Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

Notizen zur Zeit . Hervorragende Verdienste. Von W.K. Nordenham

24. Juni 2012 | Kategorie: Artikel, Journalisten, Notizen zur Zeit

Süddeutsche Zeitung 05.05.2012

Medienpreis für Sprachkultur

Marietta Slomka und Stefan Niggemeier ausgezeichnet

ZDF-Moderatorin Slomka und Medienjournalist Niggemeier sind für ihre „hervorragenden Verdienste um die Sprache und Sprechkultur“ ausgezeichnet worden. In Wiesbaden hat die Gesellschaft für deutsche Sprache ihnen die Auszeichnung übergeben. Auch eine Nachwuchsjournalistin wurde geehrt.

ZDF-Moderatorin Marietta Slomka und Medienjournalist Stedan Niggemeier. haben den diesjährigen Medienpreis für Sprachkultur erhalten. Beide werden damit für ihre „hervorragenden Verdienste um die Sprache und Sprechkultur“ ausgezeichnet, sagte der Vorsitzende der Gesellschaft für deutsche Sprachkultur, Armin Burkhardt, zur Begründung bei der Verleihung am Samstag in Wiesbaden.

Beinahe hätte ich vergessen dieses Ereignis dem geneigten Publikum mitzuteilen. So ist das mit den Preisen. Irgenjemand muss sie bekommen. Niggemeyer mag eine gewisse Berechtigung zugestanden sein, aber wie kommt die Gesellschaft für deutsche Sprachkultur –  ich lese da immer Sprachklistier – auf  „hervorragende Verdienste“ von Marietta Slomka?  Es kann sich eigentlich nur um den Verdienst für eine journalistische Sprachkultur handeln, die zwischen der und das Verdienst im Allgemeinen sowieso keinen Unterschied mehr kennen muss und jenen deshalb nicht macht.  Der Rheinländer hat die Antwort: „Mer weiß et nit!“


Zu Karl Kraus – Von Reiseschriftstellern, Bildungs- und Wissenschaftlhubern. Von Richard Schuberth

24. Juni 2012 | Kategorie: Artikel, Journalisten, Richard Schuberth

Zwei Formen der Verdummung: Keine Information und Information ohne Maß und Ziel. Für die zweite Möglichkeit sind die Medien zuständig, die täglich den Nachweis  ihrer Verdummungseffizienz führen.  W.K. Nordenham

Der folgende Artikel ist vor allem jenen ans Herz zu legen, die da glauben, ungezählte Fernsehprogramme mit ausufernder Information oder das Internet sorgten mit einem Mehr an Wissen für ein Mehr an Denkvermögen. Das Gegenteil ist für die überwiegende Mehrheit  als gegeben zu betrachten.

Richard Alexander Schuberth ist Schriftsteller – unter anderem –  und lebt in Wien. Die Lektüre seiner Schriften sei dem empfohlen, der den Kopf nicht nur als Huthalter oder Frisierobjekt missbraucht. Der  Text, dem weitere folgen werden, wird hier mit seiner ausdrücklichen Genehmigung abgedruckt. Er entstammt dem Buch

Richard Schuberth                                                                                      30 Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus

238 S. , EUR 24,-
Broschur mit Fadenheftung
ISBN 978-3-85132-531-7, 2008

Von Reiseschriftstellern, Bildungs- und Wissenschaftlhubern.

Gelehrsamkeit, die –

Staub, aus einem Buch in einen leeren Schädel geblasen.“

Ambrose Bierce

„Es hat jemand mit großem Grunde der Wahrheit behauptet, dass die Buchdruckerei Gelehrsamkeit zwar mehr ausbreitet, aber im Gehalt vermindert hätte. Das viele Lesen ist dem Denken schädlich. Die größten Denker (…) waren grade unter allen den Gelehrten, die ich habe kennen gelernt, die, die am wenigsten gelesen hatten.“

Georg Christoph Lichtenberg

„Jedes Ereignis, über das ich nichts lese, ist Ruhe, jedes Gebiet, das ich nicht betrete, Erholung. Je weniger ich weiß, desto besser errate ich.“

Karl Kraus

Zu den zeitlos wertvollen Anregungen des Kraus’schen Vermächtnisses zählt seine Respektlosigkeit gegen alles, was die bürgerliche Gesellschaft für Geist und Intellekt hält. Nicht nur bietet jene der Nachwelt ein weites, gut ausgeleuchtetes Tor in sein Denken, sondern die letzte Möglichkeit, gründlich zu revidieren, was sie für gescheit hält. Dies gelingt aber erst nach Revidierung des abgelutschten Vorurteils, solch Radikalität der Kritik an Wissenschaft, Bildung und Empirie sei Ausdruck seiner narzisstischen Originalitätssucht gewesen. Denn hat man einmal kapiert, welchen Spott Kraus auch dieser entgegenbringt, wird man verstehen, welch gründlicher ethischer Ernst seine Abneigung nährt.

Da es sich für Kraus nur in und nicht mit der Sprache denken lässt, stehen die Geistes- und Kulturwissenschaften auf der Liste der zu bestrafenden Sprachvergewaltiger ganz oben, nicht nur wegen ihrer Jargons, sondern auch aufgrund ihrer Entkoppelung von Form und Inhalt zugunsten größerer Objektivität. Der Einwand von Wissenschaftsseite her, es ginge zunächst um Faktizität und Schlüssigkeit der Theorie, Arbeit an der Form sei eine Stilfrage, ästhetische Fleißaufgabe, ließe Kraus niemals gelten. Wer an der Form nicht hart arbeitet, bleibt auch der Wahrheit fern und setzt bloß die nach den wissenschaftlichen Moden wechselnden Analysebausteine immer wieder neu zusammen. An der positivistischen Vereinheitlichung der Sprache zu methodischen Instrumenten lässt sich das Verhältnis allgemein des Forschergeistes zum Erforschten ablesen, nämlich nicht das des Verstehens, sondern des Beherrschens. Jene „hoffnungslose Intelligenz, die alles Geistige nach seinem Wert fürs Fortkommen abschätzt“, kann sich nur per Obduktion vom Innenleben einer lebendigen Wirklichkeit Begriffe machen. Dabei hält Kraus stets an der kritischen Rationalität fest und verordnet selbst der Kunst, dass ihr die „Logik einmal geschmeckt haben“ müsse. Auch wissenschaftliche Systematik, so ließe sich seine Allegorik frei variieren, schadet nicht, zumindest zur Disziplinierung sich naturgemäß überschätzender adoleszenter Individualität. Nur sollte man rechtzeitig aus dem Wissenschafts-Internat türmen, ehe einem nicht nur die Adoleszenz, sondern auch gleich die Individualität ausgetrieben wird, man sich für die Fähigkeit, auch ohne akademische Gehhilfen voranzukommen, zu genieren beginnt.

