Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

DIE UNABHÄNGIGEN. Von Karl Kraus

03. März 2014 | Kategorie: Artikel

Die Fackel .

Nr. 1 WIEN, ANFANG APRIL 1899 S. 4- 8

DIE UNABHÄNGIGEN.

Es sei mir gestattet, in Kürze mein geistiges Vorleben zu skizzieren, bevor ich es unternehme, von selbständiger Tribüne zu einem Forum zu sprechen, auf welchem Dank dem Marktgeschrei der täglich zweimal verfälschten öffentlichen Meinung der ehrliche Mann sein eigenes Wort nicht hört. Ich habe es bisher nicht über den Ruhm hinausgebracht, in engeren Kreisen missliebig geworden zu sein. Zum Hasse einer literarischen Koterie, deren anmaßendes Strebertum und hochstaplerisch durch Geckereien und allerlei Niedlichkeiten verdecktes Unvermögen ich mir zu enthüllen erlaubte, hat sich die Wut einer neuestens organisierten politischen Radautruppe gesellt. Sie nennen sich »Zionisten«, möchten in dem durch nationale Krakele sattsam verunreinigten Österreich den Bestand einer neuen, der jüdischen Volkheit behaupten und harmlosen Passanten, die glücklich den antisemitischen Kotwürfen entgangen sind, Sehnsucht nach dem gelobten Lande aufdrängen. Eine kleine Satire, zu der mich dies muntere Treiben anregte, hat mich in der Folge jene bekannte Rachsucht verkosten lassen, »die da ahndet bis ins dritte und vierte Glied«, und aus jener unpolitischen Wut, wie sie nur die Angehörigen einer noch ungeübten Nation so offen betätigen können, ergoss sich ein rotes Meer von Beschimpfungen über mich, durch das trockenen Fußes hindurchzukommen auch mir gelang, der von dem projektierten Auszug in das gelobte Land so entschieden abgeraten hatte.

Mein Sündenregister wäre unvollständig, vergäße ich die Erwähnung des Kampfes, den ich in mehreren periodisch erscheinenden Druckschriften seit einer Reihe von Jahren gegen die periodisch erscheinenden Dummheiten und Lächerlichkeiten unseres politischen, gesellschaftlichen und literarischen Lebens geführt habe. Freilich, nicht immer mit der zum Angriff nötigen Lust, weil — ja, weil gewisse Rücksichten, die selbst die Herausgeber anständiger oder, um ein milderes Wort zu gebrauchen, »unabhängiger« Blätter gewissen Cliquen schuldig zu sein glauben, nun einmal kein befeuerndes Motiv sind. Wenn ihm der ursprüngliche Antrieb freier Wahl genommen, steht der kritische Losgeher selbst den von oben bewilligten Opfern teilnahmslos gegenüber. Nicht die Zensur des Staatsanwalts habe ich gefürchtet, vielmehr die intimere eines Chefredakteurs, die, wenn ich sozialen Ekels voll, einmal in das schändliche Hausierertreiben unserer Literaten, in die Zusammenhänge von Theater und Journalistik hineinfahren wollte, mit weicher Sorglichkeit all’ den Ärger in fernere Regionen abzulenken bemüht war. Galt es, dem Publikum endlich die Augen zu öffnen über eine Pressgenossenschaft, welche, feil bis auf die Knochen, die vom halb verwesten Liberalismus noch übrig geblieben sind, eine ungeahnte Werbekraft für jede von ihr bekämpfte Idee entfaltet und durch eine klägliche Opposition dem Antisemitentross täglich neue Anhänger zuführt — galt es diese oder jene von dem Treibhaus der Wiener Eitelkeiten ängstlich ferngehaltene Wahrheit auszusprechen, dann wurde mir gewiss der Stilschnitzer in der letzten Rede des Ackerbauministers entgegengehalten, den zu bekämpfen mein heiliges Amt sei.

Aber ein Kind, das von Schmerzen geplagt ist, pflegt sich im Anblick der ihm beharrlich entgegengehaltenen Puppe erst recht nicht zu beruhigen, und so ließ ich denn die schönste Gelegenheit, ein auskömmliches Dasein durch das in den weitesten Familienkreisen noch immer für »Kühnheit« gehaltene Anulken der allwöchentlichen österreichischen Minister zu führen, im Stiche, warf den Maulkorb in den Papierkorb und ging …..

Jetzt lag er hinter mir, der Kreis der wahrhaft Unabhängigen, die pseudonym und manchmal sogar mit vollem Namen jeder Regierung an den Leib rücken, die den Mut haben, dem Grafen Thun »Sie« zu sagen, und weil sie alles, nur nicht den aufreibenden Kampf gegen das Geschmeiß im eigenen Hause wagen, ihrer Oppositionslust einen »weiten Horizont« zusprechen möchten. »Zu Hass und zur Verachtung gegen die Regierung« aufgereizt oder gar die Majestät beleidigt — mehr als eine Konfiskation kann bei der Beliebtheit des objektiven Verfahrens da nicht passieren; unternähme man es jedoch, ausnahmsweise einmal das schmutzige Kartell journalistischer Theaterpaschas aufzustöbern, so wäre das — man lebt ja in traulicher concordia — nicht nur unkollegial, es trüge auch sicher allerlei »subjektive Verfolgung« ein, die schmerzhafter ist und weniger reklamedienlich als die vom Staatsanwalt besorgte objektive. Und endlich: den Ackerbauminister, der selten zu Premieren geht, lernt man nie persönlich kennen, während man doch über Herrn Siegfried Löwy bei allen besseren Gelegenheiten stolpert. Die Direktive für einen unabhängigen Journalisten lautet also: Die Umgebung bleibe sakrosankt; auf Wiener Boden sind natürlich die Antisemiten anzugreifen; in der innern und äussern Politik Österreichs hat man reichliche Auswahl, und wenn man dann den einen Sektionschef und die zwei liberalen Abgeordneten, die der Herausgeber von Jours her kennt, nach heißen Kämpfen abzieht, erübrigt noch immer ein weites Feld zur Betätigung der wahren Unabhängigkeit….

Wer selbst den journalistischen Taglöhnern der Lüge, den Offiziösen der Regierung oder des Kapitalismus jedwede Schweinerei als ein geheiligtes Gewohnheitsrecht nachsehen wollte, den müsste die Heuchelei der angeblich unbefleckten Wöchnerinnen des Zeitungswesens in Harnisch bringen. Dort, wo zu keinem Amt, keiner Finanzgruppe, ja zuweilen selbst zu keiner Meinung Beziehungen nachweisbar sind, stellt sich pünktlich die Rücksicht auf tausend gesellschaftliche Machtfaktoren ein. Hat man sie nicht, so borgt man sich sie von der nächstbesten liberalen Zeitungsredaktion aus, und das große Tagesblatt wird nicht verfehlen, bei jeder Gelegenheit auf die junge aufstrebende Revue hinzuweisen, die so freudig ein ansehnliches Segment seines Interessenkreises auf sich genommen hat.

So sehen wir das bisschen Aufmerksamkeit, das unser Publikum nach erledigter Leibblattlektüre für bedrucktes Papier noch zu vergeben hat, in unverantwortlicher Weise allwöchentlich von Neuem missbraucht. Wer sich zum Abonnement einer Revue aufgerafft hat, fühlt sich um seine Erwartung, hier noch jene Wahrheit zu finden, die in der Tagespresse Raummangels halber ewig im »Übersatz« bleiben muss, schmählich betrogen: Statt frisch zugreifender Sozialkritik und rücksichtsloser Auffassung aller Aktualitäten nichts als eine hochmütige Sachlichkeit, dazu die gangbaren politischen Radikalismen, von einem Hohn durchtränkt, der etwa nach Prossnitz zuständig ist, und einer Unentwegtheit, die nach irgendeinem freisinnigen Bezirksverein weist — und alles dies mit einer Selbstzufriedenheit vorgebracht, als ob der Völkerfrühling ein Quartalswechsel und die Machthaber die »noch rückständigen Abonnenten« wären. Ein ewiges Kokettieren mit der Korrektheit einer Verwaltung, die zuweilen sogar die Aufnahme von Bankinseraten verweigert; aber die politisch und finanziell so prononciert reinen Hände scheuen sich nicht, dem nächstbesten Literaturdelinquenten, wofern er nur dem bekannten »Wiener Milieu« angehört, willfährig sich entgegenzustrecken …

Ich habe rückschauend der Plage des Wochenchronisten in unfreiem Kreise gedacht und noch einmal wie von weiter Ferne gesprengte Ketten rasseln gehört. Ohne Wehmut scheide ich von einer Welt der »angenehmen Verbindungen«, seit langem schon, weil man den Störer der Gemütlichkeit und des liberalen Ringelreihens in mir gewittert, scheel angesehen — bald vielleicht ein Verfemter. Kein freundlicher Warner wird künftig der unbesiegbaren Lust, Gesellschaftsgötter zu lästern, taktische Bedenken entgegenhalten, kein Chefredakteur, zitternd um seine Beziehungen, hinter meinem Rücken stehen und besorgt, ich könnte mich an Näherliegendem vergreifen, mit suggestiv warmer Stimme mir beständig in die Ohren raunen: »Aber — so machen Sie sich doch über den Ackerbauminister lustig! ….«

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Bis heute ist keine Änderung in der Beurteilung erforderlich.  Allein die Namen wechseln. Wie bemerkte Samuel Beckett: Die Sonne schien, da sie keine andere Wahl hatte, auf nichts Neues.


Was ist Kunst? Von W.K. Nordenham

28. Januar 2014 | Kategorie: Artikel, Kunst, Notizen zur Zeit

Die Notwendigkeit bei einer Vernissage eine Ansprache zu halten, erscheint durch langjährige Gewohnheit unvermeidlich und ist dennoch lässlich. Allenfalls die Vorstellung des Künstlers, des Bildhauers oder des Machers wäre erforderlich – sonst nichts. Häufig und ärgerlicherweise erfolgen zusätzlich Interpretationsversuche der Werke durch Redner und Beurteiler. Aber wer soll etwas über diese wissen, wenn nicht der Hersteller. Der aber lässt seine Bilder oder Skulpturen sprechen, als Raum-Bild Kontinuum, eine Verbindung von Kunst und Raum und Zeit. Alle guten Kunstwerke fangen einen Augenblick der absoluten Reflexion der Menschheitsgeschichte ein, als besondere Antwort auf die ewige Frage der Philosophie und heute mehr und mehr auch der Kunst: Wer sind wir und was haben wir auf dieser Erde zu suchen? Denn Kunst hat lange schon einen Auftrag der Philosophie für sich entdeckt, nämlich die Bewahrung und Demonstration der menschlichen Identität. Kunst hat nur eine Verpflichtung: Wahrheit – und eine Bedingung: Freiheit. Das meint die Loslösung von jeder Fessel. Wenn nichts mehr zwingt, dann entsteht die Bedingung für Kunst. Joseph Beuys hat 1977 Ähnliches in einem Vortrag auf der Dokumenta formuliert. Der Betrachter muss also sehr weit mitgehen, wenn er sich nähern will. Das führt dann zu verfrühter Ablehnung, häufiger noch verfrühter Zustimmung. Beides ist jedoch ohne Bedeutung; denn wenn ein Kunstwerk einen wahren Gedanken trifft und ihn erfasst, dann ist letztendlich nur wichtig, dass es diesen Gedanken gibt, wie den Urwaldriesen mitten im Amazonasbecken, den noch niemand geschaut hat. Er ist dennoch vorhanden! Das Urteil darüber – unwichtig.

