Prinz Joachim von Hohenzollern von seinem Tische im Hotel Adlon, ließ »Deutschland, Deutschland über alles« spielen und befahl einem Amerikaner, der auf Krücken ging, sich zu erheben. Er befahl es auch einem Holländer, und als es auch die Franzosen nicht tun wollten, warf er mit deutschen Sektflaschen nach ihnen. In dieser großen Zeit brachten die illustrierten Blätter Bilder, auf denen der deutsche Soldat, von dem auslieferungsgierigen Feind am Arm gehalten, von der deutschen Mutter Abschied nimmt; es war jener, der ein Kind in den Armen der Mutter getötet hatte. Und der deutsche Offizier nahm herzbewegenden Abschied von dem deutschen Mädchen; es war jener, der nachhause geschrieben hatte: »Und dann gibt es hier junge Mädchen, die hübsch zu entjungfern sind«. Dass ein harter Sieger, der in fünf Jahren deutsch gelernt hatte, die Macht zur Sühne des Unrechts missbrauchen wollte, schrie zum Himmel, nicht unser Tun. Eine Woche nach dem Durchbruch bei Adlon feierte Berlin Seelenaufschwung und in Deutschland gab es zehntausend Tote. Wenn diese tiefe Unbelehrbarkeit, die aus dem Schaden so wenig klug ward, dass sie ihn wieder erleiden möchte, vor nichts ihrer Weltunmöglichkeit inne wird, so sollte sie sich doch fragen, ob sie damals, als sie trunken in die große Nacht dieser Bluthochzeit taumelte, darauf gefasst war, dass ihr einmal der Bezirksrichter dies Todesurteil schreiben würde: dass jedem Diebstahl ein Milderungsgrund zuteilwird gemäß der »nach dem Kriege allgemein erfolgten Herabsetzung der Moral«. Und ob der nicht wahr gesprochen hat, der ihnen prophezeite, dass sie so viel Glorie erwerben werden, um so viel Dreck zu behalten! Sie, die uns die Zukunft gemordet haben, wollen, dass ihre Vergangenheit begraben sei? Nichts ist lebendiger als die Vergangenheit, nichts haben sie außer ihr! Das von Mordlust und Raubgier gezeichnete Gesicht, das die Lüge ihnen verklärt hatte, die Totenmaske dieses Zeitalters, hält durch!
29. November 2011 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Verdichtetes
DIE FACKEL.
NR. 484—498 OKTOBER 1918 XX. JAHR S. 81
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Halbschlaf
Bevor ich war und wenn ich nicht mehr bin,
wie war ich da, wie werde ich da sein?
Zuweilen dringen Duft und Rausch und Schein
vom Ende her und von dem Anbeginn.
Hab’ ich geschlafen? Eben schlaf’ ich ein,
und nun verwaltet mich ein andrer Sinn,
noch bin ich außerhalb, schon bin ich drin,
noch weiß ich es, und füge mich schon drein.
Dies Ding dort ruft, als hätt’ ich’s oft geschaut,
und dies da blickt wie ein vertrauter Ton,
und an den Wänden wird es bunt und laut.
Dort wartet lang’ mein ungeborner Sohn,
hier stellt sich vor die vorbestimmte Braut,
und was ich damals war, das bin ich schon.
29. November 2011 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Verdichtetes
DIE FACKEL
Nr. 640—648 MITTE JANUAR 1924 XXV. JAHR S. 63
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Du bist so sonderbar in eins gefügt
Du bist so sonderbar in eins gefügt
aus allem, was an allen mir behagte.
Du hast etwas von einer, die belügt,
und von der andern, die die Wahrheit sagte.
Du hast den Blick, der mir zum Glück genügt,
die Stimme, die es fühlte und nicht sagte;
begrenzt wie die, an die der Wunsch sich wagte,
unendlich an Erfüllung angeschmiegt.
Die Züge der Besiegten, die besiegt,
sind Spiegel aller Wonne, die mich plagte,
und allen Zwistes, der am Herzen nagte,
und daß ich mich vergnügte und verzagte,
und wie ich im Gewinn Verlust beklagte
von Federleichtem, das ein Leben wiegt.
25. November 2011 | Kategorie: Artikel, Notizen aus Medienland, Notizen zur Zeit, Was man so lesen muss
“Was man so lesen muss, und wo man nicht weiter weiß. “, wird Aufgefundenes, Kleines etwas größer darstellen, damit auch im Kleinen in ferner Zukunft mehr Sorgfalt herrsche.
Welt online 15.11.2011 über den CDU Parteitag
Kauder-Rede
„Auf einmal wird in Europa Deutsch gesprochen“
Schuldenbremse, Haushaltsdisziplin, stärkere Kontrolle: Unions-Fraktionschef Kauder fordert eine einheitliche Politik in Europa – und teilt gegen Erdogan aus.
