Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

Notizen zur Zeit: Der Aufschrei Döpfner – Böhmermann und die Folgen. Von Sebastian Knüll

12. April 2016 | Kategorie: Artikel, Notizen zur Zeit, Was man so lesen muss

Solidarität mit Jan Böhmermann!
http://www.welt.de/debatte/kommentare/article154171281/Solidaritaet-mit-Jan-Boehmermann.html

Wenn Springer-Chef Mathias Döpfner ran muss, um Jan Böhmermanns vermeintliche „Schmähkritik“  und damit Presse- und Satirefreiheit höchstselbst zu verteidigen, spricht das Bände über den schmählichen Zustand derselben. Und wer hat sich dieser Tage nicht verwundert gefragt: wo ist sie denn nun, die breite Solidarität von Medien- und Volksvertretern, von jenen, die selten um ein klares Statement verlegen sind? Wo sind die, die bei unzureichender Rücksicht auf das, was des Menschen Grundrecht sei, auch gerne und vorschnell die moralische Keule freiwestlicher Rechtschaffenheit schwingen? Nicht nur Jan Böhmermann dürfte dies in seiner Demokratiegläubigkeit „erschüttert“ haben. Dass Kanzlerin Merkel dieser Farce durch Ihr devotes, – gleichwohl naives – politisches Anbiedern die Bühne bereitet hat, ist hinreichend dokumentiert.  Apropos, wurde nicht Angela Merkel in der türkischen Zeitschrift „Vakit“ als Hitler gezeigt[1]? Das war echte Schmähkritik, nicht als Satire gemeint und etwa analog Böhmermann ausdrücklich satirisch als solche vorab deklariert. Doch vielleicht gilt das türkischen Regierungsvertretern dieser Tage gar nicht als Schmähung?

Nun springt Mathias Döpfner heldenhaft auf die Szene und ruft ins Gedächtnis, was Kunst und Satire nach Tucholsky durfte und darf. Wie der Papst in der „Titanic“, so Erdoğan bei Böhmermann! Fast schon möchte man applaudieren. Hatte man ihn doch herbeigesehnt, den Verbündeten im schmählichen Spiel! Doch halt, was passiert im letzten Akt, will heißen: Absatz? Hier demontiert sich der Meinungsmogul selbst, indem er sich der Angstvision und -fiktion der europäischen Rechten „unterwirft“. Gleichzeitig versteht er die Provokation eines Michel Houellebecqs einseitig. Jener hatte zu seinem Roman „Unterwerfung“ in einem Interview[2] geäußert: „Ich spiele mit der Angst. Nur weiß man nicht genau, ob man vor den Identitären oder den Muslimen Angst haben soll“. Die Identitären, das sind die islamophoben, selbsternannten Verteidiger einer „abendländischen Kultur“ unserer Tage. Mit Ihnen macht sich Döpfner gemein, wider das Diktat der Despotie am Bosporus.

Jan Böhmermann hingegen gleicht Houellebecq in seinem Hang zur Provokation, zum Grenzdiskurs. Sicher auch zu verstehen als Gegenentwurf zu den geistig Gestrigen, im Abend- wie im Morgenland. Aus diesem Grund gebührt Jan Böhmermann die uneingeschränkte Solidarität aller europäischen Freigeister. Gerade jetzt bedarf es des Aufschreis der Mitte der Gesellschaft und der jungen Generation, deren Teil er ist.

Mit dem formellen Strafantrag Erdoğans[3] tritt nun das ein, was nicht nur die zum großen Teil Mathias Döpfner unterstellten Mediengestalter dieser Lande gleich einer „self-fulfilling prophecy“ herbeigetextet haben. Im Zweifelsfall für die eigene Quote! Und so eine Steilvorlage ungenutzt zu lassen, um den politischen Verhandlungspartner in diplomatische Zwangshaft zu nehmen, wäre aus Sicht des Fußballers Erdoğan[4] taktisch töricht. Wobei die Türkei hierbei, wie Vize-Ministerpräsident Kurtulmus meint betonen zu müssen, „absolut keinen politischen Druck“ auf Deutschland ausüben will. Dies soll man glauben, nachdem die Türkei wegen eines saloppen Satireliedes den deutschen Botschafter schon glaubte zweimal einbestellen zu müssen.

Angesichts solchen, politischen Blütentreibens scheint das Gebot der Stunde: Wer morgen nicht mundtot sein will, muss heute Wortmeldung machen. In diesem Punkt – und im Zweifelsfall nur diesem Einen – sollten wir uns solidarisch mit Mathias Döpfner machen. Und  in allen Punkten mit Jan Böhmermann.

Von Sebastian Knüll (Zusendung an DAS ROTE HEFT und hier von mir veröffentlicht, W.K. Nordenham)

Quellen:

[1] http://www.freenet.de/unterhaltung/promis/hakenkreuz-und-hitler-baertchen-tuerkische-zeitung-greift-merkel-an_841652_4729180.html

[2] http://www.welt.de/newsticker/dpa_nt/infoline_nt/boulevard_nt/
article136067088/Michel-Houellebecqs-Spiel-mit-der-Angst.html

[3] https://www.tagesschau.de/inland/tuerkei-boehmermann-107.html

[4] http://www.rp-online.de/sport/fussball/international/recep-tayyip-erdogan-erzielt-hattrick-auf-dem-fussballplatz-aid-1.4412645

 


Nahost: Einäugig hilft nie. Von W.K. Nordenham

09. März 2016 | Kategorie: Artikel, Notizen zur Zeit

Tägliche Morde und Gewalt in Israel und im Nahen Osten, einfach nur fürchterlich. Es reicht mir, und die Lügen reichen mir auch. Wer führt hier den Krieg?  Ich war zu Beginn der Unruhen, besser des Messerstecherterrors in Israel, ein nichtjüdischer Tourist.  Woher diese Gewalt? Das kann man leicht erfahren, wenn man will. Zum islamischen Opferfest im Oktober sperrte Israel den Tempelberg vier Tage lang für Juden, damit die Muslime dort ruhig feiern konnten. Dies in Übereinstimmung mit der seit 1967 federführenden muslimischen Verwaltung des Tempelberges. Am letzten Abend des Festes erlebte ich an der kilometerlangen Standpromenade in Tel Aviv ein wunderbares, buntes arabisch-israelisches Treiben.  Danach erlaubte sich dasselbe Israel wegen des direkt folgenden jüdischen Laubhüttenfestes, den Tempelberg vier Tage für Moslems zu sperren, damit ggf. einige Juden gefahrlos den Ort des alten Tempels besuchen könnten. Mehr war da nicht. Das überforderte die palästinensische Toleranz komplett. Reflexartig rief Abbas im besten „Stürmer“-Jargon aus, dass „Juden mit ihren dreckigen Füßen den Tempelberg nicht betreten“ dürften. Das führte bis heute zu vielen unschuldigen Opfern unzähliger Messerattacken, die nur von Palästinensern ausgehen, verblendeten jungen Menschen, die oft selbst einen sinnlosen Tod erleiden. Es wird noch nachgeschoben von Palästinenserseite als Begründung für die Welt und die Zweifelnden, Israel wolle am  Status des Tempelbergs etwas ändern.  Was für eine Deppenbehauptung!  Das kann man nur dem Westen erzählen. Der Dümmste in Israel  weiß, dass dies einen Weltkonflikt mit den Muslimen auslösen würde. Ein paar Tage danach habe ich auch an der Nordgrenze zu Syrien gestanden und die Artillerie Assads und die Maschinenkanonen der ISIS gehört. Das klärt den Geist nachhaltig – Bruderkrieg, Bürgerkrieg. Natürlich sollte Israel sich aus der sog. Westbank davonmachen, im eigenen Interesse, notfalls ohne jeden Vertrag und nur sichern, dass dort nicht gegen sie aufgerüstet würde. Das wäre schon gegen die Ultraorthodoxen im eigenen Lager schwer, die sich an palästinensischer Intoleranz messen lassen können. Zudem hat keine Konzession Israels, angefangen von Räumung des Südlibanon bis Gaza, feindliche Aktionen der Gegenseite auch nur vermindert. Aber was geschähe mit den jüdischen Siedlern im Westjordanland? Mord oder mindestens Vertreibung wie 1948? Denn damals verloren eben nicht nur über 700 000 Araber ihre Heimat bzw. die meisten flohen freiwillig auf den Rat der arabischen Kriegsstaaten hin, sondern es wurden in der Folge dieses ersten Krieges der Araber gegen Israel auch über 700 000 Juden aus den arabischen Ländern und der sog. Westbank vertrieben. Das wird gern unterschlagen. Da gab es also Gräueltaten auf beiden Seiten wie immer im Krieg. Eigentlich müsste doch es auch den Juden erlaubt sein mit all ihrem Nachwuchs nach Arabien zurückzukehren in ihre Häuser und Ländereien im Gegenzug zu der gewünschten Rückkehr der palästinensischen Araber im Sinn  einer Gleichheit, wenn jene denn aus Israel raus wollten.  Aber  die Tatsachen der Geschichte kann man nicht nach gusto zurückdrehen, weder in Europa, noch in Afrika oder Nahost. Das nennt man wohl Realität. Das gilt für Israel wie für die pälästinensischen Araber.

Und Gleichheit? Schon heute kann kaum ein Jude in arabischen Ländern sicher leben, und selbst die heimische Bevölkerung lebt nicht mehr sicher dort. In Israels pluralistischer Vielvölker- Gesellschaft gibt es 1,7 Millionen palästinensische Araber. Dreizehn davon sitzen frei gewählt im israelischen Parlament. Zusammenleben geht offenbar, aber nur dort. In Palästinensergebiet wartet diese Toleranz nicht, auf niemand. Und mit wem sollte Israel verhandeln? Mit dem machtlosen Abbas, der soeben noch den Mörder eines amerikanischen Touristen als Märtyrer feierte und der Fatah? Mit der diktatorisch-fundamentalistischen Hamas, die alle Israelis nur erledigen will?  Und wenn Israel aus der sogenannten Westbank ganz verschwände, hörte der Terror für Israel auf?  Nein, er käme nur noch näher. Frieden aktuell ist eine westliche Illusion. Man muss sich nur anschauen, wie die Araber schon mit einander umgehen. Tag für Tag Morde an der eigenen Bevölkerung. Was täten sie erst mit Juden, wenn sie könnten? Was mich besonders aufregt? Eine eigentlich überwundene mittelalterlich lügenhafte Geschichte über das Judentum wurde in ihrer absurden Widerlichkeit in Arabien tatsächlich als Film produziert:  Das Blut eines vermutlich christlichen Kindes wird von einem Rabbi zu Pessach für das Fastenbrot genommen. Das haben nicht mal die Nazis fertig gebracht. Allerdings Hass, Mord, Lüge für die eigene Sache, sog. Opfertod, Fanatismus werden zu Tugenden stilisiert, wie es weiland auch nur die Nazis fertig brachten. Das Ergebnis waren 55 Millionen Tote. Überhaupt fällt die Ähnlichkeit fundamentalistischer Islam- Ideologie mit dem Hitlerismus auf. Hass hat jedoch noch nie in der Geschichte zu etwas Gutem geführt. Die ganz frühen Texte des Koran haben das noch gewusst. Dann kommt mit der Macht oder soll ich sagen, dem Größenwahn der Hass auf die sog. Ungläubigen. Die revanchierten sich in Mord-Kreuzzügen und führten dabei die christliche Barmherzigkeit im Banner. Auch schon das alte Testament spricht  Gott diese Eigenschaft zu. Die Barmherzigkeit Allahs wird am Anfang eines jeden Koranverses besungen. Wo ist sie, diese Barmherzigkeit in der Welt  und vor allem im Nahen Osten?  Solange man Toleranz, Pluralismus und Demokratie für ein Übel hält, kann sich dort  nichts zum Guten ändern. Das verursacht  die Hoffnungslosigkeit der ganzen Region. Dagegen das aufstrebende Israel : absolut 21. Jahrhundert , einzige echte Demokratie, wo mal nichts war, mit eben 1,7 Millionen freien Arabern, die dort mehr Rechte haben als in jedem anderen arabischen Land. Und das hat nicht Amerika oder gar Deutschland bezahlt, wie mir mal ein ganz heller Kopf glaubte  stecken zu müssen. Über 30 Milliarden bekam übrigens die Palästinenserbehörde seit 1991. Wo ist das alles geblieben? In Gaza versickerte wohl das Meiste in den unzähligen Tunnelsystemen, statt zu den Menschen zu kommen.