Die Sprache hat es da leichter als die bildende Kunst. Einen unsinnigen Gedanken erkennt man. Ein unsinniges Kunstwerk ist schwerer auszumachen, weil es um das Geheimnis des Ursprungs geht. Um Missverständnisse zu vermeiden: Beuys Skulpturen, seine Ensembles, seine Fettecken, seine Aphorismenbilder, wie ich sie nenne, sind sein Geheimnis. Es ist wie bei dem Kind, welches in einem beliebig geformten Sandhaufen ein Tier, eine Stadt, einen Riesen ein Auto oder ein Schiff erblickt. Jeder muss selbst sehen, erfinden. Beuys hat sicherlich seinen „Blitzschlag mit Hirsch“ z.B. und seine Bilder so gesehen. Also muss man werden wie ein Kind. Den Kreis von Sein, Bewusstsein, Wissen, Erkenntnis, Handeln schließen zum Sein, zurück zum Ursprung, in den Zustand der „Unschuld“ wie Kleist in seinem Aufsatz > Über das Marionettentheater< schreibt. Dann kann man sich dem Geheimnis wieder nähern, jeder für sich. Wie viele Menschen, so viele Kunst, die sich selbst genügt wie die Schöpfung. Warum ist ein Berg ein Berg, ein Apfel ausgerechnet ein Apfel? Weil ein Bild ein Bild ist und ein Gedanke ein Gedanke, eine Skulptur eine Skulptur!

Unsere Zeit hat die Frage von „Sein oder Nichtsein“ auf „Sein oder Design“ reduziert und gibt sich mit der Frage die Antwort. Der Mensch genügt als Funktion der Hülle; denn je weniger sich der Mensch ähnelt, desto besser funktioniert er. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt. Kunst aber macht ähnlich. Deshalb kann man einfach weitermachen und sich noch freuen im Angesicht des Abgrunds, weil die Schöpfung ungeheuer ist,… Schöpfung, die sich noch in jedem Stein, in jeder Blume, in jedem perfekt formulierten Gedanken, in jedem wirklichen Bild offenbart, so, wie jeder Tag als unwiederbringlich verstanden und einzig gelebt werden muss. Über das Wesen der bildenden Kunst ist viel Widersprüchliches geschrieben worden, dass nur zu sagen bleibt, sie lässt sich nicht mit einer einzigen Metapher erklären. Kunst spricht selbst, und es ist über sie nichts zu sagen als Überflüssiges. Kunst will nicht verstanden, sie kann nur erfühlt werden, wie die Schönheit eben eines Steines, eines Regentropfens, eines Sonnenstrahls, eines Halms. Wenn sie erklärt werden soll, dann ist es mit ihr vorbei, wie mit einem Witz dessen Pointe man erklären muss. Kunst hat ihre eigene Pointe, die dem Schöpferischen entstammt. Andersherum verstanden wäre Kunst also dem Wesen nach ein Witz, über den ein Gott lacht.

Vorgetragen bei einer Vermnissage – Begegnungen am Ursprung 2001


Notizen zur Zeit. Toilettengolf. Von W.K. Nordenham

25. Oktober 2013 | Kategorie: Artikel, Notizen zur Zeit

Dass die Götterdämmerung 1914 mit dem ersten Weltkrieg begann, 1933 in bis dahin unvorstellbare Abgründe hinabführte,  sich um die Jahrtausendwende in der Gestalt eines semidebilen amerikanischen Folterpräsidenten  materialisierte, das alles scheint noch nicht genug. Analog dominiert menschliche Erfindungseinfalt auf der Ebene ungeahnter Kauflüste und die Banalität erweist sich als einzig zuverlässige, multikulturelle Bindemasse für den zum Konsumo debilis mutierten homo sapiens. Wann je konnte ein namhafter Teil der Bevölkerung „Shopping“ für ein Hobby ausgeben? Das funktioniert doch nur dann, wenn dem erfolgreich hohlraumversiegelten TV-Werbe-Dumpfschädel  außer den letzten Werbespots absolut nichts gar mehr einfallen will. Warum mir das soeben noch einmal ganz unangenehm aufstößt, macht die beigefügte Grafik deutlich. Der „freie“ Westen,der nur noch im ungehemmten Kaufrausch sich wahrhaft frei wähnen darf, hat ein vorläufiges Meisterstück abgeliefert, dem zuverlässig weitere folgen werden: Ein Toiletten-Golfset!

Produkt-Information Kann man so   – mit Bild  – in großer Auswahl im Internet finden. Der Konsumo muss ja vergleichen können.

Rom ging unter als es die geistige Führung verlor und nur noch überbordenden Konsum und Unterhaltung zum Lebenszweck erhob. Sollte es da eine Parallele geben? Nein!  Eine direkte Linie!


Notizen zur Zeit. America the beautiful … Von W.K. Nordenham

01. September 2013 | Kategorie: Artikel, Notizen zur Zeit, Seelenmord

FOCUS Mittwoch, 28.08.2013

Wegen Doktorspielchen – Zehnjähriges Mädchen wird der Vergewaltigung angeklagt.

Im Oktober wird in Texas voraussichtlich eine Zehnjährige vor Gericht stehen, der Vergewaltigung vorgeworfen wird.

In Houston, Texas, hat die Polizei ein zehnjähriges Mädchen wegen des Vorwurfs der  Vergewaltigung  festgenommen und   m e h r e r e   T a g e   f e s t g e h a l t e n . Das Mädchen hatte mit einer Gruppe von Kindern Doktor gespielt – die Mutter eines Vierjährigen zeigte sie daraufhin an.

Ein zehnjähriges Mädchen ist in Texas der Vergewaltigung angeklagt und für vier Tage in Arrest genommen worden. Das berichtet der amerikanische Fernsehsender Fox. Das Mädchen hatte mit einer Gruppe von Nachbarskindern  i m  H o f   D o k t o r  g e s p i e l t . Ein Nachbar sah die Kinder und berichtete der Mutter eines beteiligten  V i e r j ä h r i g e n  d a vo n . D i e s e  i n f o r m i e r t e   d i e   P o l i z e i . Der Vorwurf: Das Mädchen habe d e n  J u n g e n  u n s i t t l i c h   b e r ü h r t .

Der Vorfall ereignete sich im April dieses Jahres, das Mädchen war zu diesem Zeitpunkt neun Jahre alt. Zwei Monate später, im Juni, wurde es dann o h n e   j e d e   V o r w a r n u n g   v e r h a f t e t . „Ich war bei einer Freundin und meine Mutter hat sie angerufen und ihr gesagt, dass ich nach Hause kommen soll“, sagte die junge Angeklagte in einem Interview mit Fox. Als sie sich auf den Weg heim machte, wartete vor ihrer Haustür offenbar die Polizei. „Ich weinte und sie brachten mich in das Polizeiauto. Ich wollte nicht einsteigen. Ich weinte und versuchte nicht einzusteigen. Meine Mama sagte, ich solle mich beruhigen.“

Beim Verhör durfte ihre Mutter nicht dabei sein

Vier Tage Jugendgefängnis brachte ihr das Doktorspiel ein. „Es ist ein Albtraum“, sagte ihre Mutter im Fernseh-Interview. Nach eigener Aussage v e r b o t   i h r    d i e    H o u s t o n e r   P o l i z e i ,  b e i  d e m  V e r h ö r  i h r e r   T o c h t e r   a n w e s e n d   z u  s e i n. Das Mädchen sei nach der 45-minütigen Befragung   i n    T r ä n e n   a u f g e l ö s t   g ew e s e n . „Als meine Mama kam um mich zu sehen, habe ich gesagt, dass ich nach Hause will und dann hat sie gesagt, dass ich nicht nach Hause gehen kann.“ Vorbei ist der Spuk für das Mädchen noch nicht: Es wird aller Voraussicht nach  im  Oktober  w e g e n   M i s s b r a u c h s  vor Gericht stehen.

Eigentlich will ich mich nicht mehr aufregen. Dies Land hatte in den 60 er Jahren mit der Friedensbewegung für mich einmal Vorbildcharakter. Aber was geschieht hier ? Was ist in diesem sogenannten Land der Freien seit nunmehr  Jahren los? Waterboarding als Möglichkeit des Verhörs, ohne dass die Verantwortlichen in der Regierung je dafür belangt wurden?  Gelogene Gründe für einen Irakkrieg, in dessen Folge jetzt monatlich mehr Tote zu beklagen sind als zu Saddam Husseins schlimmsten Zeiten und keine Anklage gegen die Verantwortlichen? Guantanamo unter weiterhin rechtsfreien Bedingungen bestehend?  Eine Syrienpolitik Amerikas mit 100 000 Toten und Millionen von Flüchtlingen, das nach zwei Jahren immer noch nicht merkt, wem man da auf den Leim gegangen ist, wo man schon in Afghanistan denselben Irrsinn mit den Taliban veranstaltet hatte, als diese gegen die Sowjets aufgerüstet wurden? Während jene abziehen mussten, wurden diese so stark, dass der 9. September folgen konnte und mit NSA ein Überwachungsmechanismus möglich wurde, der allen Vorstellungen von Demokratie und Freiheit spottet. Jetzt wird eine Zehnjährige eingesperrt wie ein Schwerverbrecher und ohne Beistand verhört.  Das nenne ich unsittlich berührt! Das nenne ich Missbrauch! Anstatt sich zu entschuldigen bereitet man eine Anklage vor, um den Seelenmord zuverlässig zu vollenden. Und am Sonntag gehen die Protagonisten dieses Wahns alle in die Kirche, zusammen mit George W. Bush und beten um eine Vergebung, die, wenn es nach der Schrift geht, nimmer erteilt werden kann. Sie werfen nicht nur den Ersten, sondern jeden greifbaren Stein und verdrängen in ihren Hochmut, der bekanntlich vor dem Fall kommt, dass dies nur den Unschuldigen unter ihnen erlaubt gewesen wäre.  Dann jährt sich noch die berühmte Rede des wahren Friedensnobelpreisträgers Martin Luther King, und die größtmögliche präsidiale Enttäuschung – gemessen an der Erwartung – steht am Rednerpult und gedenkt. Was für Berater hat dieser Mann?  America the beautiful… the land of the free and the home of the brave? Ich fasse es nicht.