Der Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag, Volker Kauder, hat vor einer I s o l i e r u n g e i n z e l n e r S t a a t e n in der Europäischen Union gewarnt. Das wäre ein „verhängnisvolles Signal“, sagte Kauder am Dienstag beim CDU-Parteitag in Leipzig.
Volker Kauder sieht M e r k e l s P o l i t i k als V o r b i l d für andere EU-Länder.Er forderte Einsatz für eine einheitliche Politik der EU. Diese müsse lauten: „Schuldenbremse, Haushaltsdisziplin und stärkere Kontrolle.“
Ein Europa der Zeitenwende
Kauder sagte: „Wir befinden uns in Europa in e i n e r g e w i s s e n Z e i t e n w e n d e . (…) W i r s p ü r e n , d a s s w i r d i e s e s E u r o p a in eine n e u e Z e i t f ü h r e n müssen.“
Am Vortag hatten die Christdemokraten einen Leitantrag zur Europa-Politik beschlossen, wonach kein hoch verschuldetes Euro-Mitglied aus der Währungsunion ausgeschlossen werden soll. Hier grenzt sich die CDU von ihrer Schwesterpartei CSU ab, die einen Rauswurf nicht ausschließen will.
Kauder deklinierte den Beschluss noch einmal durch und bezog sich mehrfach auf die Rede von CDU-Chefin und Bundeskanzlerin Angela Merkel am Montag. Er fügte hinzu: „ A u f e i n m a l w i r d i n E u r o p a D e u t s c h g e s p r o c h e n.“
Das Peter- Prinzip besagt, dass jeder solange befördert wird, bis man merkt, dass er es nicht kann. Den überzeugendsten Beweis liefert Guido Westerwelle, aber jetzt legt Volker Kauder nach. Eigentlich hatte ich bisher eine ungefähre Vorstellung davon, was mit dem Wort Kauderwelsch umschrieben wird. Die Frage, ob Politiker – mit Ausnahme von Helmut Schmidt – nachdenken oder sich der Meinungsumfragen als demokratische Legitimation bedienen, kann nach obiger Einlassung erneut kurz und knapp mit „Nein“ beantwortet werden. Nach der Rede von CDU- Generalsekretär Volker K a u d e r habe ich für mich als Erstes die Schreibweise korrigiert: „Kauder“welsch. Denn darum handelt es sich, was er da den welschen , d.h. allen romanischen Völkern und was sonst noch rundherum irgendwelche europäischen Dialekte spricht, klar macht : Es wird ab sofort D e u t s c h gesprochen. Nicht nur, dass er mit der berechtigten Warnung vor der I s o l i e r u n g e i n z e l n e r S t a a t e n, in seinem folgenden Gedankenabgang mit dem untrüglichen Fingerspitzengefühl einer Drahtbürste , D e u t s c h l a n d umgehend verbal zu i s o l i e r e n beginnt. Er hätte sich seine gefährlich – unsinnigen Bemerkungen verbieten müssen, und sein Gewissen, wenn schon nicht sein Wissen, würde eine nicht näher begründete g e w i s s e Z e i t e n w e n d e, auf ungewisse Zeit verschoben haben. Dann stolpert noch die aller Vernunft spottende, unsägliche Bemerkung über einen Primat der deutschen Sprache in Europa hinterdrein, der angesichts der europäischen Geschichte idiotisch klingen muss. Schon einmal wurde i n e i n e n e u e Z e i t angeblich mit deutscher Sprache g e f ü h r t, aber die Erinnerung daran verbindet sich bei den Völkern Europas nicht mit Worten sondern Untaten. Das alles hat Volker Kauder offensichtlich nicht mit s p ü r e n gemeint, während er Europa dank deutscher Sprache in eine n e u e Z e i t zu f ü h r e n gedenkt, die einen Fürsprecher, wie ihn, weder braucht noch verdient hat.