Die wissenschaftliche Initiation erfolgt stets nach demselben biographischen Muster. Vor der Universität reagiert man auf alles Denken, das die Frechheit besitzt, von einem nicht verstanden zu werden, mit Minderwertigkeitsgefühlen, Ablehnung und schließlich Anpassung. In diesem frühen Stadium sind akademische Geheimsprache und wahrer Tiefsinn noch nicht voneinander zu unterscheiden, doch man wird sich später immer mit Ersterer gegen Letzteren verbünden. Der Hausverstand kann sich mit dem Campusverstand stets besser arrangieren als mit dem Geist, und je obskurer der Fachjargon, desto besser lässt sich mit ihm bluffen, und die, welche durch dessen Beherrschung dem Magister- bzw. Doktorvater gefallen wollen, werden jenen, die allein Form und Sache verpflichtet sind, immer Selbstgefälligkeit vorwerfen.

Kraus propagiert Kunst mit einem Erkenntnisinteresse, das wissenschaftlicher Exaktheit nicht fern ist. Nur vor dem Hintergrund seiner nahezu religiösen Verehrung sprachlichen Denkens, das kritische Rationalität mit schöpferischer Phantasie versöhnt, ist seine herablassende Haltung gegenüber den „Wissenschaftlhubern“ verständlich. Diese lässt er zumindest als Zuträger von Fakten gelten. „Die Wissenschaft könnte sich nützlich machen. Der Schriftsteller braucht jedes ihrer Fächer, um daraus den Rohstoff seiner Bilder zu beziehen, und oft fehlt ihm ein Terminus, den er ahnt, aber nicht weiß. Nachschlagen ist umständlich, langweilig und lässt einen zu viel erfahren. Da müssten denn, wenn einer beim Schreiben ist, in den andern Zimmern der Wohnung solche Kerle sitzen, die auf ein Signal herbeieilen, wenn jener sie etwas fragen will. Man läutet einmal nach dem Historiker, zweimal nach dem Nationalökonomen, dreimal nach dem Hausknecht, der Medizin studiert hat, und etwa noch nach dem Talmudschüler, der auch das philosophische Rotwälsch beherrscht. Doch dürften sie alle nicht mehr sprechen als wonach sie gefragt werden, und hätten sich nach der Antwort sogleich wieder zu entfernen, weil ihre Nähe über die Leistung hinaus nicht anregt. Natürlich könnte man auf solche Hilfen überhaupt verzichten, und ein künstlerischer Vergleich behielte seinen Wert, auch wenn in seiner Bildung die Lücke der Bildung offen bliebe und einem Fachmann zu nachträglicher Rekrimination Anlass gäbe. Aber es wäre eine Möglichkeit, die Fachmänner des Verdrusses zu überheben und sie schon vorher einer ebenso nützlichen wie bravourösen Beschäftigung zuzuführen.“

Von denen, die leibhaftig dort waren

Die Entbehrungen und Gewinne des sprachlichen Denkens ersetzen tausende Weltreisen und Feldstudien. Nicht dass Karl Kraus die unmittelbare Erfahrung gering schätzen würde, den Beweis ihrer Intensität kann der Autor ja im adäquaten Ausdruck nachliefern. Der Bluff beginnt erst dort, wo sich der Künstler mittels interessanter Themen vor dem eigentlichen Tagwerk und somit der eigentlichen Erfahrung, der Komposition, drückt. „Den Autoren wird jetzt geraten, Erlebnisse zu haben. Es dürfte ihnen nicht helfen. Denn wenn sie erleben müssen, um schaffen zu können, so schaffen sie nicht. Und wenn sie nicht schaffen müssen, um erleben zu können, so erleben sie nicht.“

Der nach wie vor grassierenden Vergötzung des welterfahrenen Reiseschriftstellers hätte Kraus einiges entgegenzusetzen. Wer von seinem Schreibtisch aus die Galaxien der Sprache durchmessen hat, dem sind die fünf Erdteile nur noch Provinzen, und eine Wellnessreise wäre die Durchquerung der Atacamawüste gegen die Höllen und Erlösungen der sprachlichen Gestaltung. Karl Kraus reiste gerne, aber nur um sich von den wahren Abenteuern, die in seinem Schreibzimmer stattfanden, zu erholen, und entgegen der Unterstellung der Askese suchte er im Geschlechtsakt Entspannung von den Ausschweifungen des künstlerischen Schöpfungsaktes. Doch dem Spießer ist schon jeder Teufelskerl und somit irgendwie Künstler, der mehr schnackselt als er selbst, in Kneipen verkehrt, in die er sich nie traut, und mit exotischen Spießern per du ist. Das intellektuelle Spießerbedürfnis nach Authentizität bedient der Kulturmarkt en masse mit literarischen Bosnientagebüchern, Donaureiseimpressionen und „Ich war ganz alleine dort“-Reportagen. „Nach wie vor ist es das fremde Milieu, was sie für Kunst halten“, erkennt Kraus. „In den Dschungeln hat man viel Talent, und das Talent beginnt im Osten etwa bei Bukarest. Der Autor, der fremde Kostüme ausklopft, kommt dem stofflichen Interesse von der denkbar bequemsten Seite bei. Der geistige Leser hat deshalb das denkbar stärkste Misstrauen gegen jene Erzähler, die sich in exotischen Milieus herumtreiben. Der günstigste Fall ist noch, dass sie nicht dort waren; aber die meisten sind leider doch so geartet, dass sie wirklich eine Reise tun müssen.“

Dass geistiger Provinzialismus durch physische Standortveränderung zwingend überwunden würde, ist leider nicht wahr. Vielmehr neigt er dazu, sich mit exotischen Provinzialismen zu verbiedern. Niemand ist dadurch interessanter, dass er viel herumgekommen ist. Es muss in ihm viel herumgekommen sein. Mit seinem Interesse an der Fremde hebt sich der aufgeklärte Spießer vom xenophoben Spießer ab, doch beide bekunden sie, wie fremd ihnen die Welt ist. Denn zwischen dem Großgöpfritzer, der den anderen Großgöpfritzer darum beneidet, in den Salons von Zwettl ein- und auszugehen, und der Bewunderung des Hietzingers für den Balkanexperten und der des Belgraders für den Schulfreund, der sich in den Hindukusch, nach Hietzing oder gar Großgöpfritz wagte, bestehen nur graduelle Unterschiede. Wer die Welt nicht konsumierend, sondern geistig, das heißt schöpferisch – und das heißt immer sprachschöpferisch – durchdrungen hat, dem ist irgendwann nichts mehr fremd außer der befremdliche Missstand geistiger und materieller Not. Nicht die Welt, wie sie woanders ist, sondern wie sie überall sein könnte, reizt den Denker, bei dem Scharfsinn und Ethik gemeinsam auf Reisen gehen. „Die Realität nicht suchen und nicht fliehen, sondern erschaffen und im Zerstören erst recht erschaffen: wie sollte man damit Gehirne beglücken, durch deren Windungen zweimal am Tag der Mist der Welt gekehrt wird.“