P. S. Nach Snowden scheint es angebracht, am Schluss eines Artikels mit doch kritischem Inhalt über die USA, ein paar freundliche Grüße an die Mitarbeiter der NSA anzuhängen, was hiermit geschieht.


Notizen zur Zeit. “Gescheite Kamera” und : Wer fragt, muss raus !

24. August 2013 | Kategorie: Artikel, Notizen zur Zeit

Spiegel online 21.8.2013

Bayern: CSU-Fraktionsvize gönnt sich eine Luxuskamera

CSU-Fraktionsvize König: „Gescheite Kamera“ abgerechnet

Kaum ist die Verwandtenaffäre ausgestanden, da ist schon wieder Alarm bei der CSU: Ein führender Christsozialer im bayerischen Landtag langte bei der Kostenerstattung für Kommunikationsgeräte ordentlich zu. Der Betroffene hält alles für normal, Parteifreunde sind entgeistert.

Etwas Solides sollte es sein, eine Kamera, auf die man sich verlassen kann. Alexander König entschied sich für ein Modell der Firma Leica, bekannt für optische Geräte der Spitzenklasse. Der Preis für das Gerät, das der Fraktionsvize der CSU im bayerischen Landtag und Parlamentarische Geschäftsführer wählte: rund 6000 Euro. König zahlte nicht aus eigener Tasche. Vielmehr wurde der Kauf der „mandatsbedingten Aufwendung“ über die Kostenerstattung „für Informations- und Kommunikationseinrichtungen“ abgewickelt, die den bayerischen Parlamentariern in Höhe von 12.500 Euro pro Legislaturperiode zusteht. Die schöne Leica gab es für König damit    a u f   K o s t e n   d e s   S t e u e r z a h l e r s. (…)

Jetzt erscheint das Maximilianeum wenige Wochen vor der Landtagswahl ein weiteres Mal in einem äußerst ungünstigen Licht. Schon wieder geht es um Fälle, bei denen die Grenzen zwischen ordnungsgemäßem Verhalten und Selbstbedienung fließend sind. Landtagspräsidentin Barbara Stamm (CSU) will die Namen der betroffenen Abgeordneten zunächst nicht veröffentlichen, sondern Erklärungen der Parlamentarier einholen. Unklar ist deshalb weiterhin, welcher Parlamentarier es für nötig hielt, sich für eine 2 , 5 – s t ü n-     d i g e   S c h u l u n g  i n  d e r   S  ch w e i z   H o t e l k o s t e n  erstatten zu lassen. Oder welcher Abgeordnete s e c h s Rechnungen für die Beschaffung von „Informations- und Kommunikations –   einrichtungen“ einreichte – davon waren   f ü n f  Rechnungen  ü b e r    r u n d    3 9 0 0    E u r o    a n   e i n e   F i r m a   a d r e s s i e r t ,     “ d e r e n     G e s c h ä f t s f ü h r e r    d e r    A b g e o r d n e t e        s e l b s t   i s t „, wie es im Bericht des Rechnungshofs heißt.

Vor allem die CSU hat jetzt ein Problem

König sah sich offenbar aufgrund von Recherchen mehrerer Zeitungen gezwungen, den Kauf einzuräumen. Er habe sich r e g e l m ä ß i g  über d e f e k t e   k l e i n e   F o t o a p p a r a t e  geärgert und beim Landtagsamt  nachgefragt,  ob  er  sich  über die  Pauschale auch eine “ g e s c h e i t e “ Kamera kaufen könne, sagte König der Nachrichtenagentur dpa. Dies sei bejaht worden. Nicht nur König hat jetzt ein Problem, sondern vor allem auch die CSU: Erneut steht ein Vertreter der Christsozialen als Raffke da – und genau diesen Eindruck wollte die Partei unbedingt vermeiden, nachdem sie bereits vor wenigen Wochen in der Verwandtenaffäre ziemlich schlecht ausgesehen hatte. Nicht nur der inzwischen abservierte Fraktionschef Georg Schmid hatte eine Übergangsregelung genutzt, um seine Frau mit einem lukrativen Bürojob auf Steuerzahlerkosten zu versorgen, auch  s e c h s   K a b i n e t t s m i t g l i e d e r  waren verwickelt. Zwar gab es einen ähnlichen Fall in der SPD, aber keine andere Partei steckte so tief in der Affäre wie die CSU. (…)

Der „Süddeutschen Zeitung“ zufolge gilt die Kritik des Rechnungshofs weiteren CSU-Parlamentariern. So habe ein Christsozialer in den vergangenen  Jahren  s e i n e   k o m p l e t t e      M i t a r b e i t e r p a u s c h a l e  an eine Rechtsanwaltskanzlei überwiesen, die  v o n  i h m   s e l b s t  gegründet worden sei.(…) CSU-Fraktionschefin Christa Stewens hatte am Dienstag betroffenen Abgeordneten nahegelegt, sich mit einer E n t s c h u l d i g u n g  an die Öffentlichkeit zu wenden. Alexander König betonte zuletzt, seine Abrechnungen mit dem Landtagsamt seien in Ordnung. Er habe den Sachverhalt gegenüber der Nachrichtenagentur dpa vollständig erläutert, teilte der 52-Jährige SPIEGEL ONLINE schriftlich mit. „Mehr weiß ich dazu nicht zu erklären.“

Kölner Stadtanzeiger 27.8.2013

Seehofer attackiert den WDR

Knapp drei Wochen vor der Landtagswahl attackiert CSU-Chef Horst Seehofer den WDR. Bei einer Wahlkampfveranstaltung in Würzburg wollte Landtagspräsidentin B a r b a r a  S t a m m  (CSU) Fragen eines ARD-Fernsehteams zur Verwandtenaffäre im bayerischen Landtag nicht beantworten, wie die „Main-Post“ (Montag) berichtete. S t a m m   f ü h l t e   s i c h  von den Reportern der WDR-Sendung „Monitor“  b e d r ä n g t   u n d   i n f o r m i e r t e  CSU-Chef Horst S e e h o f e r . Der erklärte dem „Main-Post“-Bericht zufolge anschließend: „Das geht so nicht. (…) D i e  m ü s s e n   r a u s  aus Bayern.“

 

Woraus  zum Teufel speist sich bloß diese Politikverdrossenheit? Wer nix weiß, hat nix zu erklären.  Fragen bleiben per ordre mufti unbeantwortet. Eine Entschuldigung wird nahe gelegt, greift aber bei weitem zu kurz. Die Dicke des Brettes vor dem Kopf, lässt auf den beklagenswerten Zustand dahinter schließen. Es kann im Zweifelsfall nur schlimmer kommen. Ein Wulff hätte dreimal gehen müssen. Bleibt die Frage : Macht das Leben in den Wirtshäusern und um sie herum wirklich so blöd, dass die CSU am 15. September wieder mit 50 % rechnen darf? Wetten dazu werden nicht angenommen, die Quote wäre zu schlecht. Noch benötige ich kein Visum für Bayern, würde wohl auch keines erhalten.


Notizen zur Zeit. Nachgiebig und empfindsam.

10. August 2013 | Kategorie: Artikel, Justiz, Nazis

Kölner Stadtanzeiger 07.08.2013

Nazi-Parolen bleiben unbestraft

Krawallstimmung in der Straßenbahn am R o s e n m o n t a g , e s  i s t  s p ä t e r   A b e n d. Vier angetrunkene Männer zwischen Mitte 20 und Mitte 50 sitzen jeweils zu zweit einander gegenüber, und statt Karnevalslieder zu singen, lassen sie braunes Liedgut hören. Und grölen Parolen wie „Deutschland den Deutschen“, „Ausländer raus“ und „Juden vergasen“. „Heil Hitler“ zu ausgestrecktem Arm darf auch nicht fehlen. Andere Fahrgäste sind verärgert  oder v e r ä n g s t i g t, zumal solche a u s l ä n d i s c h e r Herkunft. Am beherztesten reagiert ein junges Paar: Die Frau fordert die Männer auf, mit dem „Scheiß“ aufzuhören, erntet aber bloß hämisches Gelächter. Der junge Mann verständigt an der Haltestelle „Zoo“ die Polizei. Die stoppt die Straßenbahn am Wiener Platz; den zwei Beamtinnen kommen verstörte Passagiere entgegen.   D a n k   d e r   Z e u g e n a u s s a g e n   d e s   P a a r s   w e r d e n   d i e   M ä n n e r, die  sich verbal ausgetobt haben,   i d e n t i f i z i e r t und bekommen eine Strafanzeige.

Hat sich dieser Vorfall am 11. Februar dieses Jahres nach 23 Uhr in einer Bahn der Linie 18 tatsächlich so abgespielt? Darum ging es am Dienstag vor dem Kölner Amtsgericht. Von den vier Beschuldigten machten drei von ihrem Schweigerecht Gebrauch. Nur der 30 Jahre alte Alexander G. (Name geändert) sagte aus, indem er einen Text verlas, den Richter Rolf Krebber als „ P a m p h l e t “ bezeichnete und der den  V e r d a c h t  d e r  R e c h t s r a d i k a l i t ä t  n u r  s t ä r k e n  k o n n t e . Darin ist die Rede von der „Intoleranz und Willkürhaltung unseres sogenannten Rechtsstaates“, in dem etwas eine „strafrechtliche Relevanz“ bekomme, das eine „Bagatelle“ sei. Das „Recht auf gesunden Nationalstolz“ werde den Deutschen verweigert: „Wir sind immer die Verfolgten mit dem Stempel der Nazi-Ideologie.“ (…) Das Paar, 26 und 27 Jahre alt, wiederholte im Zeugenstand, was es mitbekommen haben will. „Es war echt extrem“, sagte die Studentin; ihr Freund, ein Mediendesigner, gab an, „in so einer Form“ habe er rechte Pöbeleien noch nicht gehört: „Es war krass.“ (…) Wie die Studentin konnte er die gehörten Sprüche nicht einzelnen Personen zuordnen. Trotzdem  sah die Staatsanwältin „ n i c h t  d e n  H a u c h   e i n e s   Z w e i f e l s “ an der Richtigkeit der Anklage und beantragte Freiheitsstrafen,  im    Fall  von   Alexander  G.,     der    m e h r f a c h  v o r b e s t r a f t ist, sogar ohne Bewährung.