16. November 2011 | Kategorie: Artikel, Notizen zur Zeit
Die neuerlichen Mordtaten der Neonazis sind so unbegreiflich wie erwartet. Man hat sie wieder nicht beim Wort genommen. Sind 1500 Straftaten in den letzten Jahren nicht beweiskräftig genug, um diese Menschenverächter beim Wort zu nehmen? Seit Jahren ließ man Aufmärsche und Demonstrationen von Neonazis zu und zahlte aus dem Steuergeldtopf an die rechten Parteien, die damit das Treiben finanzierten, welches nun in vielfachemMord gipfelt. Gutbezahlte V- Leute unterstützen mit Honoraren vom Verfassungsschutz die rechte Tätigkeit und waren wichtiger als ein Verbot der NPD. Verfasst von mir vor langer Zeit, wird im Nachfolgenden ein Artikel aus traurigem Anlass erneut veröffentlicht. Er wurde im September 1992 nach Rostock, vor den Anschlägen in Mölln und Solingen geschrieben, als erste rechte Mordtaten sich ankündigten. Ein kritischer Kommentar zu den Auswüchsen, den der Stadtanzeiger Köln bis dahin schuldig geblieben war, wurde von mir damals als Leserbrief eingereicht und da wohl zu lang, nicht abgedruckt. Auch eine zweite verkürzte Einsendung mit Hinweis auf die Notwendigkeit scheiterte. Als ich dann an den Verleger Alfred Neven-Dumont persönlich sandte und eine Stellungnahme der größten Zeitung der Region anmahnte, äußerte er sich umgehend und unmissverständlich in einem Leitartikel zum rechten Treiben. Meinen Dankesbrief an ihn für die überfällige Stellungnahme hat die Redaktion, obwohl nicht an sie geschickt, gern abgedruckt. Schon damals nahm man am Anfang nicht so ernst. Dass die Ungeister aber ungerufen weiter machten, ist traurige Wirklichkeit. Wenn man das exzellente Phantombild eines der Täter nach dem Bombenanschlag in der Keupstraße in Köln noch einmal anschaut und mit dem Passbild vergleicht, ist heute auch aus damaliger Sicht nicht zu verstehen, warum bereits zwei Tage nach dem Anschlag jede rechte Verbindung in Abrede gestellt werden konnte. Wo waren und sind Verfassungsschutz und Staatsorgane? Seit den Tagen der braunen Apokalypse und trotz ihr hat sich in etlichen pensionsberechtigten Dumpfköpfen ein Gedanke nicht ausrotten lassen, der links immer für gefährlicher und rechts für nebulös staatstragend halten will, eingedenk der Debilität voraussetzenden Einlassung, wonach bei „Adolf“ nicht alles schlecht gewesen sein soll. Stimmt! Nicht für die Verbrecherlumpe selbst. Aber das Kurz- und Langzeitgedächtnis des gemeinen Bundes-Bild-Bürgers hat an dieser Stelle seit jeher einen Ausfall zu vermelden, den er nicht beklagen will und den auch die 68-er nicht komplett beheben konnten, wie man da sieht.Vor ein paar Monaten sollte das Erinnerungswerk für den Holocaust, die „Stolpersteine“ des Künstlers Gunter Demnig, laut Finanzamt keine Kunst mehr sein. Ebenso erlaubte ein Gericht das Zeigen einer Plakatkarikatur eines Israelis, der ein palästinensisches Kind auf einem Teller zerlegt. Das hatte mit Nazitum nur scheinbar nichts gemein, aber auch hieraus sprach der Ungeist, der verdrängt, verharmlost und die Folgen insgeheim billigt. Nicht nur in der Vererbungslehre gilt braun als dominante Augenfarbe. Deshalb ist es falsch, die Behörden auf dem rechten Auge für blind zu halten. Das rechte Auge ist braun.
„Marsch ohne Ziel, Taumel ohne Rausch, Glauben ohne Gott“. Konrad Heiden (1901-1966) über den Nationalsozialismus. Prägnanter als Konrad Heiden kann man es nicht auf den traurigen Punkt bringen und nahtlos auf die heutige Rechtsszene übertragen. In der Zeit der Weimarer Republik war Heiden einer der frühesten publizistischen Beobachter der NS-Bewegung. 1936 schrieb er in der Schweiz die erste bedeutende Hitlerbiographie, die mehr über die braunen Verbrecher aussagt als alle Nachfolgenden:
„Adolf Hitler- Das Zeitalter der Verantwortungslosigkeit.“ Auszüge daraus sind in Vorbereitung.
Das rechte Auge ist braun – Unbewältigte Gespenster von 1992
Eine glatte Stirn weist auf Unempfindlichkeit hin. Berthold Brecht
Die Auseinandersetzung mit dem Rechtsradikalismus ist keine Herausforderung an den Staat allein, sondern an das Gewissen aller. Wenn menschliche Maßstäbe so deformiert werden, dass Verletzungen, Tod und Mord geschehen, dann genügt kein banges Erschrecken, garniert mit den gängigen Sprüchen von Politikern, deren Unverdrossenheit nur noch von der Verdrossenheit ihrer Zuhörer übertroffen wird. Rechtsradikalismus beschreibt nicht ein Gesellschaftsproblem, sondern ist Ausdruck eines menschlichen Analphabetismus, dem mit Tat und im Wort Rede und Antwort gestanden werden muss. Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus ist für diese Leute dumpfes Dogma. Sie wollen die Millionen Ermordeter und Verfolgter ihrer geistigen Vorbilder nicht kennen. Mag irgendwo in mir eine Spur zumindest von Toleranz deutschpatriotischer Überzeugung vorhanden sein, so verschließt sich dem Denken jegliche Einsicht in gehobene rechte Arme, wenn das Leid der Flüchtlingsmillionen, der seelisch Verstümmelten, der Krüppel bedacht wird, das aus der Hasswelt der Nazis erstand. Aber welch sinnentleerte Ideologie, welche gedankenlose Wut, welche Menschenverachtung muss die treiben, die den Tod von zehn Millionen durch Hitler in den Tod gehetzter deutscher Soldaten, die so jung waren wie jene sind, für zu gering hält, um sich daran zu hindern, den rechten Arm zu heben? Hat es diese nachweislich „deutschen“ Opfer für neofaschistische Köpfe etwa auch nicht gegeben, wo sie alle anderen schon leugnen? Da gerät die gehobene rechte Hand zum Meineid auch an deren Schicksal und verhöhnt erneut jene Abermillionen Opfer in den KZ´s, in besetzten und verwüsteten Ländern. Wird nun Ausland in Deutschland verwüstet, bleibt verwüstetes Deutschland zurück.