Von denen, die viel lesen und viel wissen

Dem Alltagsverstand ist die sprachliche Form bekanntlich nur Ausschmückung des Inhalts, für Kraus verhält es sich genau umgekehrt, und seine Argumente sind schwer von der Hand zu weisen. Nur lächerlich findet er Menschen, die durch Anhäufung von Faktenwissen Intellektualität reklamieren und das auch noch als literarischen Wert behaupten. Dumm sind niemals die Ungebildeten, sondern die, die so was für gescheit halten. „Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen?“, spottet er dem Vielleser und Vielwisser indirekt, für den er auch direktere Aphorismen im Ärmel hat. „Die Bildung hängt an seinem Leib wie ein Kleid an einer Modellpuppe. Bestenfalls sind solche Gelehrte Probiermamsellen der Fortschrittsmode“ und „Der Vielwisser ist oft müde von dem vielen, was er wieder nicht zu denken hatte“ und „Vielwisser dürften in dem Glauben leben, dass es bei der Tischlerarbeit auf die Gewinnung von Hobelspänen ankommt.“

„Ein Bildungskünstler presst die Leckerbissen von zehn Welten in eine Wurst.“ Doch räumt Kraus der Bildung durchaus ihren Wert ein, so sich diese nicht als Eigenwert vor Gedanke und Empfindung drängt und der durch Wissen breitere Horizont nicht nur ausgewalzte Oberfläche ist: „Nun muss gesagt sein, dass diese Art, das Leben zu umschreiben oder um das Leben herumzuschreiben, immerhin einer Anschauung dienen könnte. Diese Umständlichkeit wäre Verkürzung oder die Verkürzung wäre sinnvoll, wenn die für die Dinge gesetzten Chiffren zugleich den Inhalt brächten, der von den Dingen ausgesagt werden soll, oder die Beziehung, in welche die Dinge gestellt werden sollen.“

Als Präzendenzfall, als Mutter aller Bildungshuberei führt Kraus in der „Fackel“ über Jahre hinweg den Berliner Starpublizisten Maximilian Harden vor, dessen gestelzter Bildungsbürgerjargon um 1900 Schule zu machen beginnt. „Man muss nachdenken; das ist eine harte Forderung, meist unerfüllbar. Aber die Forderung, die der Berliner Bildungsornamentiker stellt, ist bloß lächerlich: Man muss Spezialist in allen Fächern sein oder zum Verständnis eines Satzes zehn Bände eines Konversationslexikons wälzen. Der eine schlägt auf den Fels der nüchternsten Prosa, und Gedanken brechen hervor. Der andere schwelgt im Ziergarten seiner Lesefrüchte und in der üppigen Vegetation seiner Tropen. Hätte ich mein Leben damit verbracht, mir die Bildung anzueignen, die jener zu haben vorgibt, ich wüsste vor lauter Hilfsquellen nicht, wie ich mir helfen soll. Ein Kopf, ein Schreibzeug und ein Fremdwörterbuch — wer mehr braucht, hat den Kopf nicht nötig!“

Doch die Ungebildeten ließen sich durch Kraus nicht trösten – Faktenkenntnisse lassen sich aus der Illustrierten ausschneiden wie Gutscheine, denken muss man selbst. Doch Denken dotiert auf dem Markt nicht hoch. Denn schon in der Schule wurde einem eingebläut, dass Wissen Macht bedeute. So sinnlos eine Bildung, die nicht an ein Erkenntnisinteresse, zumindest eine emotionelle Erfahrung geknüpft ist, auch sein mag, die Gesellschaft sanktioniert anders. Faktenbildung, die über den praktischen Nutzen im Berufsleben hinausreicht, bringt zumindest soziales Prestige. Und so sehr Kraus’ Aphorismus zutreffen mag, dass „Bildung (…) eine Krücke“ ist, „mit der der Lahme den Gesunden schlägt, um zu zeigen, dass er auch bei Kräften sei“, so könnte auch stimmen, dass dieser „Gesunde“ schon zum Krüppel deklariert wurde, bevor die Gebildeten ihn zu einem solchen schlagen konnten, vielmehr dass die Gesundheit, für die sie den wahren Denker beneiden, zugleich Krankheit ist, denn die Stärke, aus Liebe zu Denken und Wahrheit auf das zu verzichten, worum jene einzig konkurrieren, nämlich soziales Prestige und materiellen Besitz, muss von ihnen als Schwäche ausgelegt und folglich getögelt werden.

Ob im Kampf um die knappen Ressourcen das ziellose Anhäufen von Bildungsgütern nützt, bleibt allerdings fraglich. Immerhin bietet die Kulturindustrie zur allgemeinen Ergötzung diesen Lumpenintellektuellen die Chance, in der Manege der „Millionenshow“ mit der gleichzeitigen Kenntnis von Pophits, Philosophennamen und Motorersatzteilen nach einzelnen Happen zu schnappen.


Geld oder Leben? Von W.K. Nordenham

16. Juni 2012 | Kategorie: Artikel, Geld oder Leben, Seelenmord, Was ein Mensch wert ist

Hier geht es ums Leben:

Berliner Kurier Freitag, 23. September 2011

Waldorf-Lehrer wegen Kindesmissbrauchs verurteilt.

Ein Pädagoge der miesen Sorte: Den Biedermann gab er in einer Waldorfschule im Märkischen Viertel.  2 0    M a l  aber  machte er sich in seiner Wohnung an  J u n g s   r a n . (…) Er ließ seine Verteidigerin reden: „Die Vorwürfe treffen zu.“ Kein Bedauern, aber Jammern über seine Lage in fünf Monaten U-Haft. Alles begann mit Ermittlungen gegen einen mutmaßlichen Kinderschänder -Ring. Pädophile sollen unter dem   Deckmantel  eines   Hilfsvereins   Waisenkinder  aus  Haiti   s e x u e l l    m i s s b r a u c h t  haben.(….)  E. ist Englisch-Lehrer seit 43  Jahren, die Waldorfschule hatte ihn nach bekannt werden der Vorwürfe entlassen. Urteil:  z w e i   J a h r e   a u f   B e w ä h r u n g  und 3000 Euro Buße.

Der Westen – WAZ-Gruppe online  16.3. 2012

Bochum.   „Das sind schwere Verbrechen“, sagte Richter Johannes Kirfel im Urteil am Freitag. Seine  Strafkammer   hatte   soeben   zwei  19  und   20   Jahre  alte  Bochumer     w e g e n        E i n b r u c h s ,        s c h w e r e r    B r a n d s t i f t u n g  u n d   R a u b e s  verurteilt.  Der 20 – Jährige bekam  d r e i  J a h r e  und  z e h n  Monate Jugendstrafe, der 19-Jährige     e i n  J a h r  w e n i g e r.  (…)