Wohlgemerkt, ich bin nach wie vor für einen kompletten Rückzug Israels aus der sog. Westbank und einen Palästinenserstaat, weil das nicht funktionieren wird mit Samaria und Judäa, selbst wenn die Palästinenser in einem gemeinsamen, dann demokratischen Staat mit Israel politisch und vor allem wirtschaftlich ungleich besser aufgehoben wären. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hatte von Abbas vor einem Jahr bei einem Besuch in den USA die Anerkennung Israels als jüdischer Staat verlangt. Von palästinensischer Seite wurde dies unter dem Beifall des PLO Revolutionsrates umgehend zurückgewiesen. Der arabische Hass sitzt viel zu tief, unmöglich. Und Dauerbesetzung  geht auch nicht. Aber  wer käme, wenn Israel ginge? Nur die bekannten und erprobten Friedensstifter Hamas, Fatah, Hisbollah, IS und die ausgewiesen friedliebenden Unterstützer aus  Iran, Syrien, Libanon, Katar, Saudi-Arabien usw. . Vielleicht fällt Ägypten und Lybien dann auch noch was ein, damit von eigenen Problemen abgelenkt wird, und wir sind wieder bei 1967, als Israels Existenz beim dritten arabischen Angriffskrieg unmittelbar auf dem Spiel stand und Europa sich wie gewohnt fein raushielt. Warum sind EU, westliche Politiker und viele Intellektuelle so blind gegen die palästinensische Gewalt und sehen nur die Reaktionen Israels? Wann tat Amerika in den letzten 20 Jahren im Nahen Osten einmal etwas Vernünftiges, ganz zu schweigen von der Außenpolitik EU? Mit wessen Waffen kämpft ISIS? Außer Chaos hat Amerika nichts bewirkt. Dabei ist die Lage klar. Im Augenblick bleibt für Israel nur der Status quo. Ein Status Quo, der Gespräche miteinander erlaubte und der die palästinensischen Araber paradoxerweise schon jetzt vor IS schützt. An Israel wagen die sich nicht ran. Deshalb: man muss sprechen – ohne Vorbedingungen. Nichts geht dabei schnell.  Und noch ein Satz zur Fluchtbewegung nach Europa: Anfang 2014 sagte der bekannte Nahostexperte Dr. Dan Shiftan, die Lage in Nahost sei absolut hoffnungslos, das gäben kluge Araber auch zu und wenn Europa den Fehler machte, die Arme ausbreitete und alle Araber einladen würde, so bliebe keiner dort – außer denen in Israel. Auch das hätte Frau Merkel wissen können. Realismus ist gefragt, kein Wunsch- oder Gefühlsdenken.

W. K. Nordenham


Die Welt der Plakate. Von Karl Kraus

10. Februar 2016 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Werbung

Die Welt der Plakate sieht  sich heutzutags  überkotzt mit Werbung auf allen Kanälen. Selbst der einst ruhigste Ort ist nicht mehr sicher vor unnatürlichem Getöse. Es hilft nur die Flucht. Aber wohinsich wenden? Da drängt sich dann zuverlässig eine Last -minute- Empfehlung  zu einem Spottpreis ins Bild, die im Namen den Spott über den Konsumo debilis gleich kostenfrei mitliefert. Alles nicht neu, nur immer blöder werdend, eben dem Publikum angepasst.    W. K. Nordenham

Die Fackel Doppel-Nummer Nr. 283—284 26. Juni 1909 XI. Jahr   S. 19- 25

Die Welt der Plakate

(aus dem simplicissimus)

Von Karl Kraus

Schon als Kind war ich weniger darauf erpicht, das Leben aus den großen Werken der Kunst zu empfangen, als aus den kleinen Tatsachen des Lebens es zu ergänzen. Unbewusst ging ich den rechten Weg ins Leben, indem ich es mit jedem Schritt eroberte, anstatt es als eine Überlieferung an mich zu nehmen, mit der der junge Sinn nichts zu beginnen weiß. Die Erwachsenen, die noch immer eine kindische Freude daran haben, den vor der Tür des Lebens Wartenden den Christbaum mit den Geschenken einer fertigen Bildung zu behängen, wissen nicht, wie unempfänglich sie die Kinder für alles das machen, was die wahre Überraschung des Lebens bedeutet. Meine Neugierde war immer stärker als solche Befriedigung. Instinktiv wich ich der Verlockung aus, in mich aufzunehmen, was weisere Leute gedacht hatten, und während meine Kameraden schlechte Sittennoten bekamen, weil sie unter der Bank Bücher lasen, war ich ein Musterschüler, weil ich auf jedes Wort der Lehrer passte, um ihre Lächerlichkeiten zu beobachten. Ich war früh darauf aus, vom Menschen Aufschluss über den Menschen zu verlangen, und ich ließ eigentlich nur eine Form künstlerischer Mitteilung gelten, die mir das Wissenswerte unaufdringlich an den Mann zu bringen schien: das Plakat. Ein sentimentaler Gassenhauer, den am Sommersonntag ein Leierkasten vor unserem Landhaus spielte, hatte Macht über mein Gemüt; ich ließ ab, Fliegen zu fangen, und die Mysterien der Liebe gingen mir auf. Andere, die sich rühmen, dass der Tristan eine ähnliche Wirkung auf sie geübt habe, fangen noch heute Fliegen. Ich war stets anspruchslos, wenn es die Wahl der äußeren Eindrücke galt, um zu inneren Erlebnissen zu gelangen, und ich verschmähte jene starken Reizmittel, welche die schwachen Seelen brauchen, um eine trügerische Wirkung mit vermehrtem Schaden zu erkaufen. Kurzum, die vielen Bibliotheken und Museen, an denen ich im Leben vorübergekommen bin, werden sich am Ende über meine Aufdringlichkeit nicht zu beklagen haben. Dagegen zog mich von jeher das Leben der Straße an, und den Geräuschen des Tages zu lauschen, als wären es die Akkorde der Ewigkeit, das war eine Beschäftigung, bei der Genusssucht und Lernbegier auf ihre Kosten kamen. Und wahrlich, wem der dreimal gefährliche Idealismus eingeboren ist, die Schönheit an ihrem Widerspiel bestätigt zu sehen, den kann ein Plakat zur Andacht stimmen!

Es sind wertvolle Aufschlüsse, die ich den Affichen jener Zeit zu danken habe, da die ersten Versuche gemacht wurden, das geistige Leben ausschließlich auf die Bezugsquellen des äußeren Lebens zu lenken. Denn immer deutlicher wurde das Bestreben, dem Betrachter, dessen Denken von höheren Interessen abgelenkt war, einen vollgültigen Ersatz in den Plakaten selbst zu bieten. Die geistigen Werte, von denen er scheinbar entwöhnt wurde, sollte er eben dort wiederfinden, wo er sie am wenigsten vermutete, und umso größer musste seine Überraschung sein, die Schuhwichse, deren Beachtung er eben noch Kunst und Literatur geopfert hatte, just in Verbindung mit diesen unentbehrlichen Lebensgütern anzutreffen. Als ob man einen lieben Bekannten, von dem man sich in Europa verabschiedet hat, in Amerika wiedersähe: man kann sich vor Staunen nicht fassen und bleibt umso lieber, weil die unverhoffte Gesellschaft zur Empfehlung der Gegend beiträgt. Bis dahin war also die Erkenntnis von der Zweckdienlichkeit und Billigkeit eines Hosenstreckers eine Angelegenheit, die mit der Malerei, mit der Spruchweisheit, mit dem Gefühlsleben nichts zu schaffen hatte. Wenn wir aber den Hosenstrecker in der Verpackung künstlerischer oder geistiger Werte erhalten, warum sollten wirs nicht zufrieden sein? Warum sollten wir zwei Wege machen, wenn die Seligkeit auf einem zu erreichen ist? Warum sollten wir für kulturelle Ideale zahlen, die als Emballage für einen Hosenstrecker nicht einen Pfennig kosten! Aber mag immerhin bei der Monopolisierung der Lebensgüter durch den Kaufmann die bildende Kunst noch da und dort die Freiheit behaupten, selbst Ware zu sein, anstatt der Ware zu dienen. Dass das Wort des Schriftstellers seine Berechtigung außerhalb der industriellen Reklame verlieren wird, scheint gewiss. Nicht als ob das geistige Leben eine Verdrängung durch die merkantilen Interessen zu befürchten hätte; aber es wird aus seiner brotlosen Beschaulichkeit zu einem sozialen Beruf geführt werden, und manche artistische Begabung, die im Nebel undankbarer Probleme erstickt wäre, wird leben, um der Überzeugung zu dienen, dass »für die Ewigkeit« bloß ein Essbesteck geschaffen sei und noch dazu staunend billig zu haben.

Als man anfing, das geistige Leben in die Welt der Plakate zu verbannen, habe ich vor Planken und Annoncentafeln kaum eine Lernstunde versäumt. Und lange ehe ich das Wesen des Plakats als die Empfehlung einer Ware erkannte, empfand ich es als eine Warnung vor dem Leben. Ich wusste bald um den Stand des Geistes Bescheid. Mit der Offenbarungskraft eines Erlebnisses wirkte es auf mich, als ich einmal in einem Schaufenster die Darstellung zweier Männer sah, deren einer sich mit seiner Kravatte plagte, während der andere triumphierend danebenstehend, auf ein fertiges Werk zeigte und schadenfroh ausrief: »Aber lieber Freund, warum ärgern Sie sich so? Kaufen Sie sich Pollitzers Kragenhalter, der hält Ihnen Kragen und Kravatte fest!« Dass die Menschheit einen Anschauungsunterricht in diesem Punkte nötig habe, bedachte ich nicht. Ich nahm vielmehr an, dass es eine realistische Darstellung sei, dass in der guten Gesellschaft täglich solche Dialoge geführt werden und dass es viele Menschen geben müsse, deren Zentrum jenes Problem ist und deren Leben bloß einen Vorwand bedeutet, um den endlichen Zusammenschluss von Kragen und Kravatte zu erreichen. Und plötzlich sah ich es auf der Straße von solchen Leuten wimmeln, überall sah ich diese Gesichter, den verdrossenen Kämpfer und den fröhlichen Sieger des Lebens, ich lernte den Choleriker vom Sanguiniker unterscheiden, wiewohl beide einen aufgewichsten Schnurrbart und Schnabelschuhe hatten. Den ersten, entscheidenden Eindruck von einer Menschheit also, die in ihrer überwiegenden Majorität aus Ladenschwengeln besteht, empfing ich von jenem Bilde, und mit einemmale war ich es, vor dem sie sich alle zu der Frage einigten: Aber lieber Freund, warum ärgern Sie sich so? …