Wenn dies an glatten Stirnen abprallt, die man > Skin Heads < nennt, dann fügt sich hinter den Stirnen glatte, platte Konsumphilosophie, deren Verdauungsfurz die Welt als Werbung verpestet, mit kapitalistisch, technogläubiger Ideenarmut zu der die Menschen abstumpfenden Sprachlosigkeit zusammen, von der es kaum ein Schritt ist zur menschenverachtenden Sprache der Rechtsszene. Unsere sinnabweisende Oberflächenhochglanzwelt wird auf nur Politur verzichten und Farbe bekennen müssen, will sie nicht die glatte Stirn als unbequemes Spiegelbild der eigenen Kälte erkennen. Der Fingerzeig auf rechte Gewalt und Rohheit weist auf das Pendant in uns, deren täglicher Geschäftigkeit und Fortschrittssucht, die Mitmenschlichkeit im eigenen Land, sowie hunderttausende verhungernder Kinder in allen Teilen der Welt, kaum eine Überlegung wert sind. So wird die beschädigte Humanität unserer Gesellschaft mühelos zum Geburtshelfer einer Verblendung, deren fanatisierte Ausgeburt uns jetzt als Täter entsetzt. Wem da nichts Besseres einfällt, als aus der zweiten Reihe klammheimlich am Stammtisch mitzutun oder als Zuschauer zu verdecken, der ist nicht rechts, sondern rektal. Man kann kein Auge mal eben zukneifen, wenn es rechts und braun ist. Nie hat Hass etwas aufgebaut, sondern immer alles für alle zerstört.
Die Antwort auf den Rechtsradikalismus kann nur eine kompromisslose Menschlichkeit sein, die das Gespräch mit den potentiellen Tätern nicht ausschließt. Das schlagende Argument der Demokratie muss Gewaltlosigkeit heißen, aber nur gegen die Gewaltlosen. Vom Rechtsterror bedrohte Menschen müssen um fast jeden Preis geschützt werden. Die gilt noch mehr für jüdische Menschen und all jene, die schon einmal in Deutschland Angst haben mussten. Eine Regierung, die ihre Bevölkerung bei dieser Aufgabe im Stich ließe, würde zum Bankrotteur ihrer moralischen Grundsätze. Wer rechts wählt oder gedenkt es zu tun, wird mitschuldig. So paradox es klingt, diese menschenverletzende Ideologie gibt uns die Chance schon verlorene Menschlichkeit wiederzufinden, indem wir sie als Mahnung und Auftrag begreifen, gegen die Kälte eines computergesteuerten Zeitalters anzugehen, als dessen anachronistisches Überbleibsel der Mensch zu firmieren droht. Dass die Medien dabei helfen, muss Programm sein. Die an die Urgroßeltern und Großeltern oft gestellte Frage, warum sie damals nichts gegen Hitler getan hätten, kann heute von den Eltern überzeugend beantwortet werden, indem sie ihre Kinder zur demokratischen Ordnung notfalls nicht nur rufen sondern zwingen.
24. Oktober 2011 | Kategorie: Artikel, Journalisten, Notizen aus Medienland, Was man so lesen muss
Gaddafi ist tot. Die Bild-Zeitung und Spiegel zeigen das Bild des Erschossenen. Dazu die
Süddeutsche Zeitung.