Wie berichtet, hatten der Lehrling und der Aushilfsarbeiter in der Nacht  des 28.11.2011 die Wohnung eines Bekannten im Ehrenfeld aufgebrochen (…) Nachher legten sie in der Wohnung … Feuer. (…)  In derselben Nacht zogen die Täter weiter zur Castroper Straße und raubten dort einen anderen Bekannten (26) in seiner Wohnung aus. Der 20-Jährige, damals alkoholisiert, packte das arglose Opfer von hinten mit einer Hand gegen die Stirn und zog mit der anderen Hand ein Messer an seinem Hals entlang. Er  soll  richtig  durchgezogen  haben. Weil  d i e   K l i n g e  o f f e n b a r   n i c h t   s c h a r f    w a r,   ü b e r l e b t e  d a s  O p f e r ,  e r l i t t   a b e r   ä u ß e r s t   t i e f e   S c h n i t t – w u n d e n    a m    O h r . Nach  der  Messerattacke  hatten  die Täter  d i s k u t i e r t , ob  sie   d a s  O p f e r  t ö t  e n  s o l l e n.  Die  Staatsanwältin  wollte  für  den  Älteren  w e g e n    d e r    M e s s e r –  a t t a c k e   (…)   s e c h s   Jahre   Haft.   D e m    f o l g t e n   d i e     R i c h t e r   a b e r   n i c h t .

come-on.de  20.03.12

Sexueller Kindesmissbrauch: Halveraner verurteilt

HALVER ▪ Am Ende glaubte das Gericht der 14-jährigen Zeugin und nicht dem Angeklagten:    W e g e n   s c h w e r e n    s e x u e l l e n     M i s s b r a u c h s    e i n e s   K i n d e s ,    N ö t i g u n g       u n d    K ö r p e r v e r l e t z u n g   v e r u r t e i l t e  die erste große Strafkammer des Landgerichts Hagen einen 44-Jährigen aus Halver zu einer Haftstrafe von   f ü n f   J a h r e n .(…)

Short news 23.04.11 09:11

Ehemaliger DSDS-Kandidat wegen Kindesmissbrauch verurteilt

Vor dem Landgericht Rostock musste sich der 22-jährige Sven B. verantworten. Vor Gericht wurde ihm der Missbrauch eines neunjährigen Mädchens und eines zwölfjährigen Jungen vorgeworfen. Die Taten ereigneten sich im Frühjahr 2010. (…) Der 22-Jährige  wurde  zu  einer Freiheitsstrafe  v o n  d r e i   J a h r e n  u n d   a c h t   M o n a t e n  verurteilt.

Bild- online 29.03.2012

Giuseppe M. (23) in den Tod gehetzt U-Bahn-Schläger kommen mit Bewährung davon.

Berlin – Erst prügelten sie, dann hetzte einer der U-Bahn-Schläger den 23-Jährigen Giuseppe M. auf die Straße. Dort wurde der flüchtende Mann von einem Auto erfasst und getötet. Am Donnerstag wurde das Urteil gegen die Gewalttäter gefällt.  Für den 21-jährigen Haupttäter hatte die Staatsanwaltschaft viereinhalb Jahre Gefängnis gefordert. Stattdessen  bekam  Ali  T . (21)  eine    B e w ä h r u n g s s t r a f e   v o n   z w e i  J a h r e n . Der Mitangeklagte Baris B. (22) wurde zu  4  M o n a t e n   B e w ä h r u n g  verurteilt. Das  Urteil   lautete  auf   K ö r p e r v e r – l e t z u n g   m i t   T o d e s f o l g e .

Soester Anzeiger  30.01.12

Körperverletzung mit Todesfolge bei Abi-Fete in Soest. Dreieinhalb Jahre Haft für Kayahan B.

SOEST ▪ Genau ein Jahr und einen Tag nach der tödlichen Messerattacke im Anno hat das Landgericht  einen juristischen Schlussstrich gezogen und den Schüler Kayahan B. wegen K ö r p e r-   v e r l e t z u n g   m i t   T o d e s f o l g e   zu einer Jugend-Haftstrafe von  d  r  e  i    J a h r e n   u n d   s e c h s  M o  n a t e n verurteilt.

Jetzt geht es um Geld:

Kölner Stadtanzeiger  23.1.2012  MAMMUTPROZESS

Wiederholungstäter prellt seine Opfer um 2,7 Millionen Euro.

Der Serienbetrüger Ralf J. ist wegen Betrugs in  38 Fällen mit einem Gesamtschaden  v o n   2, 7   M i l l i o n e n   E u r o  z u   s i e b e n     J a h r e n   und  z e h n   M o n a t e n Gefängnis verurteilt worden.

Die Welt kompakt 28.03.12

Lange Haft für „Netto-Räuber“(…)

Die beiden „Netto-Räuber“ sind am Dienstag in Köln zu hohen Haftstrafen verurteilt worden. Der 38 Jahre alte Haupttäter erhielt unter anderem wegen schweren Raubes und Betrugs  a  c  h t e i n h a l b , sein 40-jähriger Komplize  muss  für  s i e b e n J a h r e  ins  Gefängnis. Damit  ging das Kölner  Landgericht   noch über  d i e  F o r d e r u n g   d e r  S t a a t s a n w a l t s c h a f t   h i n a u s . Mehreren traumatisierten Opfern müssen die Täter außerdem bis zu 4000 Euro Schadensersatz zahlen.

Das Gericht sah es als erwiesen an, dass die zwei Männer sechs Jahre lang mehr als 30 Discounter und Supermärkte in ganz Deutschland überfallen hatten. Ihre Beute: rund 750 000 Euro.

B.Z.  (Berliner Zeitung) 03. April 2012

Brandstifter André H. zündete letztes Jahr 102 Autos an. Nun muss er für 7 Jahre ins Gefängnis.

André H. (28), Berlins schlimmster Hass-Zündler, fackelte im Sommer vergangenen Jahres 102 Luxusautos ab. Aus Neid auf Leute, die reicher sind als er. Aus Geltungssucht. Und aus Liebeskummer. Das Landgericht der Hauptstadt sprach ihn am Dienstag schuldig. Er muss für  s i e b e n J a h r e ins Gefängnis.