Dies trieb mich wieder zu den Plakaten, die mir den Schreckensgehalt des Lebens wenigstens im Extrakt darboten. Gern stellte ich mir vor, dass alle Geistigkeit übernommen sei, dass alles, was die Literatur an Zitaten, die Sprache an Sprüchen, das Herz an Empfindungen bietet, nur mehr dort verwendet werde und dass das Leben außerhalb der Annoncen ein leerer Schein sei und höchstens eine wirksame Reklame für den Tod. Eines Tages brach die Sintflut des Merkantilismus über die Menschheit herein, Gevatter Schneider und Handschuhmacher gebärdeten sich als die Vollstrecker eines göttlichen Willens, und es entstand die Mode, die Köpfe dieser Leute an den Straßenecken zu konterfeien. Da verfolgte mich durch all die Jahre ein Gesicht, in dessen Zügen ich mindestens den Stolz auf eine gewonnene Schlacht zu lesen vermeinte. Ich wurde älter, aber das Gesicht bekam keine Runzeln und ich wusste, dass es mich überleben und dem Jahrhundert das Gepräge geben wird. Einst war es ja die Physiognomie Napoleons, die auf die schwangeren Frauen der Zeit so nachhaltig wirkte, dass noch das Gesicht der Urenkel sie der ehelichen Untreue verdächtigt hat. Das Antlitz, das heute einen ähnlichen Eindruck in den Seelen der zeitgenössischen Welt hinterlässt, gehört einem Uhrmacher. Weil er sich rühmt, dass seine Uhren die besten seien, hat er auch den Mut der Persönlichkeit; er gibt seinen Kopf zum Pfand und seinen treuen Blick als Garantieschein … Wo tue ich das Gesicht nur hin? fragte sich manch einer, sann und kam nicht darauf. Er war einem Mann begegnet, hatte ihn wie einen alten Bekannten gegrüßt, und wusste doch nicht, wer es gewesen sei. An der nächsten Straßenecke aber grüßte ihn ein Plakat zurück. Ein Gastwirt war’s oder ein Hutmacher oder der uns allen liebgewordene Schmierölerzeuger, von dem wir nur nicht vermutet hätten, dass er uns leibhaftig begegnen könnte, weil ja auch Beethoven nicht von seinem Sockel steigt. Gibt’s denn ein Leben außerhalb der Plakate? Wenn uns die Eisenbahn aus der Stadt  holt, so sehen wir freilich eine grüne Wiese — aber die grüne Wiese ist nur ein Anschlag, den der Schmierölerzeuger im Bunde mit der Natur ausgeführt hat, um uns auch dort seine Aufwartung zu machen.

Kein Entrinnen! So wollen wir die Augen schließen und in das Paradies der Träume flüchten … Aber wir haben selbst hier die Rechnung ohne den Gastwirt gemacht, der gerade das Traumleben für eine passende Gelegenheit hält, sein Gesicht in unsere Nähe zu bringen. Fürchterliches wird offenbar. Der Merkantilismus hat es gewagt, noch die Schwelle unseres Bewusstseins als Planke zu benutzen! Die Welt des Tages bot nicht Raum genug, und so ist die grausige Möglichkeit, deren bloße Ahnung einem die Kehle zuschnürt, betreten worden: man hat als jene hypnagogischen Gestalten, die im Halbschlaf unser Lager umstehen, Reklamegesichter verwendet! Und da es auch hypnagogische Geräusche gibt, Gehörshalluzinationen, denen der schlaftrunkene Sinn leicht geneigt ist, so hat man dazu — ein Schauder erfasst mich — alle jene Devisen und Rufe bestimmt, die unser Bewusstsein bei Tage erfüllen. Welch eine Mahnung! Wir liegen da und büßen für Makbeths Schuld. Es erscheinen der Reihe nach die Könige des Lebens: der Knopfkönig, der Seifenkönig, der Manufakturkönig, der Getreidekönig, der Ansichtskartenkönig, der Teppichkönig, der Kognakkönig, und als letzter der Gummikönig. Seine Augen mahnen uns an unsere Sünden, aber seine Züge sprechen für die Unzerreißbarkeit menschlichen Vertrauens. Und doch, und doch! … Ein buschiges Haupt taucht auf und stöhnt: »Ich war kahl!« Und wieder: Hier sind noch Gesichtspickeln, dort sind sie nach dem Gebrauch verschwunden. Ach, ein andres Antlitz, eh’ sie geschehen, ein anderes zeigt die vollbrachte Tat … Ein »heller Kopf« erscheint. Es ist jener, der nur Dr. Oetkers Backpulver verwendet. »Wo isst und trinkt man gut?« summt’s in der Luft und schon öffnet sich ein Maul, um ein Gullasch zu verschlingen, und schon zeigt eines, wie man Bier trinkt. Vor mir steht der »Wolf aus Gersthof« und heult mir das Wiegenlied: Drahn ma um und drahn ma auf, es liegt nix dran … Wer kommt denn dort herein? Wilhelm Tell mit seinem Sohne? »Ich soll vom Haupte meines Kindes …« Da schwankte er, aber zur Schutzmarke einer Schokoladefirma gibt er sich her! … Seht, seht, wer bricht sich Bahn? Ein Weib, dessen Haar länger ist als sie selbst, ein Weib also, das Grund hat, seine Persönlichkeit zu betonen; sie ruft: Ich, Anna … Aber ihre Rede verhallt im Gerassel eines Wagens, dessen Lenker mir zuruft: »Sie fahren gut — wenn Sie Feigenkaffee …« »Entfernung ist kein Hindernis!«, unterbricht ihn ein Weltweiser, der der Welt von Herrschaften abgelegte Kleider gönnt. Und nun ist das Chaos der Maximen entfesselt: »Verlangen Sie überall … Schönheit ist Reichtum, Schönheit ist Macht … Verblüffend rasch heilt … Das Entzücken der Frau ist … Fort mit den Hosenträgern! .. Geben Sie eine Krone … Wer probt, der lobt … Überzeugen Sie sich … Haben Sie schon Kinderwäsche? … Jeder Firmling wünscht … Weltberühmte prämiierte Olmützer Quargel … Das ist’s, was Sie brauchen … Ihr Magen verdaut schlecht … Wollen Sie stark und gesund werden? …Reizend schön wird jede Dame … So sehe ich in einem meiner Korsetts mit rationeller Front aus, ohne dasselbe zu fühlen … Das Geheimnis des Erfolges … So sicher wie 2 × 1 = 2 …Ein wahrer Schatz … Der weiße Rabe spricht …. Rasiere dich im Dunkeln! … Wenn eine Mutter nicht in der Lage ist …Gratis 10.000 Kronen … Wanzen und Insekten jeder Art … Musik erfreut des Menschen Herz …« Ja, sie will mir den Schlaf bringen und lockt zu erotischem Traum. Es erklingt das Lied: «Ich liebe die Eine, die Feine, die Kleine … Aber ich bin genarrt, denn es handelt sich bloß um eine Pastille. Was tanzt dort in der Luft? »Ich bin ein Gummihandschuh! Kennen Sie mich noch nicht, gnädige Frau?« Romulus und Remus erscheinen unter einem Regenschirm. Wie? Ist die Gründung Roms wegen ungünstiger Witterung abgesagt? »Ein Verbrechen!« brüllt es — begeht jeder, der nicht … Ich habe Fieber. Aber schon stehen ein Hofrat und fünf Ärzte an meinem Lager, die eidlich begutachten … »Männerschwäche!« murmelt einer von ihnen verächtlich. «Ein Griff, ein Bett!« antwortet es verständnisinnig. »Trinken Sie Sodawasser …« rät ein Unberufener. »Das ist der gute Krondorfer, der fehlt nie auf unserem Tische!« entgegnet es … »Trinken Sie Geßlers Altvater!« höre ich und spüre, wie ein Bart mich kitzelt. »Kauen Sie schon Ricci?« fragt ein Kobold. »Wie werde ich energisch?« wimmert einer, dem in diesem Zimmer selbst angst und bang wird. Und ein Alp, der mir auf der Brust kauert, glotzt mich an und hat nur den einen Wunsch: »Wenn ich Sie persönlich sprechen könnte!« … Hilfe, Hilfe! Ach, wer ruft dort um Hilfe? Wer rennt mit dem Kopf durch die Wand? Rauft sich das Haar? Verzweifelt und frohlockt wieder, jubelt und klagt, springt herum und bearbeitet das Fenster mit den Fäusten? Oh, es ist einer, der unglücklich ist, weil man ihn seine Kleider nicht beim Gerstl einkaufen lässt, und der schließlich doch seinen Willen durchsetzt. »Ich bring mich um —!« droht er, wenn man ihn hält; »Wa — —s? ists möglich!!!« ruft er, weil er die Preise zu billig findet; »Freiheit der Wahl!« brüllt er und bringt damit auch die Demokratie auf seine Seite, wiewohl es sich sofort herausstellt, dass er nur die Wahl der Stoffe meint. Und nun tobt alles durcheinander, ich unterscheide die Branchen nicht mehr, hundert Fratzen tauchen auf, hundert Rufe werden laut. Ichverstehe nur noch Ratschläge wie: Koche mit Gas! Wasche mit Luft! Bade zuhause! … Und da das Leben in solcher Fülle mein Schmerzenslager umbrandet und alle Bequemlichkeiten, alle automatischen Wonnen bietet, deren man um diese Stunde nur habhaft werden kann, so merkt ein Waffenhändler, dass ich mich nicht mehr auskenne, und übertönt den Lärm mit der Reklame:
Morde dich selbst!


Das Kind. Von Karl Hauer (aus „Die Fackel“ 1907)

01. Februar 2016 | Kategorie: Artikel

Trotz einzelner zeitbedingter Veränderungen ist die Beschreibung Karl Hauers im Wesentlichen immer noch hochaktuell- traurigerweise.    W.K. Nordenham

 

Die Fackel Nr. 227-228 10. Juni 1907 X.Jahr S. 10 – 20

Das Kind.