Richter Krebber aber sah aber keine andere Möglichkeit, als den Anträgen der Verteidigung zu folgen, und sprach alle Männer frei. In den 25 Jahren seines Dienstes sei ihm „noch keine Entscheidung so schwergefallen“. Doch für eine Bestrafung sei es nötig, „jede Äußerung jedem Einzelnen zuordnen zu können“. Der Rechtsstaat habe sich an Regeln zu halten und zeige sich „ a m  s t ä r k s t e n  d a n n,  w e n n   e r    n a c h g i e b i g   u n d   e m p f i n d s a m   i s t“.

Dass mir nicht die Tränen kommen!  So empfindsam wie mit dem empfindsamen Alexander G. ging man mit der Linken nie um. Schwer ist es ihm gefallen, dem Richter. Das kann man verstehen, weil man es kaum begreift. Der NSU-Porzess war ihm vor lauter Empfindsamkeit nicht präsent. Am Rosenmontag zweifelsfrei erkannt, lässt sich nicht mehr sagen, wer was gesagt hat. Rosenmontag immerhin und einige Monate her. Alle haben was gesagt, das ist klar. Jetzt sagen drei von vieren nichts, nur einer entleert eine paar eindeutig braune Parolen. Es gibt ein Polizeiprotokoll des Vorgangs,  das sollte für alle reichen, aber das reicht dem immer Richter nicht. Mir reicht´s.  Es wird  zu viel freigesprochen  von deutschen Richtern,  so lange, bis man nicht mehr frei sprechen kann. Es finden sich Orte in Deutschland, wo das schon  erreicht ist, nachgiebig und empfindsam, versteht sich.


Notizen zur Zeit. Wie man 1905 schon erkannte .

07. August 2013 | Kategorie: Artikel, Notizen zur Zeit

Mayer Rothschild : Handbuch der gesamten Handelswissenschaften 1905   Band 1 Seite 415

Die Tilgung der Staatsschuld ist, im Hinblick auf die kommenden Generationen, Pflicht einer guten Finanzverwaltung. Als Mittel zur Tilgung können ordentliche und außerordentliche Einnahmen verwendet werden. Einen eigenen Tilgungsfond zu schaffen ist nicht nötig; zweckmäßiger eine freie Tilgung in der Weise, das in jeder Finanzperiode so viel von der vorhandenen Schuld zurückgezahlt wird, als unter den gegebenen Verhältnissen möglich ist. Die Tilgung erfolgt je nach Maßgabe der bei der Kontrahierung der Anleihen eingegangenen Bedingungen und des Zinsfußes der verschiedenen Schuldarten. Begreiflicherweise wird man jene Schulden zuerst tilgen, deren Tilgung für die Staatskasse am vorteilhaftesten ist.

Die neueste Finanzpolitik nimmt auf Rückzahlung der Staatsschulden immer seltener Betracht.Zur Schuldentilgung gehört auch die Wiedereinziehung von umlaufendem Papiergeld. Sie wird zur Pflicht eines geordneten Staatswesens namentlich dann, wenn das Papiergeld unter pari gesunken ist.

Die Federal Reserve – ein Privatunternehmen  –  steuert eine Politik, die alle Regeln vergessen machen will.  Die Notenbanken  drucken munter, was die Druckerpressen nur hergeben.  Die Inkompetenz der politischen Klasse ist und bleibt  die einzige Konstante in der Geschichte.

 


Was ich will, ist, dass die Presse aufhöre zu sein – Kraus und der Journalismus. Von Richard Schuberth

19. Juli 2013 | Kategorie: Artikel, Richard Schuberth

Richard Alexander Schuberth ist Schriftsteller – unter anderem –  und lebt in Wien. Die Lektüre seiner Schriften sei dem empfohlen, der den Kopf nicht nur als Huthalter oder Frisierobjekt missbraucht. Der  Text, dem weitere folgen werden, wird hier mit seiner ausdrücklichen Genehmigung abgedruckt. Er entstammt dem Buch

Richard Schuberth                                                                                      30 Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus

238 S. , EUR 24,-
Broschur mit Fadenheftung
ISBN 978-3-85132-531-7, 2008

Was ich will, ist, dass die Presse aufhöre zu sein – Kraus und der Journalismus

Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus, Teil 4

Du brauchst nicht mehr zu wissen noch zu denken,
Ein Tagblatt denkt für dich nach deiner Wahl.
Die Weisheit statt zu kaufen steht zu schenken,
Zu kaufen brauchst du nichts als das Journal.

Franz Grillparzer (aus Dem internationalen Preßkongreß)

Richard Schuberth  05.03.2006

Auf dem Höhepunkt des bürgerlichen Zeitalters, in der Periode zwischen 1848 und 1914, profiliert sich die Zeitung als Medium der Emanzipation und Bildung. Feuilletonisten und Leitartikler machen den seit der Aufklärung heroisierten Dichtern und Denkern Konkurrenz. Besonders die Ästhetizisten als Künder des ewig Wahren und Schönen wehren sich gegen die Anmaßungen des täglich neu gedruckten und weggeworfenen Worts. Hugo von Hofmannsthal z. B. gefällt es gar nicht, dass auf den elendsten Zeilenschreiber etwas vom Glanz der Dichterschaft abfällt. Dem hätte Karl Kraus wohl zugestimmt und von Hofmannsthal und seinesgleichen gleich den Glanz mit runterpoliert.

Dass Karl Kraus in der Journaille, wie er das journalistische Gewerbe nannte, seinen Hauptfeind bekämpfte, ist beinahe eine Untertreibung. Mehr noch war die 1899 gegründete Fackel die unversöhnliche Antithese zur Presse schlechthin, in ihrem Titel schon leuchtet die Doppelbedeutung von Erhellung und Brandlegung auf, jener Productivkraft schöpferischer Zerstörarbeit, deren deklariertes Ziel die Trockenlegung des weiten Phrasensumpfes war.

Karl Kraus kannte die Produktionsbedingungen des bürgerlichen Journalismus gut genug, schrieb er doch seit 1892 selbst für die damals wichtigste meinungsbildende Kraft Mitteleuropas, die Neue Freie Presse sowie in der Wochenschrift Die Wage. Als das Gerücht, der begabte junge Autor wolle eine eigene Zeitschrift gründen, auch in die Redaktion der Neuen Freien Presse drang, wollte die ihn als Redakteur an sich binden. Karl Kraus Selbstbewusstsein war indessen stark genug für die Gewissheit, dass er nicht reif für die NFP sei, sondern diese reif für ihn. Er gründete 1899 die Fackel und formulierte  bereits in der Nullnummer sein Programm: kein tönendes Was wir bringen, aber ein ehrliches Was wir umbringen hat sie sich als Leitwort gewählt.

Beim Morgenkaffee plötzlich Daliegendes

Kraus Kampf gegen den Journalismus ist ein vielschichtiges Unternehmen und es bedarf profunden Studiums, bis sich einem die disparaten Elemente seiner Kritik als schlüssiges Ganzes offenbaren. Seine Pressekritik beherbergt sprach- und moralkritische, politische, ökonomische und medienphilosophische Aspekte. Diese aber sind so klug ineinander verzahnt, dass jeder Versuch ihrer analytischen Trennung von ihrem Verständnis wegführte. Hier nur der Anflug eines Versuchs, Eckpunkte eines Lebenswerkes zu skizzieren.

Der Sprachverfall ist zugleich Ursache, Folge und Symptom all dessen, was Kraus verabscheut und apokalyptisch überhöht, die Presse sein Brennglas.

Zunächst ist Kraus nur daran gelegen, den Schuster bei seinem Leisten bleiben zu lassen. Als sachlicher Informationsdienst ist ihm die Zeitung durchaus willkommen, eine knappe unprätentiöse Sprache sogar literarisch inspirierend. Störend wird der Journalismus erst, wenn er sich mit dem Anspruch von Objektivität und schlimmer noch als Meinungsbildner zwischen den denkenden Menschen und die Wirklichkeit stellt, und ihm die Möglichkeit autonomer Reflexion durch die Fütterung mit dem selbstgerechten Meinungsbrei des Leitartikels abnimmt.

Mit selten einfühlsamer Pädagogik fordert Kraus den Leser zur Mündigkeit auf: Freundlicher Leser! Der du noch immer die Zeitung für ein von geheimnisvoller Macht Erschaffenes, aus pythischem Munde Weisheit Kündendes, beim Morgenkaffee plötzlich Daliegendes hältst, der du vom Offenbarungsschauer dich angewehet und der Ewigkeit näher fühlst, wenn Löwy oder Müller im Wir-Ton leitartikeln , werde misstrauisch, und einer von Druckerschwärze fast schon zerfressenen Kultur winkt die Errettung. Lasse den Zeitungsmenschen als Nachrichtenbringer und kommerziellen Vermittler sich ausleben, aber peitsche ihm den frechen Wahn aus, dass er berufen sei, geistigen Werten die Sanction zu erteilen. Nimm das gedruckte nicht ehrfürchtig für baare Münze! Denn deine Heiligen haben zuvor für das gedruckte Wort baare Münze genommen.

Schon früh läutet Kraus eine Revolution in der Medienkritik ein. Beschränkte sich diese vor ihm zumeist auf Bildungsdünkel oder Entsetzen über die Verflachung der Sprache, so wirft Kraus sein satirisches Schlaglicht auf die politischen und ökonomischen Bedingungen der Wirklichkeitsproduktion. Und findet seinen Erzfeind nicht in den Pöbelblättern der Deutschnationalen, sondern im vorgeblich kleineren Übel, der liberalen, fortschrittlichen Neuen Freien Presse.

Den Schlüssel zur Heuchelei der interesselosen Meinungs- und Faktenfabrikation findet Kraus in den üppigen Inseratenteilen der Zeitungen. Sein Zeitgenosse, der Nationalökonom Karl Bücher definierte die moderne Zeitung als Erwerbsunternehmen, das Annoncenraum als Ware verkauft, die nur durch einen redaktionellen Teil verkäuflich wird. Diese scharfsinnige Spitze mag heute nicht mehr stechen, so selbstverständlich ist die Verabsolutierung kapitalistischer Marktprinzipien geworden.

Auch der Arbeiter Zeitung, der er zwischen Wohlwollen und Distanz verbunden blieb, rechnete Kraus früh die Widersprüche zwischen Absicht und Tat auf:

Aufsehen erregt haben seinerzeit die Artikel der Arbeiter-Zeitung über die Mordschiffe der Donau-Dampfschiffahrt-Gesellschaft durch die Kühnheit ihrer Sprache. Seit damals Herbst 1898 erscheinen statt der Mordschiffe in kleinen Intervallen Mordsinserate der Donau-Dampfschiffahrts-Gesellschaft. () Die Mordschiffe werden allerdings nicht angegriffen; sie sind zwei Jahre älter geworden. Und zeigte mit dieser Sentenz, wie brillant sich das als seicht verschriene satirische Mittel des Kalauers mit einer Sache gegen eine Sache rüsten ließ.