Toter Gaddafi im „Spiegel“. Wenn ein Diktator zur Trophäe wird 24.10.2011
Von wegen kritische Distanz im Journalismus: Im aktuellen „Spiegel“-Heft ist ein Foto zu sehen, das den toten Muammar al-Gaddafi als Trophäe zeigt. Und auf eigenartige Weise an Hemingway erinnert. Das höchste Glück des Großwildjägers ist das Foto zum Schluss. Es zeigt den Waidmann mit Gewehr neben dem erlegten Tier, der Trophäe. Hemingway ließ sich so gerne ablichten (mit Leopard). Der Trophäen-Journalismus dieser Tage lebt davon, tote Gruselgestalten abzubilden, Diktatoren etwa. Im aktuellen „Spiegel“ posiert, gleich vorn in der „Hausmitteilung“, eine Redakteurin neben dem toten Muammar al-Gaddafi. Der libysche Schreckensherrscher liegt auf einer Matratze, in einem „gut gekühlten Raum von den Ausmaßen einer Autogarage“, wie es hausmitteilt; die Reporterin trägt eine Art Shopper-Bag. Keine Rolle spielen ethische Fragen, die Agentur AFP hat sich sogar des „weltweiten Scoops“ gerühmt, die Fotos des Toten verbreitet zu haben. Der Deutsche Journalistenverband hat einst festgehalten, Journalisten sollten zu Akteuren „kritische Distanz“ bewahren, sich politisch nicht instrumentalisieren lassen. Die Würde der betroffenen Menschen sei zu achten, hieß es.
Das war 2002, in der Steinzeit des „modernen Journalismus“.
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Wenigstens gut gekühlt hatte es die Redakteurin, deren Namen die „Süddeutsche“ nicht mitteilt und die wohl eiskalt genug für den Auftrag war. Das sei der Grundparagraph solcher Journalisten :
Die Würde des Menschen ist antastbar. Sie zu missachten und zu benutzen ist Aufgabe aller medialen Gewalt.
Dass sie keinen Respekt vor einem toten Gaddafi haben, der sicherlich ein Verbrecher war und dem sie als bedrohlich Lebenden zu seinen Machtzeiten doch sonst wohin hinterher- und hineingekrochen wären, verwundert nicht. Aber die Achtung vor der Würde eines Toten und vor allem der Majestät des Todes hätten die Veröffentlichung eines solchen Bildes verboten. Mich werden sie dafür als weltfremd abtun und machen doch mir die Welt fremd.
Nun gehörte Würde und Achtung noch nie zum Anstandskatalog der Bild-Zeitung und wie man da sieht, auch nicht zu der des „Spiegel“, dessen Journaille- Ethos, falls es so etwas überhaupt gibt, vor dem Bild des toten Gaddafi ungerührt kollabiert. Das fällt sogar der Münchner Konkurrenz auf. Leider verharmlost die „Süddeutsche“ unzulässig. Sie macht eine journalistische Würde im Jahr 2002 aus, in der Fehleinschätzung, der Journalismus habe damals die zu achtende Würde noch zu berücksichtigen gehabt, die er doch längst auf dem Boulevard erledigt hatte. Vermutlich wurde sie im dafür besonders erwähnten Shopper-Bag mitgeführt. Der noch an jedem Thema oder Foto sich willig prostituierende journalistische Informationsgehalt, der schon beim toten Saddam als rechtfertigende Notwendigkeit herhalten musste, fände das passende Spiegelbild in einem abfälligen Grinsen aus den Redaktionszellen, an dem solcher Einwand abtropfte. Dort sitzt beisammen, was eine Klientel bedient, der gleich ihnen von jeher der Geifer zu leicht von den Lefzen troff, zurechtgeknüppelt mit den Schlagzeilen ungezählter Millionenauflagen, gepresst noch aus jedem Kadaver, zum tagtäglichen Abfüllen der Großbuchstabenkonsumos.
Um den Wegstrecke der Zeitungskilometer zu ermessen, die bis in die Untiefen solchen Geschmacks führte, sei eine kurze Bemerkung eingefügt. Ein NDR-Redakteur berichtete von einem Geburtstag seiner etwa zehnjährigen Tochter, als Fernsehen noch nicht überall die Schule der Nation darstellte. Es waren Kinder vom Dorfe eingeladen und der Vater besaß ein Filmvorführgerät. Zur Feier des Tages wurde ein Film gezeigt, der die Dorfkinder mehrfach dazu veranlasste, aus Angst vor den sie aufregenden Bildern, das Gesicht hinter den Händen zu verbergen. Der Titel des Film lautete: „Der gestiefelte Kater“.
Welche Seelenverbildung, welche optischen Grausamkeiten sind zu erdulden, bis sich eine Leserschaft zu Leichenbildern z. B. ein Mittagessen servieren lässt, um nebenbei ganz angenehm bei laufendem Fernsehbild über Brutalität und Menschenverachtung der Welt zu räsonieren? Hinter jedem Täter, der auf einem Bahnsteig in der U-Bahn einen Mitmenschen erledigt, steht eine lange Reihe von Schreiberlingen und Bildmachern, die den Boden bereiteten auf dem das wuchs. Das Bild des erschossenen Gaddafi passt nahtlos in diesen Kontext. Eine Menschheit daran gewöhnt zu haben, bezeichnet eine Sünde, die nicht vergeben werden kann.