Dieselbe Gesellschaft, welche die »Prostitution« (der ganze Moralwahnsinn stinkt aus diesem Wort) abschaffen will, aber dafür jede Krüppelehe gutheißt und die Mädchen den männlichen Berufen zutreibt, welche die Frauen infolge der ärztlichen Schweigepflicht der Ansteckung preisgibt und dafür den Fötus schützt, welche  ihre  sechsjährigen  Kinder  dem  Katecheten, die Auslese   ihrer   Knaben   dem   Gymnasium  und  die  Auslese   ihrer   Jungfrauen deflorationswütigen Sadisten ausliefert, — diese selbe saubere Gesellschaft knallprotzt jetzt auf einmal mit einem angeblichen besonderen Verständnis, das sie dem Problem des Kindes entgegenbringt, und mit einer angeblichen besonderen Fürsorge, die sie dem Kinde angedeihen lässt. Diese Gesellschaft hat das Schlagwort vom »Zeitalter des Kindes« erfunden, hat aber vom Wesen des Kindes eine verkehrtere Vorstellung und behandelt ihre Kinder schlechter und unsinniger als jede frühere Gesellschaft. Während gehirnweiche pädagogische Theoretikaster, Literaturweiber im kanonischen Alter, die ihre Mütterlichkeitsinstinkte zu spät entdeckt haben, und hochstapelnde Talmipsychologen das große Wort führen, während jeder Snob seinen herostratischen Wahnsinn und jeder spekulative Streber seinen Ehrgeiz und seine Gewinnsucht auf Kosten der wehrlosen Kinder befriedigt, wird ein Dichter oder Denker, der einmal über das Kind ein unbefangenes Wort zu sagen wagt, das der mütterlich-idiotischen Vorstellung unserer Gesellschaft vom Kind als unschuldsvollem Engel nicht entspricht — wie etwa Wedekind in »Frühlingserwachen« oder Freud in den »Abhandlungen zur Sexualtheorie« — vom ausschlaggebenden Bildungspöbel als Zyniker oder verstiegener Ketzer gebrandmarkt. Insbesondere die Erotik will man beim Kinde nicht gelten lassen, und wenn man trotz aller absichtlichen Blindheit endlich in einem konkreten Falle doch die Existenz einer kindlichen Erotik zugeben muss, so schreit man entsetzt von Entartung und Verführung oder ruft fassungslos: »Es gibt keine Kinder mehr!« Es scheint daher notwendig,nicht nur daran zu erinnern, dass das Kind auch vor der Pubertät bereits ein ausgeprägtes und überaus mannigfaltiges erotisches Triebleben führt (* Vergl. hierüber Prof. Dr. Sigm. Freud: »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie«, F. Deuticke, Leipzig und Wien 1905.) , sondern auch festzustellen, dass die Lieblingsvorstellung der modernen Gesellschaft vom unerotischen Kind-Engel nur das Produkt eines diese Gesellschaft beherrschenden erotischen Triebes ist. In Wirklichkeit wird nämlich nicht etwa dem Kinde selbst eine überragende Bedeutung in unseren sozialen und kulturellen Bestrebungen eingeräumt, sondern lediglich der konventionellen Vorstellung vom Kinde. Man betont heute die Wichtigkeit erzieherischer und pädagogischer Probleme nicht aus sozialem Ernst oder aus Interesse an Kinderpsychologie und Pädagogik, sondern weil die Illusionen, denen das Gros der Gesellschaft seine sublimsten erotischen Erregungen verdankt, innig mit seiner Vorstellung vom Kinde verquickt sind. Es besteht nämlich heute ein anscheinend sehr dringendes Bedürfnis nach einer durchaus künstlichen Naivität, nach einer extrem unnatürlichen »Natürlichkeit« und »Unschuld«, um dieser Qualitäten entweder teilhaftig zu werden oder sie zu zerstören. Der Mann von heute ist in seiner Mehrzahl entweder ein Feminist, d. h. ein Masochist, der seine Männlichkeit, seine Besonnenheit, seine Verantwortlichkeit los werden will, der im Weibe als in der »Natur« (einer rein illusionistischen »Natur«, die er sich nach seinem speziellen Bedürfnis gut oder böse, sanft oder grausam, himmlisch oder dämonisch vorstellen kann) untertauchen will, — oder er ist ein Nihilist, der alles zerstören will, was er nicht besitzen kann, ein Sadist, der grausam sein muss, weil er leidet, ein Deflorateur, der die »Unschuld« besudeln will, weil er an diese »Unschuld« glaubt und sie nicht hat, und der an die »Unschuld« glaubt, weil er in diese Illusion verliebt ist. Und in sehr vielen Fällen ist der Mann beides zugleich: ein Masochist, der sich nach einer »Herrin« sehnt, die ihn schulmeistert und bei der er selbst zum »Kinde« werden kann, und ein Sadist, der einen jungfräulichen Kind-Engel sucht, um ihm die »Unschuld« abzuzapfen. Aber nichts hat mit der wirklichen Natürlichkeit des Weibes weniger zu tun als die Vorstellung solcher verstiegenen Erotik vom »Weib als Natur«. Die Natürlichkeit des Weibes — das beste Besitztum unserer armseligen »Kultur« — wird gerade durch den femininen Weibskultus zerstört. Das Ziel einer wahren Kultur wird immer die schroffste Differenzierung von Mann und Weib sein. Die Differenzierung und die unbedingte Suprematie des Mannes ist der wirksamste Schutz der Natürlichkeit und harmonischen Gesundheit des Weibes. Die Anähnlichung und Vermischung der Geschlechtscharaktere — die heute auch auf dem Umwege eines allgemeinen und grundverkehrten Kindeskults herbeigeführt wird — ist der Weg zur schlimmsten Unkultur, zur Verweiblichung des Mannes und zur Vermännlichung des Weibes. Der Mann wird dabei zum Idioten und das Weib zur Hysterikerin. Die Vorstellung vom Kinde — in welchem man eben vor allem die Unschuld und Engel- oder Lammhaftigkeit entdeckt zu haben glaubt — bestimmt aber heute zum größten Teil Richtung, Form und Inhalt der männlichen Erotik, es gibt also neben der kindlichen Erotik auch eine kindische Erotik der — Erwachsenen. Die Frauen passen sich natürlich dem männlichen Bedürfnis an und sind entweder »Engel«, wenn sie das Geschäft mit der Unschuld noch vor sich haben, oder »Herrinnen«, wenn sie mit der Unschuld kein Geschäft mehr machen können: aut virgo — aut virago … Ein Psycholog der Kleidung wird dies nach tausend Jahren noch aus unseren Mädchen- und Frauentrachten erraten können. Die Idee der kindischen Kindlichkeit ist sowohl für die Erziehung wie für die Selbst-Formung des Weibes maßgebend geworden. Unsere Mädchen (man kann dies meines Erachtens nicht oft genug wiederholen) werden anstatt zu Weibern zu erwachsenen Kindern, zu künstlichen Engeln erzogen, weil die Kindlichkeit — das Babyhafte in Kleidung, Haltung, Ausdruck und Sprechweise — die unwiderstehlichste Anziehungskraft auf den Mann von heute verbürgt, dessen sadistischer Passion sie entgegenkommt. Später verwandelt sich dann das Baby in eine »Wanda« — die traurigste und modernste Metamorphose von Semiramis und Kleopatra — und mimt entweder im Pelzmantel die königliche Würde oder posiert die kokett-arrogante »Erzieherin«, adaptiert für ihre Toilette männliche Kleidungsstücke und lässt die großen Kindlein zu sich kommen. Denn nunmehr verleiht ihr dies die sicherste Wirkung auf den Mann, dessen masochistischer Passion es entgegenkommt….

Auch die übertriebene Kinderliebe der Eltern, das unnatürliche Verliebtsein der Eltern in ihre Kinder, das Herausputzen und Stilisieren der Kinder zu lebenden Puppen, zum Spielzeug einer klandestinen Erotik der Erwachsenen, einem Spielzeug, dem wir jetzt Schritt für Schritt begegnen können, das Zurschaustellen dieser lebenden Puppen bei allen Festen und Empfängen, in Ausstellungen und auf Bühnen, die auffallend häufige Verwendung der puppenhaften Kinderfigur auf Plakaten, — alle diese Erscheinungen sind unzweideutige Symptome der tiefgehenden Beherrschung des modernen erotischen Empfindens durch die Idee der kindlichen Puppenunschuld. Und diese Idee ist auch in unsere Vernunftvorstellungen bereits so tief eingedrungen, dass sie sogar unserer Vorstellung vom Genie eine mütterlich-idiotische Färbung gibt, so dass wir uns den äußersten Gegensatz des wirklich Kindlichen — also etwa Goethe, den höchsten Grad von Besonnenheit und männlicher Selbstbeherrschung — mit Vorliebe als »großes und ewiges Kind« vorstellen. Napoleon empfand ihn anders. »Es ist ein Mann!« rief er aus. (Nach Nietzsche soll er sich dabei gedacht haben: — »und ich hatte nur einen Deutschen erwartet.«) Unsere Gesellschaft ist zum Weibe kondeszendiert, hat sich einen Ammeninstinkt zugelegt und degradiert alles, was es liebt, bewundert oder verehrt, zum Kinde. Unsere Vorstellung von Gut und Böse ist wieder bei Rousseau angelangt, dem Vater des modernen Feminismus und Demokratismus, bei Rousseau, dessen Genie wohl auch in der völligen Unfähigkeit bestand, Realitäten zu sehen und zu unterscheiden, der der Menschheit das verlogenste Buch über das Kind — den »Émile« — geschenkt hat. (Und der einzige berühmte Franzose ist, den Herr Nordau in sein schmalziges Herz geschlossen hat.) Unser Gut und Böse ist wieder in den Gleichungen ausgedrückt: Gut = Natur = Unschuld = Kind = Weib; Böse = Kultur = Wissen = Ernst = Mann. Die »Natur« der ersten Gleichung ist jedoch nur romantisch-sentimentale Unnatur.

Unsere Vorstellung vom Kinde ist aber auch an sich — abgesehen davon, dass sie nur eine verlarvte Form einer feministischen Erotik ist, der es an spezifisch männlicher Energie gebricht — die falscheste und verkehrteste, die jemals über das Kind verbreitet war. Das Kind ist eben nicht ein Idealgeschöpf, das den Erwachsenen vorbildlich sein könnte, sondern etwas Unfertiges, Rückständiges und in Entwicklung Begriffenes, ein Stück Natur, das glücklicherweise reeller, kräftiger und entwicklungsfähiger ist als der imaginäre »Engel« des Rousseau’schen Naturaberglaubens. Wenn im Kinde noch all das sich vorfindet, was im erwachsenen Kulturmenschen entweder unterdrückt oder derart verwandelt ist, dass der Ursprung mancher »Tugenden« aus kindlichen »Lastern« den meisten unglaubwürdig erscheint, so ist dies eine notwendige und urnatürliche Entwicklungsstufe und kann selbstverständlich nicht den Inhalt einer »Anklage« gegen das Kind bilden. Das wahre Porträt des Kindes ist nur bei einem ganz ungerechtfertigten Vergleich mit dem vollentwickelten erwachsenen Kulturmenschen unerfreulich. In Hinblick auf die Entwicklung selbst ist im Gegenteil eine recht ausgeprägte Erscheinungsform der kindlichen »Laster« wünschenswert. Jedenfalls ist das Kind in Wirklichkeit das Gegenteil eines Unschuldsengels, es ist in jeder Hinsicht »lasterhafter« als der erwachsene Dutzendmensch. In erotischer Hinsicht ist es eine Mustersammlung aller jener Triebe, die wir beim Erwachsenen »pervers« nennen: speziell die Sekretionsvorgänge und -produkte spielen in der kindlichen Erotik eine hervorragende Rolle. Sein Gefühlsleben ist hauptsächlich reaktiv und wird nur von der Furcht einigermaßen gehemmt und reguliert. Das Kind ist rachsüchtig, schadenfroh, jähzornig, neidisch, habsüchtig und feig, ein Ausbund von Verlogenheit, es wäre ein »Verbrecher«, wenn es handeln könnte. Seine intellektuelle Situation gleicht ungefähr der des Wilden. Es kennt anfänglich keinen Unterschied zwischen äußern Objekten und Ereignissen, Sinneswahrnehmungen und subjektiven — psychischen oder somatischen — Empfindungen. Es schreibt alle wahrgenommenen und empfundenen Veränderungen in und außer ihm imaginären Ursachen zu. Es lebt in einer gewissermaßen aufgelösten, nebelartigen Welt, in einer pittoresken und verworrenen Welt des blinden Zufalls, in der noch keine logisch-fassbare Gesetzmäßigkeit Geltung hat, sondern das Unerwartete, Unfassbare, Widerspruchsvolle und Wunderbare, das Absurde die Regel bildet. (Aussagen von Kindern sind daher immer und unter allen Umständen, besonders vor Gericht, mit dem größten Misstrauen aufzunehmen. Kinder lügen auch dann, wenn sie wahrhaftig sein wollen.) Eine ganz ähnliche Welt ist, nebenbei gesagt, auch die Welt des homo religiosus. Der Katechet hält also das Kind auf der kindlichen Stufe der Intellektualität fest, er verzögert oder verhindert den Eintritt der geistigen Mündigkeit. Wirkliche Typen erwachsener Kindlichkeit sind: mancher »Perverse«, der konstitutionelle Verbrecher und der Frommgläubige, der freiwillige Idiot.