Kraus ging jedoch einen bedeutenden Schritt weiter und wurde nicht müde nachzuweisen, dass der redaktionelle Teil selbst geheimer Umschlagplatz der Warenform ist. Nicht nur dem heuchlerischen Nebeneinander von Geist und Kommerz gilt seine Kritik, sondern der schleichenden Kommerzialisierung des Geistes, die er am Sprachgebrauch diagnostiziert.

Die Presse als Bote, Partei und Ereignis

Damals wie heute wirkt Kraus Totalisierung des Pressunwesens, ihre Hypostase zur Hauptursache aller gesellschaftlichen Übel, als überspannt, gerade so, als hätte sich ein narzisstischer Kritiker eine freie Nische gefunden, deren Bedeutung er zur Überhöhung der eigenen überhöhen muss.

Wohl ist er sich bewusst, wo die Basis, wo der Überbau ist: Ich habe die Presse nie als Ursache, sondern immer nur als Wirkung verklagt. () Ich weiß schon, dass die Nässe nicht am Regen schuld ist; aber sie informiert mich darüber, dass es regnet.

Und doch bildet die Nässe Dunst, der aufsteigt, um zu neuen Regenwolken sich zu ballen. Im Frühjahr 1908 nennt der konservative Abgeordnete Gröber die anwesenden Journalisten im deutschen Reichstag Saubengels. Aus Protest stellen diese die Berichterstattung über den Reichstag ein, was die vorübergehende Einstellung der parlamentarischen Tätigkeit zur Folge hat. Kraus dazu in der Fackel: Die Öffentlichkeit hat wieder einmal dazugelernt und weiß jetzt, dass die Weltgeschichte aufhören muss, wenn sichs die Staatsmänner mit den Stenographen verderben.

Bei Kraus Fehde mit der Presse verhält es sich wie bei den anderen Feldern seiner Kritik. Ganz dem Grundsatz gemäß, dass nur die Übertreibung der Realität gerecht wird, lässt ihn sein kritischer Geist, gerade dort, wo er am verschrobensten wirkt und durch keine Sache mehr gedeckt scheint, Mauern vor der Wahrnehmung einreißen, wofür die damalige Wissenschaft und Gesellschaftskritik der Methoden entbehrte. Als erster Mensch der Geschichte formuliert er Zusammenhänge, welche zum wesentlichen Topos der Medien- und Kulturkritik des 20. Jahrhunderts avancieren würden, ohne dass die es ihm je gedankt hätten. Karl Kraus kommt dem Prinzip der Substitution der Wirklichkeit durch die Medien auf die Schliche.

Seinen Zeitgenossen evident wird diese Macht spätestens durch die Rolle der Presse im I. Weltkrieg: Längst nicht mehr ist sie Vollzugsorgan politischer Macht, sondern lenkt die Ereignisse selbst kraft ihrer Deutungshegemonie.

Schon 1909, als ein gewisser Minister Aerenthal der bereits damals kriegsbegeisterten NFP durch den Historiker Friedjung Falschinformationen über eine Verschwörung Kroatiens mit Belgrad zuspielen lässt und somit einen Krieg gegen Serbien vom Zaun brechen will, erkennt Kraus die Omnipotenz der Presse als Wirklichkeitsmanipulator. Er verfolgt diesen Pfad bei der Berichterstattung über die Balkankriege und findet seine anfänglich polemische Position durch die Rolle der Presse im I. Weltkrieg bestätigt:

die Presse ein Bote? Nein, das Ereignis. Eine Rede? Nein, das Leben. Sie erhebt nicht nur den Anspruch, dass die wahren Ereignisse ihre Nachrichten über die Ereignisse seien, sie bewirkt auch diese unheimliche Identität, durch welche immer der Schein entsteht, dass Taten erst berichtet werden, ehe sie zu verrichten sind …

Hiermit nimmt Karl Kraus, der sich längst nicht auf Sprache beschränkt, sondern Photographie, Reklame und Film in sein Denken mit einbezieht, die größten Leistungen der späteren Kulturindustrie- und Medienkritik vorweg, wie Sigfried Kracauers Analyse der Photographie in den 20er Jahren etwa (In den Illustrierten sieht das Publikum die Welt, an deren Wahrnehmung es die Illustrierten hindern.), oder Günther Anders Analyse des Fernsehens (Am Anfang war die Sendung, für sie geschieht die Welt.) oder die schwachbrüstigere Medienkritik eines Marshal MacLuhan, weitschichtig auch die Simulakrentheorie von François Baudrillard.

Kraus contra Békessy, Thurnherr und Sperl

Nach dem Krieg sieht sich Kraus einem neuen Typus von Journaille gegenüber: In den Revolverblättern des Erpressers und Medientycoons Imre Békessy wird die idealistische Maske fallen gelassen, auf welche die NFP noch Wert legte, und der Prototyp des populistischen Boulevardjournalismus geschaffen, der auch heute noch den Zeitungsmarkt beherrscht. Die Dramaturgie des folgenden Kampfes nimmt jene des Westerns High Noon vorweg. Dass Békessy mit offenen Karten spielte, Korruption und Lüge als journalistisches Prinzip ehrlich zugab Niedertracht unter dem Vorwand der Niedertracht , mag den Dialektiker Kraus sogar amüsiert haben, ehe sich dieser wieder mit dem Ethiker zugesellte und mit den donnernden Worten Raus mit dem Schuft aus Wien! einem Schieberimperium, dem sich Kraus alte Feinde wie Felix Salten und Anton Kuh nur zu gerne andienten, den Krieg erklärte. Ein Krieg, den er völlig alleine führen würde. Ich kenne keine Parteien mehr. Ich kenne nur Feiglinge. Zwei Jahre später, 1926, ergriff Békessy die Flucht nach Paris. Einer der wenigen Erfolge, den Satire je gezeitigt haben dürfte.

Wie sehr den Zeitungsintellektuellen unserer Tage die Angst vorm Fackelkraus im Nacken sitzt, beweist die magische Praxis des Zitats. Man zitiert Kraus, weil er nicht mehr lebt und damit er nicht mehr lebt. Der rituell-magische Charakter des Zitats funktioniert auf zwei Ebenen. Das Krauszitat lässt den Journalisten magisch an dessen geistiger Autorität teilhaben und dient zugleich als Schutzzauber. Wogegen? Gegen Kraus selbst, dessen Geist ja noch immer durch die Redaktionsstuben spuken und die eigenen Texte ihrer ganzen Dürftigkeit überführen könnte.

Die Frage indes, wie Karl Kraus sich zur heutigen Presselandschaft äußern würde, zählt selbst schon zu den automatisierten Phrasen des Feuilletons oder Impulsreferats. Sicher ist, dass er sich nicht mit Peanuts abgeben, sondern seine Kritik erst bei jenen so genannten Qualitätsblättern ansetzen würde, deren vorgebliches Niveau sich hierzulande aus der Distanz zur Kronen Zeitung ableitet. Die Chefredakteure, Leitartikler und Feuilletonisten von, Presse, Profil, besonders aber Standard und Falter, die sich aus Mangel an Alternativen den Lesern als das äußerst Mögliche an kritischem Geist aufdrängen, lebten in ständiger Angst und Hoffnung, dass sich die Privatwirtschaft ihrer erbarmte, wenn der Redakteurssessel zu heiß würde.

Richard Schuberth


Karl Kraus der Sozialismus III: Rosa Luxemburg . Von Richard Schuberth

17. Juni 2013 | Kategorie: Artikel, Richard Schuberth, Sozialismus

Richard Alexander Schuberth ist Schriftsteller – unter anderem –  und lebt in Wien. Die Lektüre seiner Schriften sei dem empfohlen, der den Kopf nicht nur als Huthalter oder Frisierobjekt missbraucht. Der  Text, dem weitere folgen werden, wird hier mit seiner ausdrücklichen Genehmigung abgedruckt. Er entstammt dem Buch

Richard Schuberth                                                                                      30 Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus

238 S. , EUR 24,-
Broschur mit Fadenheftung
ISBN 978-3-85132-531-7, 2008

 

Karl Kraus der Sozialismus III:                Rosa Luxemburg

Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus (und Rosa Luxemburg), Teil 19

„Ich bin unzufrieden mit der Art, wie man in der Partei meistens die Artikel schreibt. Es ist alles so konventionell, so hölzern, so schablonenhaft. Das Wort eines Börne klingt jetzt wie aus einer anderen Welt. Ich weiß – die Welt ist ja eine andere und andere Zeiten wollen andere Lieder haben. Aber eben ‚Lieder’, unser Geschreibsel ist ja meistens kein Lied, sondern ein farbloses und klangloses Gesurr, wie der Ton eines Maschinenrades. Ich glaube, die Ursache liegt darin, dass die Leute beim Schreiben meistenteils vergessen, in sich tiefer zu greifen und die ganze Wichtigkeit und Wahrheit des Geschriebenen zu empfinden. Ich glaube, dass man jedes Mal, jeden Tag bei jedem Artikel wieder die Sache durchleben, durchfühlen muss, dann würden sich auch frische, vom Herzen und zum Herzen gehende Worte für die alte, bekannte Sache finden.“