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Aus DIE FACKEL Nr. 418—422 8. APRIL 1916 XVIII. JAHR
Wehe, wehe über die Tagespresse! Käme Christus jetzt zur Welt, so nähme er, so wahr ich lebe, nicht Hohepriester aufs Korn, sondern die Journalisten!
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Gott im Himmel weiß: Blutdurst ist meiner Seele fremd, und eine Vorstellung von einer Verantwortung vor Gott glaube ich auch in furchtbarem Grade zu haben: aber dennoch, dennoch wollte ich im Namen Gottes die Verantwortung auf mich nehmen, Feuer zu kommandieren, wenn ich mich nur zuvor mit der ängstlichsten, gewissenhaftesten Sorgfalt vergewissert hätte, daß sich vor den Gewehrläufen kein einziger anderer Mensch, ja auch kein einziges anderes lebendes Wesen befände als — Journalisten.
Sören Kierkegaard, 1846.
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Und nach siebzig Jahren, wo es um so viel siebzigmal wünschenswerter wäre, als es siebzigmal mehr Gewehrläufe und Journalisten gibt, stehen sie nicht vor ihnen, sondern dahinter, haben sie laden geholfen und sehen zu, man zeigt ihnen, wie es schießt und fließt, und wartet, bis sie kommen, es zu beschreiben.
Welche Verantwortung nimmt die Erde, die solches will und erträgt, im Namen Gottes auf sich!
Karl Kraus
05. Oktober 2011 | Kategorie: Artikel, Kunst
Was ist Kunst? Von W.K. Nordenham
Kunst ist das Geheimnis der Geburt des alten Wortes. Der Nachahmer ist informiert und weiß darum nicht, dass es ein Geheimnis gibt.
Karl Kraus Nachts
Kunst ist das, was Welt wird, nicht, was Welt ist.
Karl Kraus Pro Domo Et Mundo
Die Frage, ob ein denkender und sehender Mensch Kunstausstellungen oder Museen besuchen soll, ist müßig, weil Verneinung den Verlust dessen nach sich zieht, was Sehen und Denken befördert. Was der Fragende als Antwort erhoffen könnte, wäre bestenfalls die allgemeine Erklärung, dass ein Mensch seiner Liebe zur Kunst nolens-volens zu folgen hätte oder sich mit Entsagung bestrafte. Er würde sich also aufmachen und nach dieser, seiner Liebe suchen, welche er sehr gut kennen muss, um sich nicht unversehens von flüchtiger Verliebtheit täuschen zu lassen. Die Fallstricke der Verführung liegen wie ein unsichtbares Netz über den Ausstellungshallen dieser Welt und verlangen mehr den besonnenen Genießer als den feurigen Liebhaber, der allein der subjektiven Empfindung ausgeliefert, den sicheren Grund jedes annähernd objektiven Maßstabs verliert.
Nun helfen Adjektive wie subjektiv und objektiv in der Kunst nicht allzu viel, wenn das offizielle Kunstverständnis jegliche Ordnung ablehnt, deren Verlust schon Picasso als „gefährlichen Nachteil“ gewürdigt hat. Dessen ungeachtet wird ein jeder für sich die Grenze markieren, was seinem Begriff nach als Kunst zu gelten habe, und was über diesen hinausreicht oder ihm zuwiderläuft. Dies gilt für die Künstler selbst, die Galeristen, Kritiker und sogenannte Sachverständige. Ohne Definition kommt offenbar niemand aus. Die äußerste Grenzziehung hat Josef Beuys vorgenommen, mehr als Denker, denn als Schaffender. Unbeschadet aller Anfechtungen kommt ihm das Verdienst zu, das Erkennbare mit den Mitteln äußerster Abstraktion, d. h. der Rückführung auf das Schöpfungsbedingte, Wesentliche, sichtbar zu gemacht zu haben, in Wort und in Bild. Beuys war Aphoristiker seiner selbst in Zeichnung und Skulptur. Leider gelang es ihm nicht ausreichend, seine Distanz zum L´art pour l´art zu formulieren. Vielleicht war es diesem Weltgeist auch nicht gegeben eine Einschränkung anzunehmen, weil für ihn und sein Werk keine bestand. L´art pour l´art besagt ja auch nicht grundsätzlich etwas gegen Kunst, wohl aber gegen Wesentlichkeit. Wesentlich sein zu wollen, aber ist die mindeste Forderung, die ein Künstler an sich zu stellen hat, als einzige Vorgabe, unverhandelbar und kompromisslos. Denn Kunst verträgt keine Kompromisse ohne sich zu kompromittieren, und wer sie macht, wird gewogen und für zu leicht befunden werden. Zum Glück ist die Waage nicht in den Händen der Kritiker, auch nicht in den Händen der Galeristen, die anders als der Künstler dem Zeitgeist verpflichtet sind oder sich am Markt orientieren müssen. Die Kunst hat nur eine Verpflichtung, Wahrheit – und eine Bedingung, Freiheit. Es hat nur eine Richtung zu geben – von der Wahrheit zur Wahrheit. Allein die Absicht entscheidet.