Die aus dem psychischen Habitus des Kindes sich ergebenden Grenzen einer vernünftigen Erziehung sind nicht schwer zu bestimmen. Man soll das Kind zunächst sehen und unterscheiden lehren, es möglichst wenig durch unfruchtbaren, ihm fremden abstrakten Wissensstoff verwirren und verstopfen, man soll es alles möglichst von selbst lernen lassen (das wird jeder Vernünftige auch ohne Rousseau einsehen; unser Gymnasium ist eine beispiellos grausame Vergewaltigung kindlicher Gehirne), man soll es aber auch mit etwas kräftiger Hand anfassen, man soll es durch das Stadium der Kindlichkeit hindurchziehen und nicht auf eine mirakulöse Selbstentfaltung seiner guten, engelsgleichen »Natur« warten. Es soll damit keineswegs einer nutzlosen Härte und Strenge, oder gar einer Prügelerziehung das Wort geredet werden. Ich finde vielmehr den Schutz, den das Kind im »Zeitalter des Kindes« genießt, gänzlich unzureichend. Der Willkür in der Erziehung ist noch immer ein viel zu breiter Raum gewährt, während die verständige Förderung der kindlichen Entwicklung noch viel zu selten ist. Ich bin auch dafür, dass man die Natur des Kindes — so wie sie wirklich ist — sich austoben lässt. Man soll ihm vor allem nicht die Schmerzlichkeit der schlimmen eigenen Erfahrung des Lebens ersparen wollen. Die Hauptsache bei aller Erziehung aber ist ein zielbewusster lenkender Wille! Die verfehlteste Erziehung ist jene für das Kind wehleidige Weichlichkeit, jene weibisch-romantische Empfindsamkeit, die das Kind mit Kindereien langweilt, die Erziehung mit »sezessionistischen« Bilderbüchern und »künstlerischem« Spielzeug, die Erziehung mit »Liebe«, Begeisterung, Snobismus und Unverstand, welche die Kindheit mit einer Gloriole der allerdümmsten Poesie — der Kindheitspoesie — umgibt und die Kindheitsperiode künstlich verlängert, jene jetzt so eifrig propagierte, nicht in Hinsicht auf die Zukunft der Kinder, sondern mit Rücksicht auf die Verzückungen von Tantenseelen erfundene Erziehungsmethode, die nichts so sehr zu fürchten scheint als — das Mündigwerden der Kinder. Ich meine, das Kind ist eine zu wichtige und diffizile Angelegenheit, um dem Poesie- und Spielbedürfnis unbeschäftigter Schwachköpfe zu dienen. Ganz besonders widerwärtig ist die Sorte von Snobs, die heute das Kind durch die Kunst beglücken und veredeln will, was genau so geistreich ist, wie wenn man Fidschi-Insulaner mit den Bildern von Velasquez, Murillo und Tizian zivilisieren wollte. Für die ungeheure Vernunft eines von allen überflüssigen Härten gereinigten spartanischen Erziehungssystems ist heute jeder Sinn abhanden gekommen, wir haben im Gegensatz zu aller Vernunft die zwei unsinnigsten Erziehungssysteme, die es gibt — das alexandrinische und das romantisch-sentimentale —, zur Vollendung gebracht. Unsere Erziehung produziert daher nicht Männer und Frauen, sondern auf der einen Seite verbildete Berufskrüppel, auf der andern Feministen und jungfräuliche mimosae pudicae. Zwar spricht man jetzt da und dort von der Notwendigkeit einer »sexuellen Aufklärung« der Kinder. Bei der allgemeinen stupenden Unwissenheit der Erwachsenen in sexuellen Dingen dürfte aber diese »Aufklärung« eine sehr sonderbare und zweifelhafte sein. Und die sexuelle Aufklärung der Erwachsenen scheint mir vorderhand viel dringender als die der Kinder …

Die moderne und äußerst ideal erscheinende Forderung, das Interesse und Glück der Erwachsenen dem Interesse und Glück der Kinder zu opfern, ist zwar nichts als die groteske Vermummung feministischer Erotik. Nichtsdestoweniger aber ist diese Lehre der eigenartigen modernen Kinderfreunde wahrhaft gefährlich und kann nicht nachdrücklich genug zurückgewiesen werden, denn sie bedroht in gleicher Weise das Interesse und Glück der Erwachsenen sowohl als der Kinder. Im Interesse der Erwachsenen — und das Erwachsensein bedeutet doch auch die Zukunft des Kindes; die Wichtigkeit des Kindes beruht nicht in seiner Kindlichkeit, sondern darin, dass es zu einem tüchtigen Erwachsenen geformt werden soll — im Interesse der Erwachsenen also liegt es, durch die Rücksicht auf die Kinder in ihren Betätigungen und in ihrem Lebensgenusse möglichst wenig behindert zu sein. Und im Interesse der Kinder liegt es, durch stupide Herumerzieherei und verkrüppelnden Schulmechanismus in der Überwindung ihrer natürlichen kindlichen Rückständigkeit und in ihrer natürlichen Lebenslust möglichst wenig gestört zu werden. Die »Liebe« der Eltern und Tanten, die Künsteleien und der Eifer der Erzieher und Lehrer sind für das Kind nichts als eine Quelle nutzloser, seine Entwicklung verzögernder Plagen. Den Armen ist das Kind meist eine Last, sie quälen es daher oft mit ihrem Hass. Den Reichen ist das Kind gewöhnlich ein erotisches Spielzeug, sie quälen es daher mit ihrer Liebe. Dem Kind der Reichen sind nicht selten die Eltern eine Last. Man beginnt jetzt einzusehen, dass die Kinder, die von den Eltern mit Hass verfolgt werden, weil sie ihnen eine Bürde sind, von den Eltern getrennt werden müssen. Man sollte aber endlich auch einsehen, dass die Kinder, die von den Eltern mit einem Übermaß von Liebe verfolgt werden, weil diese ein erotisches Spielzeug brauchen, von den Eltern getrennt werden müssen. Man redet jetzt sehr viel von Kinderschutz und Mutterschutz. Ich glaube, Kinder und Mütter wären in vielen Fällen am besten geschützt, wenn sie getrennt würden. Die altehrwürdige Institution der Familie hat heute zwar keinen praktischen Zweck mehr, ist aber dafür der Hort aller Rückständigkeit, Verkrochenheit und Unsinnigkeit geworden. Diese sehr muffige Institution endlich aufzulassen, wäre nicht nur ein sozialer, ethischer und intellektueller Fortschritt, sondern auch die beste Lösung des Interessenkonfliktes zwischen den Kindern und Erwachsenen. Zu fordern, dass der zur Selbstbestimmung und zur höchsten Fähigkeit des Lebensgenusses Gelangte auf die Befriedigung seiner eigensten Bedürfnisse zugunsten der Unselbständigen und wenig Genussfähigen verzichte, heißt die natürliche Lustmöglichkeit des Menschen in seine unreife, für den vollen Lebensgenuss untaugliche Periode verlegen wollen, heißt auf den größten Teil der Freuden, die das Leben bietet, verzichten wollen, heißt das Leben verarmen wollen. Die Führung des Lebens ist eine Schöpfung des Mannes. Er ist das natürliche Schwergewicht im Gesellschaftsbaue. Verlegt er es — seine Mission verkennend oder vergessend — in die Natur des Weibes, die nur als Material, als bildsames Wachs seines schöpferischen Willens ihren hohen Wert gewinnt, so wird die Führung des Lebens weibisch werden; verlegt er es in einen falschen, dem Kinde selbst schädlichen Kult des Kindes, so wird die Führung des Lebens kindisch werden.

Karl Hauer.

 


Gegen die Irrwege – für 2016.

04. Januar 2016 | Kategorie: Artikel

Wir träumen von Reisen

durch das Weltall –

ist denn das Weltall nicht in uns?

Die Tiefen unsers Geistes kennen wir nicht –

Nach innen geht

der geheimnisvolle Weg.

In uns, oder nirgends

ist die Ewigkeit mit ihren Welten –

die Vergangenheit und Zukunft.

—————————————-

Wo gehen wir denn hin? Immer nach Hause.

Novalis   (1772 – 1801), eigentlich Georg Philipp Friedrich Leopold Freiherr von Hardenberg, deutscher Lyriker


Notizen zur Zeit: Vor dem Gesetz sind alle Messer ungleich.

31. Oktober 2015 | Kategorie: Artikel, Notizen zur Zeit

Süddeutsche Zeitung

22. Oktober 2015

Ausländerfeindliche Attacke in NRW

Mann sticht Albaner nieder

Erst beschimpfte er ihn als „Ausländerschwein“, dann zückte er ein Messer: In Nordrhein-Westfalen hat ein 52-Jähriger auf einen Albaner eingestochen.

Einkaufstüten des Opfers durchwühlt

Offensichtlich aus fremdenfeindlichen Motiven hat ein Mann in Nordrhein-Westfalen einen 31-jährigen Albaner niedergestochen. In einem Regionalbus in Havixbeck im Kreis Coesfeld hatte der 52-Jährige am Mittwochabend zunächst die Einkaufstüten des Albaners durchwühlt, wie die Staatsanwaltschaft Münster mitteilte. Anschließend soll der Mann ihn unter anderem mit den Worten „Ausländerschwein“ und „Kanake“ beleidigt haben.

Messer drang mehrere Zentimeter ein

Als die beiden ausstiegen, sprach der Albaner den Mann auf sein Verhalten an. In diesem Moment stach dieser zu. Das Messer d r a n g   m e h r e r e   Z e n t i m e t e r   t i e f   i n   d i e   B r u s t  ein, jedoch ohne das Opfer lebensgefährlich zu verletzen. Der Mann wurde in die Uniklinik Münster gebracht. Der Angreifer wurde noch am Tatort festgenommen. Die Beantragung eines Haftbefehls wurde geprüft. „Es liegen jedoch keine Haftgründe vor“, erklärte Oberstaatsanwalt Heribert Beck. Ermittelt werde wegen gefährlicher Körperverletzung  und Beleidigung.

Einen Rechten, der nur einen Albaner niedersticht, kann man schon mal laufen lassen. Der Albaner hatte Glück, nur wenige Zentimeter in die Brust, juristisch komplett am Leben vorbei.  Bei Frau Hildegard Reker, Kölner Politikerin –  erkennbar ohne albanische Wurzeln –  war das daher nicht möglich und der Täter wurde umgehend eingebuchtet, denn die Politik schützt in erster  immer Linie sich und dann erst den Bürger. Sie duldet keine Galgen auf geschmacklosen Plakaten  auf denen ein prominenter Name steht.  Vielleicht müssten die Politiker öfter mal in die Ziellinie geraten, damit sie begreifen, was vor Ort dem Bürger schon länger ins Haus steht. Ein Messer scheint seit Jahren keine Mordwaffe mehr in unseren Landen, weil es so viele gern benützen und vorsichtig am Menschen anwenden? Ich ahne es nicht einmal, weil es sich als Waffe potentiell und tatsächlich immer gegen Leben richtet, und das ist mit Rücksicht auf das Grundgesetz für mich im Gegensatz zu Politk und Justiz immer mindestens ein billigend in Kauf genommener Tötungsversuch.