Rosa Luxemburg in einem Brief an Robert Seidel

Die beiden kannten einander nicht persönlich. Sie warf von Zeit zu Zeit ein paar neugierige Blicke in sein Schaffen, nicht ohne das Gefühl der Überlegenheit eines marxistisch geschulten Geists gegenüber einer bürgerlichen Bürgerkritik, aber auch nicht ohne tiefen Respekt vor seiner menschlichen und sprachlichen Größe. Er indes erschauderte vor der menschlichen und sprachlichen Größe ihres marxistisch geschulten Geistes, nachdem er per Zufall, ein Jahr nach ihrem Tode, einen ihrer Briefe fand.
Die Geschichte, die hier erzählt wird, soll als Liebesgeschichte erzählt werden – nicht weil sich Karl Kraus und Rosa Luxemburg wirklich geliebt haben, das war gar nicht nötig – sondern als Geschichte der Liebe zwischen geistigen Prinzipien, die die dingliche Welt durchdringen und sich von Zeit zu Zeit sprach- und denkmächtiger Menschen bedienen, um einander Liebesbotschaften zu schreiben.
Das Wort Sozialismus im Titel ist eine Irreführung. Ausnahmsweise soll dieses Mal weniger die Sphäre des Politischen behandelt werden, als jene persönliche und literarische, in der die Kommunistin Luxemburg und Kraus sich treffen, dem Politik, wie er bekannte, „bloß als Voraussetzung für ein Leben ohne sie beträchtlich“ war, was wiederum, wie sie ihn hätte lehren können, durchaus dem marxistischen Fernziel des „Absterbens des Staats“ entspräche.
Nicht unproblematisch ist das, besonders im Fall der kämpferischen Intellektuellen Luxemburg, deren privaten Briefe zu Ungunsten ihres theoretischen Werks die denkfaulen, aber gefühlsgierigen Rezipienten zum Kult um ihre Person verleiteten. Und es bestärkt die populäre Halbwahrheit, dass Kraus nie auf Theorie, sondern das Wirken von Tatmenschen vertraute, der Revolutionärin also, nicht der Revolution seine postume Wertschätzung galt, die sie sich dann sogar mit einem Dollfuß teilen musste, so wie sie sich schon Bismarck mit dessen sozialistischen Widersacher Wilhelm Liebknecht hatte teilen müssen.
Zu Recht fühlten die Theorien von den gesellschaftlichen Wirkkräften sich der idealistischen Überbewertung des Individuums überlegen, doch pochte stets in ihnen die Gefahr, in vorauseilendem Gehorsam die letzten unzerstörten Überreste tatsächlicher Persönlichkeit zu negieren. Sowohl Karl Kraus als auch Rosa Luxemburg hatten einen besonderen Riecher dafür, wenn unter dem Vorwand, dass das Sein das Bewusstsein zu bestimmen habe, jegliches Bewusstsein, welches aufs Sein hätte positiv zurückwirken können, erstickt wurde. Das Wissen um die soziale Determiniertheit der Person entlastet nicht von der Pflicht zur Persönlichkeit; die sich nicht etwa im charismatischen sozialistischen Führer zeigt, welcher in den Massen kaum andere Impulse entfesselt als der faschistische, sondern am Beispiel gelebter unkorrumpierbarer Individualität. Die Aparatschiks von einst wünschten einer solchen den Tod, die Intellektuellen von heute erklären diesen, aber nur, um sich die entspannte Gleichzeitigkeit von Kulturpessimismus, Spaß am Kitsch und einem gut bezahlten Posten in der Kulturindustrie oder anderswo nicht madig machen zu lassen.
Wie mit der Dialektik der Persönlichkeit, so verhält es sich mit jener von Humanität und Naturbeziehung. So überlegen sich rational reflektierende Gesellschaftskritik einer bloß moralischen zeigte, so sehr fiel jene hinter diese zurück – und kalter Zweckrationalität in die Hände, sobald sie sich ihres ethischen Fundaments enthob. Denn die berechtigte Kritik der Heulsusen wird nur zu oft von den Gefühlsarmen zur Denunziation der letzten Emotionsstarken benutzt. Desgleichen die begrüßenswerte Entlarvung von zivilisationsfeindlichem Ökologismus und eskapistischem Naturkitsch sich allzu leicht der Verdinglichung von Natur, auch der menschlichen unterwirft. Und Ergriffenheit etwa, die ein Sonnenuntergang auslöst, mit der Ergriffenheit, die ein Ölbild davon auslöst, gerne von jenen verwechselt wird, welche gar nichts mehr ergreift. Sentimentalität ist eine verdächtige Gefühlslage, doch das coole Prahlen mit Unsentimentalität um nichts besser, weil bloß das sich erfahrener dünkende Diapositiv dieser.
Zu ihrer Zeit gelang einzig Luxemburg und Kraus ein dialektisches Fortschreiten aus besagten Widersprüchen, weil sich beide nicht nur die rationalste und kaltschnäuzigste Kritik bürgerlicher Ideologie leisten konnten, ohne auf zartfühlende Humanität und Naturliebe zu verzichten, sondern sich das auch von niemandem als Widerspruch aufschwatzen ließen.
Rosa Luxemburg hatte es da als Frau besonders schwer. Zu schnell legte man ihre Emotionalität als die Rebellion ihrer femininen Seite gegen die angebliche Männlichkeit ihrer theoretischen und agitatorischen Arbeit aus. Nichts ist unsinniger! Gerade jenes Zartgefühl, das ihre Gefängnisbriefe beseelt, zeigt sich stets als Ausdruck von Selbstbewusstsein und Stärke. Auch hier trifft sie sich mit Kraus, der nie auf die Idee gekommen wäre, seine Empathie für Menschen und Dinge als seine Anima, seine weibliche Seite, wahrzunehmen. „Ein ganzer Kerl“ zu sein, dürfte für beide eine geschlechtsneutrale Forderung gewesen sein. Einer Anekdote zufolge soll Rosa Luxemburg beim Lunch mit August Bebel und Karl Kautsky sich und Clara Zetkin als die letzten Männer der deutschen Sozialdemokratie bezeichnet haben.

… entehrt, im Blute watend – so steht die bürgerliche Gesellschaft da


Mannigfaltig sind die Parallelen zwischen Kraus und Luxemburg. Beide wuchsen als deutsprachige Juden in slawischer Umgebung auf, er in Österreichisch-Böhmen, sie in Russisch-Polen. Beide erlebten früh die beginnende Nationalisierung der Bevölkerungen. Und beide glichen sie sich in sprachlichem Duktus, Ironie sowie ihrer begründeten Überheblichkeit. Sie hinkte von klein auf, er litt unter einer Rückgratverkrümmung. Dafür, dass er kaum Marx gelesen haben dürfte, verblüfft sein dialektischer Denkstil, dafür, dass sie Marxistin war, verblüfft ihre Schöngeistigkeit. Die Lösung findet sich in beider geistigen Wurzeln in der ersten bürgerlichen Moderne, der Aufklärung, als Ratio und Empfindung, Naturverehrung und Fortschrittsglaube noch ein Programm waren. Wie sehr hätte ihn aber beeindruckt, dass auch sie Goethe dem politischeren Schiller, Börne dem rebellischen Heine den Vorzug gab. Rosa Luxemburg lobte Kraus’ frühen sozialkritischen „Fackel“-Artikel, wovon er freilich nichts wusste. Eine erstaunliche Verbindung stellt sich auch durch ihre Einschätzung des seinerzeit als kritisches Gewissen Deutschlands gefeierten Publizisten Maximilian Harden her. Immerhin hatte Harden 1899 dem jungen Kraus den beinahe marxistischen Rat gegeben, sich in seiner Kritik mehr mit den ökonomischen Verhältnissen als korrupten Einzelpersonen und der Presse zu beschäftigen. Den gleichen Rat sowie eine präzise Polemik gegen Hardens Bildungshuberei, wie sie später Hauptbestandteil seiner eigenen Harden-Kritik werden sollte, hätte Kraus von R. Luxemburg bereits 1905 bekommen können, als er und Harden noch Freunde waren. Darin mokierte sie sich, wie dieser mit der Kenntnis der Völker des Zarenreichs prahlt („aus dem Brockhaus abgeschrieben“), um schließlich deren Demokratieunfähigkeit zu behaupten. „Es ist eigentlich recht merkwürdig, dass von der Höhe oder vielmehr von der Tiefe der bürgerlichen Dekadenz aus jeder Literatenbengel, an dem kein heiler Faden ist, sich berufen fühlt, über die Reife oder Unreife ganzer Völker letztinstanzliche Urteile zu fällen.“
Rosa Luxemburgs Kritik von Bürokratismus und Philistertum, speziell innerhalb der Sozialdemokratie, hätten Karl Kraus’ ungeteilte Zustimmung gefunden, ebenso ihr Engagement für den Arbeiteraktionismus, vor allem aber ihr unerbittlicher Antinationalismus und Pazifismus, der ihren Bruch mit der SPD besiegelte.
Das Erlebnis des Weltkriegs synchronisierte letztlich beider Auffassung und Sprachgewalt. Folgende Worte der Revolutionärin hätten ebenso von Kraus stammen können: „Geschändet, entehrt, im Blute watend, vor Schmutz triefend – so steht die bürgerliche Gesellschaft da, so ist sie. Nicht wenn sie, geleckt und sittsam, Kultur, Philosophie und Ethik, Ordnung, Frieden und Rechtsstaat mimt – als reißende Bestie, als Hexensabbat der Anarchie, als Pesthauch für Kultur und Menschheit, so zeigt sie sich in ihrer wahren, nackten Gestalt.“ Nach Kriegsende gründete Rosa Luxemburg gemeinsam mit Karl Liebknecht in Berlin den Spartakusbund, den Vorläufer der KPD. Jänner 1919 wurde sie von rechten Milizen gelyncht.

Brief einer Unsentimentalen


Ein Jahr nach ihrer Ermordung entdeckt Kraus in der „Arbeiter-Zeitung“ einen Brief, den R. Luxemburg aus dem Gefängnis an Sonja Liebknecht geschrieben hat. Sofort druckt er ihn in der „Fackel“ ab mit den Geleitworten: „Schmach und Schande jeder Republik, die dieses im deutschen Sprachgebrauch einzigartige Dokument von Menschlichkeit und Dichtung nicht (…) zwischen Goethe und Claudius in ihre Schulbücher aufnimmt und nicht zum Grausen vor der Menschheit dieser Zeit der ihr entwachsenden Jugend mitteilt, dass der Leib, der solch eine hohe Seele umschlossen hat, von Gewehrkolben erschlagen wurde.“ Und nahm diesen als einen der wenigen zeitgenössischen Texte – zwischen Goethe und Claudius – in sein Lesetheater auf. In ihrem Brief beschreibt sie ein Erlebnis im Gefängnishof, wie ein zum „Kriegsdienst“ requirierter Büffel von einem Soldaten mit einem Stock malträtiert wird. Der Text ist neben seiner hohen dichterischen Qualität weit mehr als ein rührendes Dokument „weiblichen“ Mitgefühls mit dem erniedrigten „Tierbruder“, es enthüllt in lyrischem Ton die Ideologie von Naturunterdrückung, der Knechtung menschlicher wie nichtmenschlicher Natur. „Mit bösem Lächeln“ antwortet der Soldat der Aufseherin, die ihn zur Rede stellt: „Mit uns Menschen hat auch niemand Mitleid.“ – Eine Fackel-Abonnentin, eine Innsbrucker Aristokratin, reagiert auf diesen Text mit ihrem anonymen „Brief einer Unsentimentalen“, in der sie ihre Verachtung gegenüber der „Volksaufwieglerin“, die besser „Wärterin in einem zoologischen Garten“ hätte werden sollen – „dann hätte sie gewiss keine Bekanntschaft mit Gewehrkolben gemacht“ – mit ihrem Spott über Luxemburgs Sorge um ein stumpfsinniges Nutztier verknüpft. Als ehemalige Gutsbesitzerin in Südungarn wüsste sie, dass die Viecher keine andere Sprache verstünden als Schläge …
Der Ekel, den dieser sich ihm anbiedernde Brief in Kraus hervorruft, eruptiert in einem dermaßen wuchtigen Einklang von Wut, stilistischer Brillanz und Gedankendichte, der „stärksten bürgerlichen Nachkriegsprosa“, als welche Walter Benjamin sie erkannte, dass Einzelzitate daraus eine Beleidigung der Gesamtkomposition darstellten. Es ist so, als würde Kraus dem Soldaten den Stock aus der Hand reißen und sowohl den Stier als auch die Revolutionärin an dieser „Megäre“, dieser „Bestie“, wie er sie nennt, und mit ihr an ihresgleichen und ihresgleichen Gesinnung rächen, und jeder Stockhieb lässt statt Blut Erkenntnis spritzen. Mit der dialektischen Progression des Gefängnisbriefs, dem der „Unsentimentalen“ und des Satirikers Antwort darauf, nehmen Luxemburg und Kraus – sie positiv, er negativ – die Verschränkung von Unmenschlichkeit und pragmatischer Rationalität in die Zange, und geben Lehrbeispiele für den Gleichklang von Ethos, Stil und Denken, die eigentlichen Protagonisten dieser Liebesgeschichte. Kraus’ Antwort auf die Unsentimentale markiert den endgültigen Bruch mit den Illusionen der Vorkriegszeit, zugleich seinen letzten großen Reifesprung. Und es war zweifellos Rosa Luxemburg, die ihm dazu verhalf.
Die lehrreichste und bezauberndste Analogie zwischen den beiden aber ist die Selbstverständlichkeit, mit dem in ihrer Wesen und Denken Natur mit Vernunft versöhnt ist. Das ästhetische Naturerlebnis war für sie, deren Negativität sich Utopismus verbat, der lebenslange Geheimpfad zurück in die Unbeschwertheit der Kindestage. Karl Kraus’ Erinnerungen werden wiederholt von Schmetterlingen umflattert. „Als ich zehn Jahre alt war, verkehrte ich auf den Wiesen von Weidlingau ausschließlich mit Admiralen. Ich kann sagen, dass es der stolzeste Umgang meines Lebens war. Auch Trauermantel, Tapfauenauge und Zitronenfalter machten einem das junge Leben farbig.“ Und traurig, doch zielsicher resümiert er: „Mit Fliegenprackern schlägt die Menschheit nach den Schmetterlingen. Wischt sich den farbigen Staub von den Fingern. Denn sie müssen rein sein, um Druckerschwärze anzurühren.“ Was die Schmetterlinge Karl Kraus bedeuteten, das waren für Rosa Luxemburg die Singvögel.
In einem Brief an eine Freundin verordnete sie: „Auf meiner Grabtafel dürfen nur zwei Silben stehen. Zwi-zwi. Das ist nämlich der Ruf der Kohlmeisen, die ich so gut nachmache, dass sie sofort herlaufen.“