Nichts ist der Kunst ferner als tumbe Hinnahme aller Existenz, nichts ist ihr näher als bleibende Verwunderung über die Dinge und die Frage nach dem „warum“. Der schöpfende Geist befindet sich gleichsam in einer Umlaufbahn zu jenem Zentrum, in welchem die Auflösung des universalen Rätsels, nach dem Sinn aller Existenz und die Vollendung in der Erkenntnis, beschlossen ist. Hier findet sich der Ursprung, an dem es laut Karl Kraus kein Plagiat gibt. Man kann sich von allen Seiten nähern, jeder mit seiner Sicht, aber man bleibt in menschlicher Sphäre gebunden. Dies ist der Grund für die ungeheure Vielfalt des künstlerischen Ausdrucks, die das für uns Erkennbare des Rätsels jedoch zugänglich macht. Nur wer darum weiß und sich bis dahin gemüht hat, kann wie Sokrates behaupten, nichts zu wissen. Wer den Weg glaubt versäumen zu dürfen, wird manchen Gedanken, der soeben zur Plattitüde taugt, zum Aphorismus stilisieren wollen. Er darf sich des Beifalls derer, die mit ihm zurückgeblieben sind, gewiss sein. Die gilt auch und zunehmend für Kunst.
Ich spreche also nicht für die Plagiatoren oder Jünger, die den Weg der Meister soeben nachstolpern. Die Rede ist vom unabhängig denkenden, schöpferischen Menschen, der sich aufmacht, auf der Basis des Erkennbaren, seinen Weg zu suchen. Dieser Künstler ist nicht zu begreifen als ein Orakel, dessen spirituelle Heimat ein olympischer Apollo nebulös umfängt, sondern als Seher eines metaphysischen Eldorado. Vonnöten ist Intuition und Wissen, auch um das Handwerk, sei es Material, wie Farbe, Metall, Stein, Holz oder Wort und Musik. Kunst sucht Antworten auf die Frage nach dem >woher< und >wohin< und berichtet vom verschütteten Ursprung. Kunst eröffnet uns den einzig verbürgten Zugang zur Erinnerung an diesen Ort, und so wird der Künstler zum Bürgen des Urgeistes, nach dem ein verzweifelter Faust rief, indem er dessen Versprechen von Freiheit und Wahrheit erneuert. Nur wer aus dieser Quelle schöpft, hat ernstgenommen zu werden und Anspruch auf Gehör. Der Weg bis dahin erfordert äußerste Wahrhaftigkeit und Selbstdisziplin. Er heißt Selbsterkenntnis und hat sich nicht mit ästhetischem Schnickschnack aufzuhalten, welcher sich an der Gefälligkeit des Augenblicks orientiert. Ob nämlich Kunst gefällt, ist ohne jeden Belang. Auch Provokation kann unter diesem Aspekt nur Zufall sein und nicht Absicht, weil Provokation in der Kunst immer vom Betrachter ausgeht, der sich provoziert fühlt. Wer würde sich zum Beispiel heute einen Skandal um Rembrandt, Goya, Manet oder Van Gogh vorstellen können? Will ein Künstler primär oder nur Provokation, so lenkt er sich und den Betrachter ab, indem er das Bleibende dem ästhetischen Effekt opfert. Kunst, nur um der Provokation willen, entspricht der Zeitungsschlagzeile, die den nächsten Morgen nicht überdauert.
Seit Anbeginn haben sich die Künstler aller Kunstgattungen an ihrer Wahrhaftigkeit messen lassen müssen, wollten sie eine gültige Aussage über ihre Zeit und über sie hinaus machen. Sie stellten Fragen, die später zu Antworten wurden. Kunst, als Refugium aller persönlichen und universalen Freiheit, erlaubt den Blick über das Denkbare hinaus auf das Unbekannte, Fühlbare, Unfassbare, welches im Werk gezeigt, die Grenze des Möglichen neu bestimmt und damit die Speerspitze der Erkenntnis für ihre Zeit darstellt. Die Künstler, denen dieses Kunststück gelang, gelten über die Jahrtausende hinweg als die Großen.