W.K. Nordenham


Druck und Nachdruck . Von Karl Kraus

31. Juli 2015 | Kategorie: Artikel

Die Fackel

Nr. 293 ENDE DEZEMBER 1909 XI. JAHR   S. 23-28

Im Vertrauen darauf, dass die zeitgenössische Publizistik ohnehin nicht mehr den Mut zur Zitierung der ‚Fackel‘ und nur noch die Lust zum Stehlen aufbringen werde, habe ich kürzlich bei der Neugestaltung des Titelblattes auf das Nachdrucksverbot verzichtet. Auf dem Umschlag der vorliegenden Nummer ist es wieder zu lesen. Denn jetzt erst sehe ich, wie notwendig es war. Ein Ausschnittbureau sendet mir nämlich einige Nachdrucke, die mir viel mehr Verdruss als Freude bereiten und die mir beweisen, dass man es endgiltig aufgeben muss, Respekt vor dem Gedanken zu verlangen, und dass mehr als der Beifall für die Meinung auf dem heutigen Leserniveau nicht zu erreichen ist. Nun weiß man ja, dass ich gerade darauf und auf nichts lieber verzichte in einer durch und durch verjournalisierten Zeit, der der Geist zur Information dient und die taube Ohren hat für den Einklang von Inhalt und Form. Sie unterscheidet »schreiben können« von »Recht haben«, versichert, »zwar nicht mit allem einverstanden zu sein, aber …«, und hat keine Ahnung von der geheimnisvollen Unmöglichkeit, das, worin ich »Recht habe«, anders als eben so zu sagen, wie ich es sage, und darin, wie ich es sage, etwas anderes haben zu können, als Recht. Sie glaubt, es handle sich vorweg um den Stoff und hinterher komme eine Forderung ästhetischer Sauberkeit. Wenn ich ihr sagte, dass ich an zehn Seiten zwei Stunden und an einer Zeile zehn Stunden arbeite, diese sprachverlassene Zeit würde es unverständlich finden. Und wenn ich verriete, dass ich um einer Konjunktion willen, die mir während des Druckes zu Missfallen beginnt, die halbe Auflage vernichten lasse, so würde sie sagen, dies sei närrisch, denn sie, auf die es doch ankomme, bemerke den Unterschied nicht, und ich sollte Zeit und Geld an populärere Bestrebungen wenden.

Nun kann man freilich über religiöse Angelegenheiten nicht streiten, und die Zeit muss sich damit abfinden, dass einer, der sich als einen Todfeind des Ästhetentums gibt, das Geheimnis eines Doppelpunkts für wichtiger hält als die Probleme der Sozialpolitik. Wir können darüber nicht streiten, ob der Schöpfer oder der Nützer dem Geist näher ist; ob es auf den Umfang des Schöpferischen ankommt und ob nicht in der Wonne sprachlicher Zeugung aus dem Chaos eine Welt wird. Unverständlich ist es wie dieses: die leiseste Belichtung oder Beschattung, Tönung und Färbung eines Gedankens — nur solche Arbeit ist wahrhaft unverloren, so pedantisch, lächerlich und sinnlos sie für die unmittelbare Wirkung auch sein mag, kommt irgend wann der Allgemeinheit zugute und bringt ihr zuletzt jene Meinungen als wohlverdiente Ernte ein, die sie sich heute mit frevler Gier auf dem Halm kauft. Alles Geschaffene bleibt, wie es präformiert war, ehe es geschaffen wurde. Der Künstler holt es als ein Fertiges vom Himmel herunter. Die Ewigkeit ist ohne Anfang. Lyrik oder ein Witz: die Arbeit liegt zwischen dem Selbst –  verständlichen und dem Endgiltigen. Es werde immer wieder Licht. Es war schon da und sammle sich wieder aus der Farbenreihe. Wissenschaft ist Spektralanalyse, Kunst ist Lichtsynthese. Der Gedanke ist in der Welt, aber man hat ihn nicht. Er ist durch das Prisma stofflichen Erlebens in Sprachelemente zerstreut, der Künstler sammelt sie zum Gedanken. Der Gedanke ist ein Gefundenes, ein Wiedergefundenes. Und wer ihn nur selbst sucht, ist ein ehrlicher Finder, ihm gehört er, auch wenn ihn vor ihm schon ein anderer gefunden hätte …

Doch was hat dies mit einem Nachdruckverbot zu schaffen? Der Leser hat vielleicht keine Lust, sich selbst noch mit der Erklärung von Narrheiten zum Narren halten zu lassen. Von allen Autoren, die ihn bedienen, bin ich der weitaus größte Schwindler: das Publikum dankt mir für Brot und ich sage hinterdrein, dass es Steine waren. Wenn ich jemand an meinen Schreibtisch ließe und ihm die Zumutungen zeigte, die mir die Post eines Tages bringt, er würde über die Zähigkeit staunen, die hier an einen Bäckerladen pocht und sich jahraus jahrein mit einer altbackenen Illusion zufrieden gibt. Kein Hund nähme mehr einen Bissen von mir, wenn er wüsste, wie unverdaulich er ist. Eine der groteskesten Erscheinungen: dieser unbeirrbare Glaube an den Inhalt. Weil drauf »Cyankali« steht, fressen sie’s und holen es noch aus der Tabaktrafik. Ich lechze nach dem Zeitpunkt, wo man mir auf die Inkongruenz zwischen mir und meinen Stoffen, meinen Aktualitäten, meiner Verbreitung kommen und mich der Ehre überheben wird, zwischen Trabukkos, Staatslotterielosen, Revolverblättern und Ansichtskarten Aphorismen zu verschleißen. Bis dahin wird’s noch manchmal heißen: Wo er recht hat, hat er recht. Ich falle der Entwicklung nicht in den Arm. Die Kenner, die solches Zögern von einer geschäftlichen Raison ableiten — aber wenn ich ihnen sage, dass ich halbe Auflagen um eines Wortes willen vernichten lasse, mit der Fabel kommen, dass ich mir’s eben leisten könne —, sie sollen auch leben. Inzwischen, bis einmal die Geschichte der ‚Fackel‘ von reinerer Hand geschrieben wird, will ich wenigstens dafür sorgen, dass ihr geistiges Bild nicht entstellt werde.

Es geschieht durch ein niederträchtiges System des Nachdrucks, dem ich hiermit ein für allemal den Riegel vorschiebe. Ich habe nichts dagegen, dass man Publikationen von mir, die ich heute unpubliziert wünschte, mit dem richtigen Datum zitiert. Auch was ich verwerfe, gehört zu mir, und ich bin nicht imstande, irgendetwas zu bereuen, was mir heute als Sünde erscheint. Was aus den ersten Jahren der ‚Fackel‘ aufhebenswert ist, kommt in die Bücher; trotzdem räume ich jedem das Recht ein, mir Irrtümer, Fehler, Widersprüche, so sehr er Lust hat, vorzuhalten. Aber ich gestatte keinem, eine Äußerung aus den letzten drei Jahren in wohlwollender Absicht zu zitieren, wenn er sich nicht verpflichtet, an die Kontrolle des Nachdrucks wenigstens den hundertsten Teil der Sorgfalt zu wenden, die ich an die Kontrolle des Drucks gewendet habe. Diese Mahnung geht eo ipso nur solche Redakteure an, die mir eine ihnen bequeme Meinung abknöpfen wollen und den Nachdruck mit jenen Worten einleiten, die mich sofort zur entgegengesetzten Meinung entflammen könnten: »Mit Recht bemerkt der bekannte Herausgeber der ‚Fackel‘«. Wenn also der Unfug schon geduldet werden soll, so müsste wenigstens der Text, der nach solcher Einleitung noch immer seinen künstlerischen Ursprung behaupten könnte, unverändert dastehen. Die Redakteure nehmen aber, was ihnen passt, und markieren die Auslassungen nicht einmal durch Punktreihen. Welchem organischen Ganzen der Teil genommen war, ist dann nicht mehr zu erkennen. Dass man durch Streichung eine Plattheit in einen Gedanken, aber auch einen Gedanken in eine Plattheit verwandeln kann, verstehen diese sprachverlassenen Meinungssucher nicht. Und sie tun ein Übriges: sie sehen auch nicht nach, wie der Setzer ihr Flickwerk zugerichtet hat. In einer deutschen Monatsschrift, die von einer Dame redigiert wird, ist jeder Satz, mit dem ich angeblich »Recht« habe, verstümmelt oder in sein Gegenteil verkehrt. Dass durch Weglassung der Anführungszeichen in einem Satz, der noch ein zweitesmal vorkommt, statt einer Kontrastwirkung eine Wiederholung bewirkt wurde, dafür muss ein Setzer kein Verständnis haben. Aber ein Redakteur, der’s auch nicht hat, kennt nicht einmal die Verpflichtung, dort eine mechanische Kontrolle zu üben, wo ein Anderer gedacht hat. Die Dreistigkeit der Absicht, mich zu redigieren, würde ich noch verzeihlicher finden als die grundsätzliche Nichtachtung vor geistiger Arbeit, die in der sorglosen Preisgabe an die Gefahren des Druckes gelegen ist. Ich halte die Maschine auf und zwinge sie, meinen Launen zu dienen, und nach Tagen und Nächten solchen in den Schlaf fortgesetzten Kampfes, solcher auch am fertigen Werk noch wirkender, nie beruhigter Zweifel, kommt ein anderer, der meine Meinung teilt, und opfert mich seiner Maschine auf. Ich habe der Zeitschrift, die mir solches angetan hat, eine Berichtigung geschickt. Aber ich habe nicht Lust, in den Druckereien Deutschlands und Österreichs die Arbeit zu verrichten, die mich in einer einzigen kaputt macht. Ein Wiener Tagesblatt, das seine christlichsozialen Hausmeisterinnen mit Zitaten aus der ‚Fackel‘ erfreuen zu müssen glaubt, sei auf diesem Wege ausdrücklich verwarnt. Es hat kürzlich ein paar Seiten aus dem Artikel über den Fall Hofrichter glatt ins Hausmeisterische übersetzt. Hier handelts sich nicht um Verstöße gegen Stil und satirische Absicht, die ein sorgloser Nachdruck bedeutet, sondern um Verstöße gegen die Grammatik, die ich an und für sich nicht so schmerzlich empfinde, die aber hier eigens für das Fassungsvermögen des Publikums berechnet zu sein scheinen. Wollte ich den Nachdruck nachdrucken, man würde es nicht für möglich halten, dass ein so lesbares Manuskript, wie es die Seiten einer Zeitschrift vorstellen, in einer Druckerei solchen Verheerungen ausgesetzt sein kann. Auch die Volltrunkenheit des Setzers könnte sie nicht erklären. Bleibt nur die Annahme, dass in christlichsozialen Druckereien ein Korrektor angestellt ist, der darüber zu wachen hat, dass nichts Deutsches durchrutscht. Aus der »Behörde, die jetzt den Fall übernommen hat und die durch Tradition und ein veraltetes Gesetz vor den Verlockungen der Reklame geschützt ist« werden »Behörden, die jetzt den Fall übernommen haben und die durch die Tradition und einem veralteten Gesetz vor den Verfolgungen der Reklame geschützt ist«. Eine Person, die »unweit dem Verdachtskreis« wirkt, ist jetzt eine, die »unweit des Verdachtskreises« wirkt. Sie hat »dem Hauptmann Mader ein zweites Opfer gesellt und in der entfachten Sensation die eigene Spur verwischt«? Nein, sie hat ihm »ein zweites Opfer gestellt, deren entfachte Sensation die eigene Spur verwischt hat«. »Es ist doch wahrscheinlicher, dass …. als dass ….« gilt nicht; jetzt heißt es: »Es ist jedoch wahrscheinlich, dass …. als dass …« Ein »zurechtgelegtes Alibi«? Nein, ein »zusammengelegtes«. Gegen die Schuld Hofrichters sollte »die unwahrscheinliche Dummheit« sprechen, »mit seinem notorischen Handwerkszeug einen Giftmord zu verüben und zu hoffen, dass er dem Verdacht durch Harmlosigkeit begegnen könne«. Jetzt heißt es: »Gegen die Schuld H.’s spricht die unwahrscheinliche Dummheit, mit einem notorischen Handwerkszeug ist nicht Giftmord zu verüben und zu hoffen, dass
er den Verdacht … begegnen könne«. Und an der Spitze heißt es trotzdem: »Die ‚Fackel‘ schreibt«.