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Karl Kraus antwortet der  unsensiblen Gräfin unter anderem mit dem überzeugendsten Argument für eine starke linke Kraft, das je in solcher Prägnanz formuliert wurde, zur Mahnung an alle saturierten Konservativwähler, Sesselsitzer und Finanzjongleure :

Was ich meine, ist — und da will ich einmal mit dieser entmenschten Brut von Guts- und Blutsbesitzern und deren Anhang, da will ich mit ihnen, weil sie ja nicht deutsch verstehen und aus meinen »Widersprüchen« auf meine wahre Ansicht nicht schließen können, einmal deutsch reden, nämlich weil ich den Weltkrieg für eine unmissdeutbare Tatsache halte und die Zeit, die das Menschenleben auf einen Dreckhaufen reduziert hat, für eine unerbittliche Scheidewand — was ich meine, ist: Der Kommunismus als Realität ist nur das Widerspiel ihrer eigenen lebensschänderischen Ideologie, immerhin von Gnaden eines reineren ideellen Ursprungs, ein vertracktes Gegenmittel zum reineren ideellen Zweck — der Teufel hole seine Praxis, aber Gott erhalte ihn uns als konstante Drohung über den Häuptern jener, so da Güter besitzen und alle andern zu deren Bewahrung und mit dem Trost, dass das Leben der Güter höchstes nicht sei, an die Fronten des Hungers und der vaterländischen Ehre treiben möchten. Gott erhalte ihn uns, damit dieses Gesindel, das schon nicht mehr ein und aus weiß vor Frechheit, nicht   noch   frecher  werde,      d a m i t         d i e        G e s e l l s c h a f t     d e r     a  u  s  s  c  h l i e ß l i c h       G e n u s s –        b e r e c h t i g t e n ,  d i e    d a    g l a u b t ,   d a s s    d i e    i h r    b o t –  m ä ß i g e   M e n s c h h e i t   g e n u g    d e r   L i e b e    h a b e ,            w e n n   s i e   v o n    i h n e n     d i e   S y p h i l i s   b e k o m m t ,           w e n i g s t e n s   d o c h  a u c h   m i t    e i n e m    A l p d r u c k             z u   B e t t e   g e h e !     D a m i t    i h n e n   w e n i g s t e n s   d i e          L u s t    v e r g e h e ,  i h r e n    O p f e r n   M o r a l   z u   p r e d i g e n,   u n d   d e r    H u m o r ,   ü b e r   s i e   W i t z e   z u   m a c h e n !

 

Siehe auch unter :  Rosa Luxemburg

 

 

 



Karl Kraus und der Sozialismus II: Zu Unbotmäßigkeit und Adel verpflichtet … . Von Richard Schuberth

29. Mai 2013 | Kategorie: Artikel

Richard Alexander Schuberth ist Schriftsteller – unter anderem –  und lebt in Wien. Die Lektüre seiner Schriften sei dem empfohlen, der den Kopf nicht nur als Huthalter oder Frisierobjekt missbraucht. Der  Text, dem weitere folgen werden, wird hier mit seiner ausdrücklichen Genehmigung abgedruckt. Er entstammt dem Buch

Richard Schuberth                                                                                      30 Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus

238 S. , EUR 24,-
Broschur mit Fadenheftung
ISBN 978-3-85132-531-7, 2008

Karl Kraus und der Sozialismus II: Zu Unbotmäßigkeit und Adel verpflichtet …

Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus, Teil 20

„Sie sagen: Wer nicht arbeit’t, der soll auch nicht essen – und wissen gar nicht, wen Sie allen mit diesem Ausspruch zum Hungertod verurteilen.“

Johann Nepomuk Nestroy

„Die Demokratie teilt die Menschen in Arbeiter und Faulenzer. Für solche, die keine Zeit zur Arbeit haben, ist sie nicht eingerichtet.“

Karl Kraus

„Mitgefühl und Liebe zu Leidenden ist bequemer als die Liebe zum Denken. Daher machen sie sich mit bewundernswertem, obschon falsch gerichteten Eifer sehr ernsthaft und gefühlvoll an die Arbeit, die Übel, die sie sehen, zu kurieren. Aber ihre Mittel heilen diese Krankheit nicht; sie verlängern sie nur. Ihre Heilmittel sind geradezu ein Stück der Krankheit.“

Oscar Wilde

1924 schickte sich der sozialdemokratische Parteipublizist Oskar Pollak mit dem Artikel „Ein Künstler und Kämpfer“ an, der großen linken Anhängerschaft von Karl Kraus die Augen für dessen wahren ideologischen Standort zu öffnen. Sein Hauptvorwurf zielte auf Kraus’ vermeintlich konservative Kapitalismuskritik. Er verwerfe „den Liberalismus als den Zerstörer einer vergangenen, aus der beschaulichen Primitivität der feudalen Ausbeutung erwachsenden Einzelkultur, anstatt ihn als die Halbheit künftiger allgemeiner Höhe ungenügend zu finden.“ Pollak billigt Kraus’ moralische Gesellschaftskritik bloß als probate Durchgangsphase zu einem theoretisch fundierten sozialistischen Bewusstsein, denn die „Schlacht, die jetzt kommt, wird nicht mehr um die Vorstellungen der bürgerlichen Geistigkeit, sondern um die Hauptstellungen der kapitalistischen Wirtschaftsmacht geschlagen. Dieser Kampf gegen das Kapital findet Karl Kraus nicht mehr an der Front.“ – Die folgenden zehn Jahre sollte Kraus dieser Sozialdemokratie auf Schritt und Tritt nachweisen, dass sie es sei, welche die Front habe zusammenbrechen lassen, und dass die Schlacht um die „Vorstellungen der bürgerlichen Geistigkeit“ nicht abgeblasen wurde, um besser gegen’s Kapital zu kämpfen, sondern um die Operettenränge eben dieser „Geistigkeit“ zu usurpieren.
Aus marxistischer Perspektive mag vieles an Kraus’ Kritik tatsächlich wie eine bürgerliche Vorstufe der sozialistischen Gesellschaftskritik wirken, doch – und hier die These des Artikels – gibt Kraus so viel her und passt so schlecht in nur irgendeine Konservatismus-Schablone, dass er ebenso zu einer Weiterentwicklung jener Kritik taugt, und diese ehrenvolle Rolle gilt es herauszustreichen.
Es mag stimmen, dass er der „great civilizing influence of capitalism“ (Marx) mit Skepsis begegnet, doch nicht um sich zivilisierenden Einflüssen allgemein zu versagen. Denn keinesfalls ist Kraus ein Apologet einer vorkapitalistischen Gesellschaft, seine Ansichten über Architektur, Technik und soziale Ungleichheit weisen ihn als pessimistischen Modernisten aus; er flieht nicht vor der Stadt aufs Land, sondern vor den Wienern, und dankt es der Erfindung des Automobils; er verherrlicht nicht die Vergangenheit, sondern fahndet in ihr nach den Momenten, als sie noch eine Zukunft hatte. Sein Faible für Aristokratie gilt auch vor dem Weltkrieg weniger einer Klasse und ihren Angehörigen als dem normativen Habitus von Ritterlichkeit, Stil und stolzer Unbeugsamkeit, einem ideellen Adel, den er zeitlebens in allen Klassen, bei Proletariern wie bei Revolutionären suchen, finden und ehren wird.
Selbst sein Antiparlamentarismus der Vorkriegszeit lässt sich weniger mit nietzscheanischem Elitarismus oder der Loyalität zum K.u.k.-Absolutismus erklären als mit seiner Verachtung gegen die liberalen Repräsentanten des Reichsrats. Zur Erreichung sozialer Ziele sympathisiert er wiederholt mit außerparlamentarischem Aktionismus, mit Streik und syndikalistischen Tendenzen, sein Anarchismus ist also weit entfernt von jenem bürgerlich-romantischen, der die spätmittelalterliche Handwerkerkommune zum gesellschaftlichen Maß nimmt. Allerdings hört sich’s mit seinem Anarchismus bei der Kritik des Staates auf, dessen Rolle als Bändiger der Kartelle, Trusts und Monopole ihm unerlässlich scheint: „Und so bekenne ich, dass ich den Standpunkt des Staatsfreundes, der von der Gesetzgebung immer wieder das verlangt, was der manchesterliche Schwindelgeist höhnisch ‚Bevormundung’ nennt, ausschließlich dann beziehe, wenn ich das Geltungsgebiet ökonomischer Werte betrachte.“
Karl Kraus sucht weder außerhalb noch vor noch nach der bürgerlichen Welt das soziale Ideal, doch scheint ihm nicht nur als polemische Volte jede Gesellschaft besser, deren Vorstellungskraft und Denkpotenzial noch nicht von Markt, Wissenschaft und Presse formatiert ist – anhand vieler Beispiele belegt er etwa die Überlegenheit des geistigen Bewusstseins im Vormärz, als Journalismus noch eher in schnörkelloser Berichterstattung denn in feuilletonistischer Meinungsbildung bestanden haben soll.
Kraus ist sich des zivilisatorischen Fortschritts der liberalen Epoche wohl bewusst. Wann immer diese aber ihre Überlegenheit anhand ihrer ökonomischen Verfasstheit behauptet, ein Fortschritt, in dem er bloß ein Fortschreiten der Barbarei erblickt, weiß er, wo er zu stehen hat. Als zum Beispiel der Polarforscher und Friedensnobelpreisträger Fridtjof Jansen begann, seine Schilderung der Eskimositten und die daraus abgeleitete Zivilisationskritik auf ein sozialpolitisches Fundament zu stellen, erntete er von vielen Seiten Spott und Empörung. Kein Wunder, hatte er doch geschrieben: „… fast kommunistisch sind ihre Leitmotive. Ihre Regel heißt: ‚Ich habe heute einen schlechten Fang getan, gib mir von deinen Fischen; morgen, wenn es dir schlecht geht, will ich aushelfen.’“ Den Spöttern spottete Kraus in einer Glosse: „Was diese Europäer anlangt, so haben sie allerdings mehr Kunst und leben nicht sich selbst, sondern vom Nebenmenschen. Ihre Regel heißt: ‚Ich habe heute einen guten Fang getan, indem ich mir von deinen Fischen nahm; morgen, wenn es dir schlecht geht, will ich mir aushelfen.’“