Die oben aufgelisteten Urteile beweisen nur eines: Geld hat sich das Leben untertan gemacht. Wer sich am Geld vergreift,  muss mit härterer Strafe rechnen, als der, der unter Anwendung schlimmster Gewalt mit Leib und Leben anderer spielt, obwohl eines unbestritten bleibt: Auf jedem Missbrauch  folgt ein zerstörtes Leben. Das ist nicht in Euro zu beziffern und noch weniger mit Euro oder Haft gutzumachen, woraus bei den Gerichten  Ratlosigkeit durch ein Verständnis sich ergänzt sieht, das mit der Milde gegenüber dem Täter sich selbst als Teil einer gewalttätigen Gesellschaft zu exkulpieren versucht, zumal jede Sühne angesichts der seelischen Verletzung immer zu gering erscheinen muss. Der Sühnegedanke  unseres Rechtssystems  auch einer erzieherisch gedachten Strafe für den Täter verblasst vor dem von ihm vollbrachten Seelenmord. Für Angriffe mit gefährlichen Waffen und schwere Körperverletzung gilt Ähnliches.  Alle  Tat benötigt einen Täter, der Täter benötigt ein Opfer, und Opfer aber auch Täter  erwarten dann so etwas wie Gerechtigkeit in einer  Zeit, die körperliche und seelische Unversehrtheit des Anderen für vernachlässigbar und Verantwortungskultur für Schwäche hält.  Die Schwelle zur Gewaltanwendung ist dank medialer Gehirnwäsche auf Bagatellniveau. Gewaltbereitschaft und -anwendung ist gerade nicht unabwendbarer gesellschaftlicher Prozess, sondern Folge ständiger Gewöhnung in Wort und Bild bei Tag und bei Nacht. Was geschieht mit einem Zehnjährigen, dem bis zum zwanzigsten Lebensjahr in jedem zweiten Krimi  Tritte gegen Kopf und Leib realistisch vorgeführt werden, neben Mord und Totschlag mit unterschiedlichsten Utensilien ? Wie Menschen in unserer Zeit inzwischen mal eben nebenbei mit einem Messer traktiert und dabei oft genug zu Tode gebracht werden, bestürz mich. Werden Messer in unserer Gesellschaft nicht mehr als Mordinstrument wahrgenommen, sondern etwa als Mittel zur Selbstverteidigung?  Was unterscheidet einen Revolverschuss von einem Messerstich? Gar nichts! In beiden Fällen muss mit dem Tod des Verletzten gerechnet werden und der Täter nimmt dies billigend in Kauf. Scheinbar sind wir auf dem Wege zu einem Kollektiv von Messerträgern, und Justiz fügt sich ins Vermeidliche, um  das Vermeidbare dann zielsicher pejorisierend  abzuurteilen. Das ist mit den obigen Urteilen bewiesen, denen man täglich neue hinzufügen könnte, ohne dass es weiterer Erläuterungen bedürfte. Aber wenn der  Täter  die Tat hinter sich hat, dann ist das Opfer entweder tot oder es hat die Tat vor sich, nämlich im schlimmsten Falle ein Leben lang. Während sich die Justiz, vom Gesetz dazu bestimmt,  sich mit dem Täter intensiv befasst, bleibt dem Opfer eben nur diese eine Rolle. Sobald das Voyeuristische des  Tathergangs  aus dem  veröffentlichten Gedächtnis weicht, durch neuerliche Täter/Opfer Geschichten dazu genötigt, ist der Aufschrei im Opfer lange  nicht verhallt. Welche Strafe  oder Sühne  muss hier greifen?  Was ist ein Mensch wert? Nicht genug !   Buße tun oder Strafe sollte schon als solche deutlich erkennbar sein. Es kein Privileg allein der Jugendjustiz, Gewaltvergehen  für ein Kavaliersdelikt zu halten, indem man mit  gehobenem Zeigefinger  gesellschaftsimmanente Strömungen mitverantwortlich macht ohne gleichzeitig etwas dagegen unternehmen wollen, beispielsweise durch angemessene Urteile. Der Hinweis auf eine schwere Kindheit – gibt es überhaupt eine Leichte? –  oder Alkoholgenuss spielen aus Opfersicht keine Rolle.  Vor 2 Jahren wurde ein Freund vor Zeugen vollkommen grundlos in ein Schädeltrauma geschlagen. Die Richterin stellte  den Angeklagten im Prozess  vor dem dergestalt Opfer zur Rede, dass er hätte jenen ja auch totschlagen können, und er  habe noch einmal Glück gehabt, der Täter also. Die Staatsanwaltschaft Köln hatte –  dem Anlass offenbar angemessen – einen  Referendar geschickt. Das Urteil lautete entsprechend auf sage und schreibe  650 € Geldstrafe.  Für das Opfer ein Hohn. Der Stadtanzeiger Köln berichtete konsterniert. An Revision hatte niemand Interesse.  Was kann man daraus lernen? Jeder hat zumindest einen Gewaltversuch frei, als Jugendlicher mehrere. Für die Opfer vor allem bei sexueller Gewalt reicht immer schon der Erste.  Sollte ich demnächst als Opfer eines Überfalls ein paar Leute erstechen, weil ich vorsichtshalber neuerdings  politisch korrekt ein Messer mitführen könnte,  darf  ich wegen Notwehr mit Freispruch rechnen, es sei es handelte bei den Opfern ich um Richter, Politiker oder Prominenten. Da würde der Staat dann noch mal hellhörig. Aber diese Herrschaften bewegen  sich dem Leben entzogen in anderem Umfeld. Ist diese Gesellschaft überhaupt noch satisfaktionsfähig?

 

Siehe auch: http://www.das-rote-heft.de/seelenmord/einfach-brillant-von-w-k-nordenham/002976/

Seelenmord – Was ein Mensch wert ist. Von W.K.Nordenham


Karl Kraus und der Journalismus. Von Richard Schuberth

27. Mai 2012 | Kategorie: Artikel, Journalisten, Richard Schuberth

Richard Alexander Schuberth ist Schriftsteller – unter anderem –  und lebt in Wien. Die Lektüre seiner Schriften sei dem empfohlen, der den Kopf nicht nur als Huthalter oder Frisierobjekt missbraucht. Der  Text, dem weitere folgen werden, wird hier mit seiner ausdrücklichen Genehmigung abgedruckt. Er entstammt dem Buch

Richard Schuberth                                                                                      30 Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus

238 S. , EUR 24,-
Broschur mit Fadenheftung
ISBN 978-3-85132-531-7, 2008

Was ich will, ist, dass die Presse aufhöre zu sein – Kraus und der Journalismus.Von Richard Schuberth

Du brauchst nicht mehr zu wissen noch zu denken,

Ein Tagblatt denkt für dich nach deiner Wahl.

Die Weisheit statt zu kaufen steht zu schenken,

Zu kaufen brauchst du nichts als das Journal.

Franz Grillparzer (aus „Dem internationalen Preßkongreß“)

Auf dem Höhepunkt des bürgerlichen Zeitalters, in der Periode zwischen 1848 und 1914, profiliert sich die Zeitung als Medium der Emanzipation und Bildung. Feuilletonisten und Leitartikler machen den seit der Aufklärung heroisierten Dichtern und Denkern Konkurrenz. Besonders die Ästhetizisten als Künder des ewig Wahren und Schönen wehren sich gegen die Anmaßungen des täglich neu gedruckten und weggeworfenen Worts. Hugo von Hofmannsthal      z. B. gefällt es gar nicht, dass auf den „elendsten Zeilenschreiber etwas vom Glanz der Dichterschaft abfällt“. Dem hätte Karl Kraus wohl zugestimmt – und von Hofmannsthal und seinesgleichen gleich den Glanz mit runterpoliert.

Dass Karl Kraus in der „Journaille“, wie er das journalistische Gewerbe nannte, seinen Hauptfeind bekämpfte, ist beinahe eine Untertreibung. Mehr noch war die 1899 gegründete „Fackel“ die unversöhnliche Antithese zur Presse schlechthin, in ihrem Titel schon leuchtet die Doppelbedeutung von Erhellung und Brandlegung auf, jener „Productivkraft schöpferischer Zerstörarbeit“, deren deklariertes Ziel die „Trockenlegung des weiten Phrasensumpfes“ war.