Aber sie hat für dieses Pack zu schreiben aufgehört. Von jetzt an ist nur mehr das Stehlen erlaubt. Da wird vielleicht auch etwas mehr Sorgfalt auf den Druck verwendet werden, und im Übrigen fällts nicht auf mich zurück. Ein Berliner Sudelblatt, das erst kürzlich wegen Erpressung sich verantworten musste, kompromittiert sich ganz unnötigerweise durch Zitierung der ‚Fackel‘. Hin und wieder nimmt es sich einen Anlauf und druckt eine Notiz ab, ohne die ‚Fackel‘ zu nennen. Es müsste konsequenter sein. Einigen wir uns darauf: Nachdruck nur ohne Quellenangabe gestattet!

»Keines der jetzigen Kulturvölker hat eine so schlechte Prosa wie das deutsche. Sieht man nach den Gründen, so kommt man zuletzt zu dem seltsamen Ergebnis, dass der Deutsche nur die improvisierte Prosa kennt und von einer anderen gar keinen Begriff hat. Es klingt ihm schier unbegreiflich, wenn ein Italiener sagt, dass Prosa gerade um soviel schwerer sei als Poesie, um wieviel die Darstellung der nackten Schönheit für den Bildhauer schwerer sei als die der bekleideten Schönheit. Um Vers, Bild, Rhythmus und Reim hat man sich redlich zu bemühen — das begreift auch der Deutsche —, aber an einer Seite Prosa wie an einer Bildsäule arbeiten? — es ist ihm, als ob man ihm etwas aus dem Fabelland vorerzählte.«                 Nietzsche.

 


Was ein Mensch wert ist…vae victimae !

17. Juli 2015 | Kategorie: Artikel, Justiz

Berliner Zeitung  16.07.2015

Landgericht Berlin Baby blind und taub geschüttelt – fünf Jahre Haft für Vater

Mit fünf Wochen erleidet das Baby Rippenbrüche, mit sechs Monaten erblindet es und verliert das Gehör. Der Vater der kleinen Emilia wurde nun des versuchten Totschlags schuldig gesprochen.

Er schüttelte seine Tochter, bis sie taub und blind wurde: Dafür  muss   der  Vater  der  kleinen  Emilia  aus  Berlin – Pankow  nun  für   f ü n f   J a h r e  hinter Gitter. Das Landgericht sprach den 26-Jährigen am Donnerstag  der  Misshandlung  von  Schutzbefohlenen   sowie   d e s   v e r s u c h t e n   T o t s c h l a g s  schuldig.  Emilia war sechs Monate alt, als sie im November 2014 heftig geschüttelt wurde. „Wer  ein  Kind  derart schüttelt,  der  n i m m t   b i l l i g e n d  d e n   T o d   i n   K a u f “, hieß es im Urteil. Der Vater hatte dies bestritten. Die mitangeklagte Mutter des Babys wurde zu einer Geldstrafe von 300 Euro verurteilt. Die 24-Jährige sei der fahrlässigen Körperverletzung durch Unterlassen schuldig, befand das Berliner Landgericht. Obwohl das Kind im Sekundentakt krampfte, habe sie mehrere Stunden vergehen lassen, ehe sie den Notarzt alarmierte, begründete das Gericht.

„Keinerlei Restzweifel“

Mit f ü n f   W o c h e n  schwebte Emilia zum ersten Mal in Lebensgefahr. Der Vater habe in der Nacht des 1. Juli 2014 überfordert reagiert, weil das Baby schrie. „Er drückt kräftig den Brustkorb, es kommt zu mehreren Rippenbrüchen“, sagte der Vorsitzende Richter Matthias Schertz. Danach sei gegen den 26-Jährigen wegen dringenden   Tatverdachts  ein   H a f t b e f e h l  ergangen.  Weil   aber   k e i n e   F l u c h t g e f a h r  gesehen wurde, blieb er frei. Das Jugendamt habe „zunächst funktioniert“, sagte Schertz. Mutter und Kind seien in einer Einrichtung vom Vater getrennt untergebracht worden. „Doch schon im September wurde ihnen gestattet, in die Wohnung zum Angeklagten zurückzukehren.“ Dies sei unglaublich. Das Verfahren wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen sei zu dem Zeitpunkt nicht abgeschlossen gewesen.

Emilia war sechs Monate alt, als sie erneut lebensgefährlich verletzt in ein Krankenhaus kam. Es war zu starken Einblutungen in Gehirn und Augen gekommen. Zuvor sei der Vater für kurze Zeit allein mit dem Kind gewesen, so das Gericht. „Emilia schreit, er verliert die Geduld und schüttelt das Baby heftig“, sagte Schertz. An der Täterschaft würden nach dem achtwöchigen Prozess „keinerlei Restzweifel“ bestehen. Der Verteidiger des Vaters hatte erklärt, es sei völlig offen, wer das Kind schüttelte.

Das Mädchen kann nach Angaben von Ärzten bis heute nicht sehen und hören. Die Entwicklung sei ungewiss, hieß es. Mit dem Urteil entsprachen die Richter  i m   W e s e n t l i c h e n  dem Antrag des Staatsanwalts. Die Verteidiger hatten Freisprüche verlangt.(dpa)

 

Immer wieder muss ich so etwas lesen. Was ist hier wesentlich und was für eine Welt liegt hier vor, in der Justiz solches Urteil nach Recht und Gesetz für  angemessen halten darf?  Wehe den Opfern zuerst der Gesellschaft und dann der Gerichte!

 

 


Der pädagogische Imperativ . Werner Ross

27. Juni 2015 | Kategorie: Artikel

Heute las ich, dass Bundesjugenspiele zur Diskussion stehen, Videospiele hingegen nicht oder ist mir da etwas entgangen?  Dazu nur ein Satz von Werner Ross  ,* 27. Januar 1912 in Uerdingen; † 16. Juli 2002 in München. Er  war ein deutscher Publizist und Literaturkritiker.

Es muss schließlich der alte pädagogische Imperativ wiederhergestellt werden,  wonach Gegenstände zu lernen sind, damit in der Schule endlich die Freude zurückkehren kann, die nicht erwächst aus sogenannter Selbstverwirklichung, sondern  –  wie im Sport – aus der gemeisterten Schwierigkeit.

Aus : (Werner Ross: „ Der Wolf hat. Kreide gefressen – Deutschunterricht und Hessische Rahmenrichtlinien“)

 


Was ein Mensch wert ist. Aus der Ärztezeitung 16.1.2015. Von W. K. Nordenham

16. Januar 2015 | Kategorie: Artikel, Notizen zur Zeit, Was ein Mensch wert ist

Die folgende Geschichte beschreibt nur ein Symptom der Krankheit. Der Vorgang deckt sich mit meinen Erfahrungen. Besonders verwerflich scheinen mir die Anrufe bei  Schwerstkranken, wann man denn endlich wieder arbeiten ginge, ohne vorher mit dem behandelnden Arzt Kontakt aufgenommen zu haben.  Ein psychisch Kranker wurde daraufhin  suizidal. Das änderte nichts an der Praxis. Denn weniger sich der Mensch ähnelt, desto besser funktioniert er. So schafft die entstellteste Gesellschaft das höchste Bruttosozialprodukt.  Was wäre, widmeten  die Menschen  einen größeren Teil ihrer Aufmerksamkeit dem, was im  Kopf ist, statt  immer wieder  dem, was auf ihm ist?  Der Lebensbogen sähe sich weniger vom Ellenbogen dominiert.

W.K. Nordenham

Ärzte Zeitung, 16.01.2015

Betroffener berichtet

Kampf gegen Krebs und Bürokratie

Als Wolfgang Jorzik die Diagnose Krebs erhält, kommt zu der Angst vor der Krankheit schnell ein gewaltiger bürokratischer Aufwand. Seither kämpft der 52-Jährige für eine Entbürokratisierung, schnellere Hilfe für Betroffene – und mehr Menschlichkeit im Umgang mit Schwerstkranken.

Von Anja Krüger und Pascal Beucker

Vielleicht ist es das letzte Fest, das sie zusammen feiern. An einem regnerischen Wintertag treffen sie sich alle noch einmal. Den ganzen Nachmittag kommen immer wieder neue Gäste, viele mit Kindern. Ein Gartenfest, bei Glühwein und Brezeln. Schließlich habe es mit dem geplanten Sommerfest nicht geklappt, hat Wolfgang Jorzik in der Einladung geschrieben. Das soll nachgeholt werden, aber „nicht drinnen in der Comfort-Zone, sondern beinhart und stilecht im Gartenhaus und im Garten“. Herzlich fallen die Begrüßungen aus an diesem Tag, wärmer noch die Verabschiedungen. Das Fest müsse schnell stattfinden, hatte seine Frau Louisa den Eingeladenen mitgeteilt. Sie beobachtet, dass ihr Mann sich verändert. Sie weiß nicht, ob das am Kortison oder den Tumoren in seinem Kopf liegt. Sie will nicht, dass es zu spät sein könnte für ein großes Wiedersehen mit Bekannten, Freunden und Kollegen. Wolfgang Jorzik kämpft gegen den Krebs – und gegen die Bürokratie. „Die Sanduhr läuft“, sagt der 52-Jährige. „Und es ist unglaublich, wie viel Zeit man in Anträge und Formulare stecken muss. „Vor elf Monaten ist sein Leben und das seiner Familie aus den Fugen geraten, von einem Tag auf den anderen. Rückblickend weiß der Journalist die vorangegangenen Veränderungen als Symptome zu deuten. Wortfindungs- und Gleichgewichtsstörungen, ein zwanghaftes Rückwärtslesen von Wörtern, ein merkwürdiges Verhältnis zu Zahlen. So addierte er die Ziffern auf einer Flitzebogenscheibe immer und immer wieder, genau wissend, dass sie 920 ergaben. Plötzlich versetzte sein Fahrstil seine Frau und die Zwillinge des Paares in Angst und Schrecken. Dabei war er doch stets ein äußerst zurückhaltender Autofahrer.