Daraus erklärt sich, warum ein Mensch in der Kunst scheitern muss, der heute noch einmal wie Leonardo oder Raffael malen wollte. Er würde eine alte Wahrheit gleichwertig wiedergeben und wäre Plagiator. Wer auf altem Wege als zweiter kommt, hat bestenfalls die Möglichkeit, die bereits gefundene Wahrheit auszuschmücken, zu erweitern, zu interpretieren, aber er bliebe ein Nachahmer. Wer denselben Weg bewusst noch einmal gehen will, mag es tun, jedoch mit rein individueller Gültigkeit. Zum Wegweiser wird er nicht mehr taugen. Es gäbe nur eine Chance, dass er denselben alten Gedanken vom Ursprung her neu dächte für seine Zeit. So viele Wegweiser, so wenig Weise am Wege; wo sie Künstler sein wollten, sind sie zu Handwerkern geworden!
Wenn Kunst keine Richtung hat, dann hat Gesellschaft auch keine. So scheint mir die gegenwärtige Beliebigkeit der Kunstszene ein zuverlässiger Messwert für den Zustand einer Gesellschaft, die den Menschen zum Produkt ihrer selbst zu machen droht. Der Mensch, also auch der Künstler, wird zu einer abhängigen Größe. Je weniger sich ein Mensch aber ähnelt, desto besser funktioniert er. So schafft die entstellteste Gesellschaft das höchste Bruttosozialprodukt. Nicht mehr als dies hat Josef Beuys uns vor Augen gehalten. Längst kaufen ihn sogar diejenigen, die seine Ideen, seine Werke und am liebsten ihn für verrückt erklärt und verbannt gesehen hätten.
Wenn die Wörter ihre Bedeutung verlieren, verlieren die Menschen ihre Freiheit. Das kann man nicht oft genug wieder holen. Diesem Satz von Konfuzius ist hinzuzufügen, dass der Untergang der Kunst das Ende des Menschen einläutete. Die ewige Frage der Kunst bleibt unverändert. Früher wurde sie von den Philosophen beantwortet. In unserer Moderne mit dem Universalheilmittel Wirtschaft, überlegt man die Geisteswissenschaften abzuschaffen, mangels Effizienz. So führt der Primat von Wirtschaft und Politik zwangsweise irgendwann zum Menschen als Primaten. Deshalb hat Kunst heute auch einen Auftrag der Philosophie, nämlich die Bewahrung und Demonstration der menschlichen Identität. Sind doch beide, Kunst und Wort, jener Ewigkeit entliehen, der alle Existenz entstammt. Das Geheimnis dieser Existenz gleicht dem Geheimnis der Kunst, dessen völlige Aufdeckung so unmöglich ist wie die Notwendigkeit ihm nachzuspüren. Solange irgendwo auf der Welt ein Künstler diesen Auftrag annimmt, bleiben Kunst und Wort und Mensch bewahrt.
Doch während der Künstler sich noch als Hammer wähnt, läuft er Gefahr zum Amboss zu werden. Zu allen Zeiten hat Politik versucht, sich das ihr wesensfremde Refugium künstlerischer Freiheit einzuverleiben, um einen gemeinen, kontrollierten Verfügungsraum daraus zu machen und sei es im Nachhinein. Wie schon gesagt, hat Kunst nur eine Verpflichtung: Wahrheit, und eine Bedingung: Freiheit. Das meint Loslösung von jeder gesellschaftlichen Fessel. Wenn nichts mehr zwingt, dann entsteht die Bedingung für Kunst. Joseph Beuys hat das in einem Vortrag auf der Documenta formuliert und „Die Liebe zur Sache“ als treibendes Agens herausgehoben. Der Betrachter muss also sehr weit gehen, wenn er sich nähern will. Das führt dann zu verfrühter Ablehnung, häufiger noch verfrühter Zustimmung. Wenn ein Kunstwerk einen wahren Gedanken trifft, dann ist letztendlich nur wichtig, dass es diesen Gedanken gibt, wie etwa dem Urwaldriesen mitten im Amazonasbecken, dessen Wipfel noch niemand geschaut hat. Er gibt ihn! Das Urteil darüber ist unwichtig.
Über das Wesen der Kunst ist viel Widersprüchliches geschrieben worden. Sie lässt sich auch nicht mit einer schlichten Metapher erklären. Kunst spricht selbst, und es ist über sie nichts zu sagen, als Überflüssiges. Wer Kunst liebt, der liebt Freiheit, die ohne Absicht einfach „ist“. So bleibt Kunst im eigentlichen Sinne, was sie immer war: existentielle Notwendigkeit. Kunst will nicht verstanden, sie kann nur erfühlt werden, wie die Schönheit eines Steines, eines Regentropfens, eines Sonnenstrahls, eines Halmes, wie das Heulen des Windes, die vollendete Zeile eines Gedichts, wie die Stille der Nacht. Wenn sie erklärt werden soll, dann ist es mit ihr vorbei, wie mit einem Witz dessen Pointe erklärt werden muss. Kunst hat eine ganz eigene Pointe, dem Schöpferischen unmittelbar verwandt, und so ist Kunst dem Wesen nach, andersherum verstanden, ein Witz, über den ein Gott lacht.