Karl Kraus kannte die Produktionsbedingungen des bürgerlichen Journalismus gut genug, schrieb er doch seit 1892 selbst für die damals wichtigste meinungsbildende Kraft Mitteleuropas, die „Neue Freie Presse“ sowie in der Wochenschrift „Die Wage“. Als das Gerücht, der begabte junge Autor wolle eine eigene Zeitschrift gründen, auch in die Redaktion der „Neuen Freien Presse“ drang, wollte die ihn als Redakteur an sich binden. Karl Kraus’ Selbstbewusstsein war indessen stark genug für die Gewissheit, dass er nicht reif für die „NFP“ sei, sondern diese reif für ihn. Er gründete 1899 die „Fackel“ und formulierte bereits in der Nullnummer sein Programm: „… kein tönendes ‚Was wir bringen’, aber ein ehrliches ‚Was wir umbringen’ hat sie sich als Leitwort gewählt.

… beim Morgenkaffee plötzlich Daliegendes

Kraus’ Kampf gegen den Journalismus ist ein vielschichtiges Unternehmen und es bedarf profunden Studiums, bis sich einem die disparaten Elemente seiner Kritik als schlüssiges Ganzes offenbaren. Seine Pressekritik beherbergt sprach- und moralkritische, politische, ökonomische und medienphilosophische Aspekte. Diese aber sind so klug ineinander verzahnt, dass jeder Versuch ihrer analytischen Trennung von ihrem Verständnis wegführte. Hier nur der Anflug eines Versuchs, Eckpunkte eines Lebenswerkes zu skizzieren.

Der Sprachverfall ist zugleich Ursache, Folge und Symptom all dessen, was Kraus verabscheut und apokalyptisch überhöht, die Presse sein Brennglas.

Zunächst ist Kraus nur daran gelegen, den Schuster bei seinem Leisten bleiben zu lassen. Als sachlicher Informationsdienst ist ihm die Zeitung durchaus willkommen, eine knappe unprätentiöse Sprache sogar literarisch inspirierend. Störend wird der Journalismus erst, wenn er sich mit dem Anspruch von Objektivität und – schlimmer noch – als Meinungsbildner zwischen den denkenden Menschen und die Wirklichkeit stellt, und ihm die Möglichkeit autonomer Reflexion durch die Fütterung mit dem selbstgerechten Meinungsbrei des Leitartikels abnimmt.

Mit selten einfühlsamer Pädagogik fordert Kraus den Leser zur Mündigkeit auf: „Freundlicher Leser! Der du noch immer die Zeitung für ein von geheimnisvoller Macht Erschaffenes, aus pythischem Munde Weisheit Kündendes, beim Morgenkaffee plötzlich Daliegendes hältst, der du vom Offenbarungsschauer dich angewehet und der Ewigkeit näher fühlst, wenn Löwy oder Müller im Wir-Ton leitartikeln …, werde misstrauisch, und einer von Druckerschwärze fast schon zerfressenen Kultur winkt die Errettung. Lasse den Zeitungsmenschen als Nachrichtenbringer und kommerziellen Vermittler sich ausleben, aber peitsche ihm den frechen Wahn aus, dass er … berufen sei, geistigen Werten die Sanction zu erteilen. Nimm das gedruckte nicht ehrfürchtig für baare Münze! Denn deine Heiligen haben zuvor für das gedruckte Wort baare Münze genommen.

Schon früh läutet Kraus eine Revolution in der Medienkritik ein. Beschränkte sich diese vor ihm zumeist auf Bildungsdünkel oder Entsetzen über die Verflachung der Sprache, so wirft Kraus sein satirisches Schlaglicht auf die politischen und ökonomischen Bedingungen der Wirklichkeitsproduktion. Und findet seinen Erzfeind nicht in den Pöbelblättern der Deutschnationalen, sondern im vorgeblich kleineren Übel, der liberalen, fortschrittlichen „Neuen Freien Presse“.

Den Schlüssel zur Heuchelei der interesselosen Meinungs- und Faktenfabrikation findet Kraus in den üppigen Inseratenteilen der Zeitungen. Sein Zeitgenosse, der Nationalökonom Karl Bücher definierte die moderne Zeitung als „Erwerbsunternehmen, das Annoncenraum als Ware verkauft, die nur durch einen redaktionellen Teil verkäuflich wird.“ Diese scharfsinnige Spitze mag heute nicht mehr stechen, so selbstverständlich ist die Verabsolutierung kapitalistischer Marktprinzipien geworden.

Auch der „Arbeiter Zeitung“, der er zwischen Wohlwollen und Distanz verbunden blieb, rechnete Kraus früh die Widersprüche zwischen Absicht und Tat auf:

Aufsehen erregt haben seinerzeit die Artikel der Arbeiter-Zeitung über die ‚Mordschiffe der Donau-Dampfschiffahrt-Gesellschaft’ durch die Kühnheit ihrer Sprache. Seit damals – Herbst 1898 – erscheinen statt der ‚Mordschiffe’ in kleinen Intervallen ‚Mordsinserate der Donau-Dampfschiffahrts-Gesellschaft’. (…) Die ‚Mordschiffe’ werden allerdings nicht angegriffen; sie sind zwei Jahre älter geworden.“ Und zeigte mit dieser Sentenz, wie brillant sich das als seicht verschriene satirische Mittel des Kalauers mit einer Sache gegen eine Sache rüsten ließ.

Kraus ging jedoch einen bedeutenden Schritt weiter und wurde nicht müde nachzuweisen, dass der redaktionelle Teil selbst geheimer Umschlagplatz der Warenform ist. Nicht nur dem heuchlerischen Nebeneinander von Geist und Kommerz gilt seine Kritik, sondern der schleichenden Kommerzialisierung des Geistes, die er am Sprachgebrauch diagnostiziert.

Die Presse als Bote, Partei und Ereignis

Damals wie heute wirkt Kraus’ Totalisierung des „Pressunwesens“, ihre Hypostase zur Hauptursache aller gesellschaftlichen Übel, als überspannt, gerade so, als hätte sich ein narzisstischer Kritiker eine freie Nische gefunden, deren Bedeutung er zur Überhöhung der eigenen überhöhen muss.

Wohl ist er sich bewusst, wo die Basis, wo der Überbau ist: „Ich habe die Presse nie als Ursache, sondern immer nur als Wirkung verklagt. (…) Ich weiß schon, dass die Nässe nicht am Regen schuld ist; aber sie informiert mich darüber, dass es regnet.“

Und doch bildet die Nässe Dunst, der aufsteigt, um zu neuen Regenwolken sich zu ballen. Im Frühjahr 1908 nennt der konservative Abgeordnete Gröber die anwesenden Journalisten im deutschen Reichstag „Saubengels“. Aus Protest stellen diese die Berichterstattung über den Reichstag ein, was die vorübergehende Einstellung der parlamentarischen Tätigkeit zur Folge hat. Kraus dazu in der „Fackel“: „Die Öffentlichkeit hat wieder einmal dazugelernt und weiß jetzt, dass die Weltgeschichte aufhören muss, wenn sich’s die Staatsmänner mit den Stenographen verderben.“

Bei Kraus’ Fehde mit der Presse verhält es sich wie bei den anderen Feldern seiner Kritik. Ganz dem Grundsatz gemäß, dass nur die Übertreibung der Realität gerecht wird, lässt ihn sein kritischer Geist, gerade dort, wo er am verschrobensten wirkt und durch keine Sache mehr gedeckt scheint, Mauern vor der Wahrnehmung einreißen, wofür die damalige Wissenschaft und Gesellschaftskritik der Methoden entbehrte. Als erster Mensch der Geschichte formuliert er Zusammenhänge, welche zum wesentlichen Topos der Medien- und Kulturkritik des 20. Jahrhunderts avancieren würden, ohne dass die es ihm je gedankt hätten. Karl Kraus kommt dem Prinzip der Substitution der Wirklichkeit durch die Medien auf die Schliche.