Wohltätigkeit und Weltanschauung

Kraus gab von seinen Fischen gerne ab. Durch Erbschaft zeitlebens vom Überlebenskampf entlastet, ließ er seine Einkünfte aus Lesungen stets karitativen Zwecken zukommen, konterkarierte diese Praxis aber mit Aphorismen wie: „Man sollte die Wohltätigkeit aus Weltanschauung bekämpfen, nicht aus Geiz.“ Die christlich-soziale Ethik fundiert die Barmherzigkeit auf individueller, die Sozialdemokratie auf nationaler, die Antiglobalisierungsbewegung fundiert sie auf internationaler Basis – was den Kapitalismus abmildern mag, aber in seiner Totalität nicht in Frage stellt. Kraus wusste, dass Mitgefühl strukturelle Kritik nicht ersetzen könne, aber gleichfalls wusste er, dass es sich mit einer solchen Kritik leicht vorm Mitgefühl drücken ließ. Sein Zweifel an der Wohltätigkeit ist nicht von Marx inspiriert, sondern vom Dandy und „Lilienpoeten“ Oscar Wilde, dessen kaum beachteten Essay „Der Sozialismus und die Seele des Menschen“ er 1904 in der „Fackel“ als „das Tiefste, Adeligste und Schönste, das der vom Philistersinn gemordete Genius geschaffen“ habe, als „das wahre Evangelium modernen Denkens“ bezeichnete. Wiewohl man Wilde solch ein Werk nicht zugetraut hat, enthält es viele Stellen, welche den antiliberalistischen Sternsingern dringlicher denn je ins Poesiealbum geschrieben gehören – wie die folgende: „…aber die besten unter den Armen sind niemals dankbar. Sie sind undankbar, unzufrieden, unbotmäßig und aufsässig. Sie haben ganz Recht, so zu sein. Sie fühlen, dass die Wohltätigkeit eine lächerlich ungenügende Art der Rückerstattung ist oder eine gefühlvolle Spende, die gewöhnlich von einem unverschämten Versuch seitens der Gefühlvollen begleitet ist, in ihr Privatleben einzugreifen. (…) Unbotmäßigkeit ist für jeden, der die Geschichte kennt, die recht eigentliche Tugend des Menschen. Durch die Unbotmäßigkeit ist der Fortschritt gekommen, durch Unbotmäßigkeit und Aufsässigkeit.“

Gott erhalte uns den Kommunismus!

Es gibt viele Verbindungen zwischen Kraus’ Gedankenwelt und der des Linksradikalismus, gerade dort aber sind sie nicht zu finden, wohin linke Kraus-Verwehrer gerne verweisen, zu seiner Sympathie für Einzelmenschen, für Luxemburg, Liebknecht Vater und Sohn, Brecht, zu Mühlen oder Dimitrov, die er nicht wegen ihres Kommunismus verehrt, sondern wegen jenes Surplus, den ihre Persönlichkeiten auf ihre Doktrinen draufschlagen – Doktrinen, mit denen sich Brecht zum Beispiel – in Kraus’ Worten – „als eigener Vampir das Blut abzapfe“. Dass der Musikwissenschaftler Georg Knepler, der Kraus vier Jahre lang bei seinen Offenbach-Rezitationen am Klavier begleitet hat, Marxist war, beweist auch nicht viel. Der bulgarische Kommunist Georgi Dimitrov wird von Kraus als der „wertvollste Vertreter der eigenen Sache“ geachtet, nicht jedoch der Sache wegen, sondern aufgrund seiner heroischen Beweislastumkehr gegen die Nazis als Angeklagter beim Reichstagsbrandsprozess 1933. Und die kommunistische Schriftstellerin Hermynia zu Mühlen, weil sie „ihren Adel verloren, aber nicht eingebüßt und auch nichts davon an die Gesellschaft abgegeben hat, die sie genössisch umgibt“. Wenn er Rosa Luxemburg in seiner „Antwort auf die Unsentimentale“ aber als „Bändigerin von Menschenbestien“ und „Gäterin menschlichen Unkrauts“ ehrt, erweitert das seine Sympathie für den „Adel“ ihrer Person bereits auf ihre politische Funktion und erhellt sein zwiespältiges Verhältnis zum Kommunismus.
Kraus’ Ablehnung der revolutionären Bestrebungen nach dem I. Weltkrieg speist sich aus dem Vorurteil, bei den Revolutionären handele es sich durchwegs um zweitklassige Journalisten und Dichter, die ihre Chance witterten, nicht mehr in den Cafés, sondern in Arbeiter- und Soldatenräten zu posieren. Nur zu gern glaubte er jede Propaganda der bürgerlichen Presse über deren Gewaltbereitschaft.
Die Fortsetzung jenes Ungeistes, den er schon an der bürgerlichen Gesellschaft verabscheut hatte, erblickte er in der technokratischen Verzahnung von Verwissenschaftlichung, Verwaltung und Zurichtung des Menschen, mit dem die vulgärmarxistische Praxis ihre idealistischen Ziele umzusetzen trachtete. Diese Praxis dürfte kaum dem entsprochen haben, was Kraus mit der Befreiung des „Lebenszwecks“ vom „Lebensmittel“ gemeint hatte. Am widerlichsten war ihm aber der marxistische Fachjargon, mit dessen Verspottung als „Moskauderwelsch“ er den Konservativen einen ihrer Lieblingskalauer in die Hände spielte.
Jedoch in zweierlei Hinsicht – einer ethischen und einer pragmatischen – verneigt sich Kraus vor dem Linksradikalismus. So gilt seine Hochachtung dem aufrichtigen Idealismus vieler seiner Aktivisten, besonders wenn sie als Bürgerliche ihr eigenes Klasseninteresse opfern, also aus Tugend, nicht aus Not Linke werden. „Ein Hungerleider, der Anarchist wird“, schreibt er, „ist ein verdächtiger Werber für die Sache. Denn wenn er zu essen bekommt, wird er eine Ordnungsstütze. Oft sogar ein Sozialdemokrat. Nichts ist dagegen sinnloser, als sich über die Söhne besitzender Bürger lustig zu machen, die anarchistischen Ideen anhängen. Sie können immerhin Überzeugungen haben. Jedenfalls verdächtigt kein abgerissenes Gewand die geistige Echtheit ihrer kommunistischen Neigungen.“ – „Die geistige Welt des Kommunismus“, konzediert Kraus diesen Eiferern, ob mit oder ohne abgerissenem Gewand, „– in einem kürzeren Moratorium, vor dessen Ablauf das Machtmittel den Zweck verzehren könnte – sie organisiert sich doch aus dem Gedanken jener letzten Hoffnung, die die Verzweiflung bildet, und der Mut seiner Bekenner, der volle Einsatz auf einer Barrikade, die die Sozialdemokratie vor der Stirn hat, verbindet ihn wie mit dem Tod auch mit dem Leben.“
So bleibt der Kommunismus die angsteinflößendere und effizientere Rute im Fenster: „Der Kommunismus als Realität ist nur das Widerspiel ihrer eigenen lebensschänderischen Ideologie, immerhin von Gnaden eines reineren ideellen Ursprungs, ein vertracktes Gegenmittel zum reineren ideellen Zweck – der Teufel hole seine Praxis, aber Gott erhalte ihn uns als konstante Drohung über den Häuptern jener, so da Güter besitzen und alle anderen zu deren Bewahrung und mit dem Trost, dass das Leben der Güter höchstes nicht sei, an die Fronten des Hungers und der vaterländischen Ehre treiben möchten. Gott erhalte ihn uns, damit dieses Gesindel, das schon nicht mehr ein und aus weiß vor Frechheit, nicht noch frecher werde, damit die Gesellschaft der ausschließlich Genussberechtigten, die da glaubt, dass die ihr botmäßige Menschheit genug der Liebe habe, wenn sie von ihnen die Syphilis bekommt, wenigstens doch auch mit einem Alpdruck zu Bett gehe! Damit ihnen wenigstens die Lust vergehe, ihren Opfern Moral zu predigen, und der Humor, über sie Witze zu machen.“
Und Karl Kraus bleibe einer Linken als geistiger Stachel erhalten, damit sie Wohltätigkeit aus Weltanschauung bekämpfe, Weltanschauung aus kritischer Vernunft und diese, falls zum Selbstzweck sie gefriert, aus Menschlichkeit. Damit aus seiner Haltung sie die Lehre ziehe, dass Repression man nicht mit Regression beikommt, die Underdogs nicht aufrichtet, indem man sich ihnen auf allen Vieren nähert und im Schritt beschnüffelt; dass sich der Erniedrigung des Menschen zur Massenware nicht mit fertig verpackter Diskont-Sprache widerstreben lässt, weder mit Moskauderwelsch noch mit Post-Französeln noch mit knalligem Untergrundeln; dass – und jetzt das dicke Ende – Adel nicht erbens-, doch erwerbenswert ist.