Niederschmetternde Diagnose

Am 17. Februar strandet er auf einem Parkplatz in Leverkusen. Er ruft seine Frau an, ist extrem verwirrt. Sie alarmiert die Polizei. Die Beamten bringen ihn sofort in die Klinik. Zwei Stunden später, nach einem MRT des Kopfes und des Brustkorbs, eröffnet der Oberarzt dem Journalisten: Er hat eine sehr aggressive Form von Lungenkrebs. Weitere Untersuchungen ergeben Metastasen in der Leber und drei Tumore im Kopf, einer mit einem Durchmesser von fast vier Zentimetern im Stammhirn. Die Diagnose ist niederschmetternd. Die Ärzte geben Wolfgang Jorzik ohne Behandlung drei Monate. Im Sommer sollen seine Zwillinge eingeschult werden. Mit der Behandlung beginnt dann auch ein ständiger Kampf mit der Bürokratie. Die Krankenkasse verlangt Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, die fristgerecht beim Arzt am anderen Ende der Stadt abgeholt werden müssen. Beim medizinischen Dienst der Krankenkassen muss eine Pflegestufe beantragt, die Begutachtung organisiert werden. Der Schwerbehindertenausweis muss beantragt werden, mit genau definiertem Passbild. Der Antrag an die Krankenkasse für eine Haushaltshilfe zieht sich ewig hin, denn der freie Radiojournalist und seine Frau sind bei unterschiedlichen Kassen versichert.“E r s t  n a c h  d i v e r s e n  A n r u f e n    w a r   z u   e r f a h r e n ,    d a s s    w e i t e r e    U n t e r l a g e n    w i e    A r z t b r i e f e    f e h l e n „, berichtet Jorzik.  D o c h  d a s    t e i l t    d i e   K a s s e   n i c h t   m i t ,   s i e   w a r t e t   e i n f a c h   a b . Aufseiten des Patienten dagegen muss alles so schnell wie möglich geschehen. Werden Unterlagen wie die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht fristgemäß eingereicht, wird die Leistung gestrichen. Dabei ist die Diagnose ein Schock, der erst einmal verarbeitet werden muss.   D i e     B ü r o k r a t i e     h i l f t     d a b e i   n i c h t ,   i m   G e g e n t e i l . „Ausgerechnet dann, wenn man am wenigsten Kraft hat, muss man am meisten kämpfen“, sagt Jorziks Frau Louisa Schaefer, die ebenfalls Journalistin ist. Von vielen Mitpatienten erfährt Jorzik, dass sie ähnliche Erfahrungen machen. Der Kampf mit Formularen, Ämtern und Kassen ist für schwer Kranke und ihre Angehörigen eine enorme Belastung. So manchen Patienten erwartet nach dem Klinikaufenthalt erst einmal ein Berg von Formularen, der mühsam abgearbeitet werden muss, weiß der Journalist.

Mehr Menschlichkeit gefordert

Er will eine gesellschaftliche Diskussion in Gang setzen. In einem Beitrag für die Tageszeitung „taz“ fordert er im Mai mehr Menschlichkeit für Schwerstkranke. Der Titel des Artikels, „ICD-10-GM-2014 C34.9“, ist sein Diagnoseschlüssel. „Vieles spricht für eine neue Verwaltungsethik, für Menschlichkeit bei bürokratischen Vorgängen im Angesicht des Todes. Denn es sind Steuergelder und Krankenkassenbeiträge, die diese Verwaltungen finanzieren“, schreibt er. Und bekommt viel Resonanz. Der Text findet im Internet rasche Verbreitung, sein Blog „Cancer Corner“ viele Leser. Jorzik schreibt regelmäßig über seine Erfahrungen.   „Trotz des Ernstes der Lage klingt für mich in Ihren Zeilen viel Mut und Ermutigung durch. Manchmal so viel, dass ich mich frage, wo Sie bloß mit Wut, Trauer und Verzweiflung bleiben. Ich hoffe, auch dafür gibt es Platz“, schreibt ihm ein Arzt. Wolfgang Jorzik ist sich sicher, dass sich für schwerstkranke Patienten und ihre Angehörigen vieles erleichtern ließe – wenn es den politischen Willen dafür gäbe. „Die Nachricht, dass bei dem krankenversicherten Patienten C34.9 und C79.3 diagnostiziert sind, sollte den Verwaltungsapparat in Gang bringen, um dem Mitglied der Kasse sofort mögliche Hilfen vorzuschlagen, von der Übernahme der Fahrtkosten bei ambulanten Behandlungen wie der Strahlentherapie, einer Haushaltshilfe, einen Hinweis auf den Schwerbehindertenausweis und auf den psychosozialen Dienst des Jugendamtes der Kommune“, fordert er. Es gibt Hilfsangebote für Schwerstkranke und ihre Familien, wissen Wolfgang Jorzik und Louisa Schaefer aus eigener Erfahrung. Das Paar ist den Kindern gegenüber offen mit der Erkrankung umgegangen. Leicht war das aber nicht. Die beiden haben sich professionelle Unterstützung geholt. Die Pädagogin, die den Kindern beistehen sollte, stellte ihre Arbeit rasch wieder ein. Ihnen gehe es gut, die Eltern würden genau richtig mit ihnen umgehen. Aber von der Existenz solcher Angebote müssen Betroffene erst einmal erfahren, und sie müssen sie finden. Bewilligt sind sie damit auch noch nicht. Dafür müssen Dutzende von Kopien angefertigt, zigfache E-Mails geschrieben werden. „Mir ist es schleierhaft, warum bürokratische Abläufe in schwierigen Lebenslagen nicht vereinfacht werden können“, sagt Jorzik. „Eine einfache Meldung der Diagnose und Hilfe, ohne seitenweise Formulare ausfüllen zu müssen – das allein würde Betroffene und ihre Familien ungemein entlasten und gäbe den Verwaltungen die Chance, Empathie und Kundenfreundlichkeit zu zeigen“, sagt er. Finanzielle Sorgen kommen hinzu. Doch die Realität sieht ganz anders aus: „Multiple-Choice-Fragebögen erwarten Kreuzchen an der richtigen Stelle, die ersichtlich machen sollen, wer was bei wem wann an finanzieller Unterstützung beantragt hat oder ob schon Geld geflossen ist“, weiß Jorzik. „Was würden sich die Verwaltungen der Krankenkassen, Kommunen und Rentenversicherungen vergeben, wenn sie ihre eigenen und gemeinsamen Hilfsangebote synchronisieren und im Krisenfall leicht abrufbar machen?“ Technisch dürfte das im Internetzeitalter kein Problem sein. Nicht nur der Krebs macht onkologischen Patienten Angst. Viele haben finanzielle Sorgen, auch Jorzik. Noch bekommt er Krankengeld, 1100 Euro im Monat. Wegen derselben Krankheit zahlt die Krankenkasse maximal 78 Wochen Krankengeld. So steht es im Sozialgesetzbuch. Diagnose und Arbeitsunfähigkeit seit Februar 2014 bedeutet ein Mindestmaß an finanzieller Absicherung bis August 2015, glaubte er zunächst: „Vielleicht genügend Zeit, ohne allzu großen finanziellen Druck das eigene Leben und das der Familie in ruhigere Bahnen zu bringen – auch wenn die Krebsstatistik für mich nunmehr 52-Jährigen den August 2015 für kaum erreichbar hält“, schrieb er in seinem Blog. Wolfgang Jorzik ist arbeitsunfähig. So steht es im Entlassungsbericht der Reha-Klinik. Chemo- und Strahlentherapie haben ihre Folgen hinterlassen. Müdigkeit, Kurzatmigkeit und Schwäche sind Normalität geworden. Er kann schlecht hören. N a c h d e m   d i e   R e h a   z u   E n d e   i s t ,   r u f t   d i e   z u s t ä n d i g e     S a c h b e a r b e i t e r i n      d e r      K r a n k e n k a s s e   r e g e l m ä ß i g      a n :   W a n n   e r   w i e d e r   a r b e i t e n   k ö n n e ? Das kann er nicht sagen.  T r o t z d e m   r u f t   s i e    i m m e r     w i e d e r     a n . Dann schickt die Rentenversicherung ein Schreiben mit dem Vorschlag, dass er einen Antrag auf Rente stellt. Er würde viel weniger Geld bekommen, etwa 300 Euro im Monat. Wovon soll die Familie dann leben? Ein Krankenhausaufenthalt überlagert diese Frage. Im Oktober beginnt die nächste Chemotherapie. Gerade aus dem Krankenhaus zurück, ruft die Sachbearbeiterin von der Krankenkasse wieder an. „Ihre Rentenversicherung hat Ihnen geschrieben. Haben Sie sich schon entschieden?“, will sie wissen. Das hat Jorzik, der zu diesem Zeitpunkt wegen einer halbseitigen Kehlkopflähmung nur noch flüstern kann, nicht. „Sie sollten den Rentenantrag stellen“, sagt die Sachbearbeiterin. „Das hat nur Vorteile für Sie.“

Im Ermessen der Krankenkasse

Schließlich deutet die Rentenversicherung seinen Antrag auf Reha-Leistungen um in einen Antrag auf Verrentung. „An dieser Stelle ist die Krankenkasse vom Gesetzgeber gefordert, die entsprechenden Schritte einzuleiten“, sagt Kerstin Danylak von der BKK mhplus. Die Entscheidung treffe aber die Rentenversicherung. Krankenkassen haben einen Ermessensspielraum, das Krankengeld weiter zu zahlen. Der sei auf bestimmte Tatbestände eingegrenzt, sagt Danylak. „Entsprechende Fakten liegen uns im Falle von Herrn Jorzik nicht vor.“ Die mhplus habe sich im November telefonisch mit ihm in Verbindung gesetzt. „Krankheitsbedingt konnte dieses Angebot an Herrn Jorzik nicht umgesetzt werden, da dem Patienten das Sprechen sehr schwerfiel“, sagt Danylak. Die Kasse habe ihn schriftlich über die Notwendigkeit informiert, einen Rentenantrag zu stellen. „An diesem Punkt wurde es jedoch versäumt, alle durch Herrn Jorzik angefragten Informationen zur Verfügung zu stellen. Dieses Versäumnis hat die mhplus eingeräumt und bedauert“, räumt Danylak ein. Wolfgang Jorzik fühlt sich ausgetrickst. Er lässt sich juristisch beraten. Nichts zu machen. Die Krankenkasse darf ihm drohen, die Zahlung des Krankengelds einzustellen, wenn er nicht wie gewünscht einen Antrag auf Rente stellt. Stilvoll und moralisch sei das Verhalten allerdings nicht, konstatiert der Rechtsanwalt. “ S i e   s i n d   e b e n   n u r   e i n   V  o  r  g a n g ,   d e r   a b g e a r b e i t e t   w i r d „, sagt der Jurist zu ihm. Freunde haben ein Spendenkonto für die Familie eingerichtet.

Neue Chemotherapie begonnen

Im Dezember stellen die Onkologen weitere Metastasen im Gehirn fest. Von weit her sind Freunde zum Gartenfest gekommen. Vor der Hütte spielt ein Freund Akkordeon, ein anderer Gitarre. Wolfgang Jorzik und Louisa Schaefer stehen unter dem kleinen Vordach. Etwas entfernt brennt trotzig ein Feuer in einer Metallschale, Kinder spielen Fußball. Jorzik lächelt. Er hebt die Arme, um die vielen Umstehenden zum Singen zu ermuntern. Manche singen, manchen versagt die Stimme. Wider Erwarten finden die Ärzte nach der Gartenparty doch noch eine weitere Therapieoption. Mit dem neuen Jahr hat Wolfgang Jorzik eine neue Chemotherapie begonnen. Die dritte. Und er hat der Bürokratie einen kleinen Sieg abgerungen. Weil die BKK mhplus ihn nicht ausreichend informiert hat, erstattet sie seine Anwaltskosten, hat sie ihm gerade telefonisch mitgeteilt. Jorzik freut sich. „Es lohnt sich, sich zu wehren.“