Seinen Zeitgenossen evident wird diese Macht spätestens durch die Rolle der Presse im I. Weltkrieg: Längst nicht mehr ist sie Vollzugsorgan politischer Macht, sondern lenkt die Ereignisse selbst kraft ihrer Deutungshegemonie.

Schon 1909, als ein gewisser Minister Aerenthal der bereits damals kriegsbegeisterten „NFP“ durch den Historiker Friedjung Falschinformationen über eine Verschwörung Kroatiens mit Belgrad zuspielen lässt und somit einen Krieg gegen Serbien vom Zaun brechen will, erkennt Kraus die Omnipotenz der Presse als Wirklichkeitsmanipulator. Er verfolgt diesen Pfad bei der Berichterstattung über die Balkankriege und findet seine anfänglich polemische Position durch die Rolle der Presse im I. Weltkrieg bestätigt:

… die Presse ein Bote? Nein, das Ereignis. Eine Rede? Nein, das Leben. Sie erhebt nicht nur den Anspruch, dass die wahren Ereignisse ihre Nachrichten über die Ereignisse seien, sie bewirkt auch diese unheimliche Identität, durch welche immer der Schein entsteht, dass Taten erst berichtet werden, ehe sie zu verrichten sind …

Hiermit nimmt Karl Kraus, der sich längst nicht auf Sprache beschränkt, sondern Photographie, Reklame und Film in sein Denken mit einbezieht, die größten Leistungen der späteren Kulturindustrie- und Medienkritik vorweg, wie Sigfried Kracauers Analyse der Photographie in den 20er Jahren etwa („In den Illustrierten sieht das Publikum die Welt, an deren Wahrnehmung es die Illustrierten hindern.“), oder Günther Anders’ Analyse des Fernsehens („Am Anfang war die Sendung, für sie geschieht die Welt.“) oder die schwachbrüstigere Medienkritik eines Marshal MacLuhan, weitschichtig auch die Simulakrentheorie von François Baudrillard.

Kraus contra Békessy, Thurnherr und Sperl

Nach dem Krieg sieht sich Kraus einem neuen Typus von Journaille gegenüber: In den Revolverblättern des Erpressers und Medientycoons Imre Békessy wird die idealistische Maske fallen gelassen, auf welche die „NFP“ noch Wert legte, und der Prototyp des populistischen Boulevardjournalismus geschaffen, der auch heute noch den Zeitungsmarkt beherrscht. Die Dramaturgie des folgenden Kampfes nimmt jene des Westerns „High Noon“ vorweg. Dass Békessy mit offenen Karten spielte, Korruption und Lüge als journalistisches Prinzip ehrlich zugab – „Niedertracht unter dem Vorwand der Niedertracht“ –, mag den Dialektiker Kraus sogar amüsiert haben, ehe sich dieser wieder mit dem Ethiker zugesellte und mit den donnernden Worten „Raus mit dem Schuft aus Wien!“ einem Schieberimperium, dem sich Kraus’ alte Feinde wie Felix Salten und Anton Kuh nur zu gerne andienten, den Krieg erklärte. Ein Krieg, den er völlig alleine führen würde. „Ich kenne keine Parteien mehr. Ich kenne nur Feiglinge.“ Zwei Jahre später, 1926, ergriff Békessy die Flucht nach Paris. Einer der wenigen Erfolge, den Satire je gezeitigt haben dürfte.

Wie sehr den Zeitungsintellektuellen unserer Tage die Angst vorm „Fackelkraus“ im Nacken sitzt, beweist die magische Praxis des Zitats. Man zitiert Kraus, weil er nicht mehr lebt – und damit er nicht mehr lebt. Der rituell-magische Charakter des Zitats funktioniert auf zwei Ebenen. Das Krauszitat lässt den Journalisten magisch an dessen geistiger Autorität teilhaben und dient zugleich als Schutzzauber. Wogegen? Gegen Kraus selbst, dessen Geist ja noch immer durch die Redaktionsstuben spuken und die eigenen Texte ihrer ganzen Dürftigkeit überführen könnte.

Die Frage indes, wie Karl Kraus sich zur heutigen Presselandschaft äußern würde, zählt selbst schon zu den automatisierten Phrasen des Feuilletons oder Impulsreferats. Sicher ist, dass er sich nicht mit Peanuts abgeben, sondern seine Kritik erst bei jenen so genannten Qualitätsblättern ansetzen würde, deren vorgebliches Niveau sich hierzulande aus der Distanz zur „Kronen Zeitung“ ableitet. Die Chefredakteure, Leitartikler und Feuilletonisten von, „Presse“, „Profil“, besonders aber „Standard“ und „Falter“, die sich aus Mangel an Alternativen den Lesern als das äußerst Mögliche an kritischem Geist aufdrängen, lebten in ständiger Angst – und Hoffnung, dass sich die Privatwirtschaft ihrer erbarmte, wenn der Redakteurssessel zu heiß würde.


Ein Organ der Intelligenz. Von Karl Kraus.

21. Mai 2012 | Kategorie: Annoncen, Artikel, Aus "Die Fackel"

Für „Ein Organ der Intelligenz“ hält sich heutezutage „Die Zeit“. Man kann nicht sagen, dass  deren Anzeigen intelligenter geworden wären im Vergleich mit den von Karl Kraus Veröffentlichten. Eigentlich klingen sie genauso  direkt und absichtsvoll und haben meist nichts mehr mit Kuppelei zu tun sondern mit eindeutiger Absicht. Noch eindeutiger wird es beim Druckprodukt für den Boulevard. Da bieten Dominas Überstunden an, Edelpuffs für die letzten Wünsche florieren wie nie,  und die erforderlichen Organe benötigen nur ausnahmsweise im Vorfeld die Hilfe bescheidener Intelligenz, wenn etwa über den Preis einer zeitlich begrenzten Organspende verhandelt wird.Wie lautete eine treffende Floskel: Alles ist schlechter geworden, nur eines ist besser geworden: die Moral, die ist auch schlechter geworden.    W. K. Nordenham

Die Fackel  1927XXIX. JAHR, Heft 759  S. 88-93

Ein Organ der Intelligenz

Das Organ der Herren Hacsak & Herczeg, von sozialdemokratischer Seite wegen des Verdachts der Erpressung verfolgt, hat sich in Wahlzeiten aushilfsweise mit einem Eifer betätigt, dem nur der gute Zweck die Befreiung von den Lasten des Kreuzelparagraphen im Leitartikel sichern konnte. Die Aufgabe der ‚Wiener Allgemeinen Zeitung‘ war es, vornehmlich die Intelligenzkreise, denen sonst mit den Sensationen eines abgehackten Beins, einer Giftmordverleumdung oder anderer publizistischen Alkoholexzesse streitbarer Ritter gedient wird, sozialen Interessen in einem edleren Sinne zugänglich zu machen, die herabzusetzen noch kurz zuvor keine weißgardistische Verleumdung schmutzig genug erschienen war. Ob es derselbe Brillantenschmock ist, der früher rechts geschrieben hat, oder ein neuer, der nur links schreiben kann, jedenfalls war auf demselben Papier nunmehr zu lesen:

Unser Blatt  ist nicht  dazu  da, parteiliche  Wahlparolen  auszugeben. W i r    s i n d     e i n    O r g a n    d e r    I n t e l l i g e n z, ein    Blatt  f r e i e r    K ö p f e, die jedem geistigen Zwang und daher auch dem Parteizwang inneres Widerstreben entgegensetzen. Darum unterlassen wir den aussichtslosen Versuch, unsere Leser in einen Parteipferch sperren zu wollen. Wir sagen ihnen nicht, stimmt für diese oder jene Liste, s o n d e r n  w i r   s a g e n  i h n e n   e t w a s   a n d e r e s.

U n s e r    L e s e r k r e i s ,  das  dürfen  wir wohl  behaupten, umfasst    d i e   g e i s t i g e   E l i t e   d i e s e s   L a n d e s , jene Bürger, die das stärkste Interesse am öffentlichen Geschehen bekunden und sich mit der publizistischen Hausmannskost des Morgens und Mittags nicht zufrieden geben. Diesen unseren Lesern rufen wir zu: Seht sie euch an, die berühmte Einheitsliste! Seht sie euch an, die Einheitskandidaten von Kink bis Riehl und von Blasel bis Jerzabek! …  Das also sind die erhabenen Führer, die leuchtenden Vorbilder bürgerlicher  I n t e l l i g e n z ! So sehen sie aus, die Herolde der österreichischen Geistigkeit!

Ohne Zweifel ist die Geistigkeit der genannten Herren keine solche, mit der man einen andern Staat als den österreichischen machen könnte, und selbst dieser Versuch ist ja größtenteils misslungen. Was aber die Intelligenz anlangt, deren eigentliches Organ die ‚Wiener Allgemeine Zeitung‘ ist, so konnte man wahrnehmen, dass jene dem Ruf, der an sie von leitender Stelle erging, noch in derselben Nummer  und zwar auf der letzten Seite gehorsamt hat. Denn da finden sich, heute wie täglich, die fast immer intelligenten Herren und Damen zusammen, die, anpassungsfähig bis zum Äußersten, »Gegenpol« suchen, sei es, dass ein sympathischer ernster Künstler streng seriösen Einzelunterricht an Dame im Privatatelier unter »Ars severa« anbietet, sei es das eine sensible oder energische, rassige, jedoch zielbewusste Dame sich als »Domina« offeriert. Die Chiffren, nur den Intelligenzkreisen verständlich, schwanken zwischen »Kallipygos« oder der Umkehrung eines Begattungswortes oder etwa »S. M.«, was aber, wenn ein noch junger, anpassungsfähiger Mann eine energievolle Dame  sucht, und zumal in einem den republikanischen Interessen zugewendeten Blatt keineswegs als Ausdruck einer monarchistischen Sehnsucht aufgefasst werden könnte, obschon ein gewisser Drang nach Unterwerfung unverkennbar hervortritt. Nicht minder verständlich, als dass eine energische Dame noch einige Schüler zum Sprachunterricht wünscht, die ihre Methode durch die Chiffre »O. W.« andeutet, oder dass eine routinierte Lehrerin gesucht wird, wobei Energie Bedingung ist und die Offerte demgemäß unter »Strenge Disziplin« erfolgen muss, »da es sich um einen sehr zerstreuten und unaufmerksamen Jungen handelt«. Die Aufmerksamkeit der geistigen Elite zu fesseln dürfte aber insbesondere gelingen, wenn ein »Imperativus« oder eine »Dominatrix« aufmarschiert. Dass da nicht gut Kirschen essen ist, wiewohl es manche gerade wollen, beweisen auch Chiffren wie »Dominiert«, »Dominierend« und »Domination«. Da gibt es große, schlanke Herrennaturen, ja sogar gutsituierte Gentleman-Herrennaturen, von denen man nicht gleich weiß, ob sie Herren- oder Damennaturen sind, weil die Gegensätze ja auch innerhalb des gleichen Geschlechts Ergänzung suchen; es wäre denn, dass ein Intelligenzler solche unter der Chiffre »Gebund en« erwartet oder eine Fesche angibt, sie sei »Noch vom alten Schlag«. So unerbittlich da aber vorgegangen wird, so geht doch auch das Gemüt nicht leer aus, wie der folgende Fall dartut:

31jährige, häusliche, intelligente, gebildete Dame aus der Provinz sucht aus Mangel an Bekanntschaft auf diesem Wege ernste Ehebekanntschaft mit Akademiker, höherem Beamten oder größerem Geschäftsmann. Besitze nach dem Tode meiner Eltern, welche schon in vorgerücktem Alter sind, schöne Villa, welche bei Ehe umgeschrieben wird, nebst schöner Friedensausstattung und Möbel. Nur ernstgemeinte, ausführliche Anträge unter »Häusliches Glück« an die Exp.

Einen noch höheren Grad von Selbstlosigkeit zeigt ein Akademiker, der »Gesonderte Kosten« anbietet, wie auch ein seriöser Herr (Doktor gar), der eine Reisebegleiterin nach Monte Carlo sucht unter »Geteilte Rechnung, gemeinsames Glück«, während ihr wahrscheinlich gemeinsame Rechnung, geteiltes Glück lieber wäre. Hohe Intelligenz ist im Kreise der ‚Wiener Allgemeinen Zeitung‘ oft mit tiefer Gemütsart gepaart. »Redoutenmüde«, ersehnt ein 29jähr. Geistesmensch ein »Coeur en cuirasse«, während andere wieder unter »Apartesse«, »Extraordinaire« »Diskrete Siesta« das Äußerste gewähren oder begehren. Ja, délices inespérés auf einer Reise autour du monde sur une route pavée d’aventures amoureuses verheißt einer unter »Plaisir sensuell«, was will eine mehr? Ich vermute, dass es derselbe Schlankl ist, der, als »Adam« entkleidet, cherche Eve pour gouter fruit défendu, sie soll écrire unter »Delice paradis terrestre«. Er hat jedenfalls die Absicht, sie auszuziehen, sie täte gut zu antworten déjà bien, je viens und die Strafanzeige zu erstatten. Für alle Geschmacksrichtungen ist die ‚Wiener Allgemeine Zeitung‘ tätig. Junge Ausländerin sucht verständnisvolle Freundin, was eine intelligente 30jährige Dame sehr gut verstehen kann und gleichfalls tut. Intelligenzler bevorzugt Blondine, ein andrer, der auch nicht auf den Kopf gefallen ist, versteift sich auf eine Vollschlanke, aber nur Rothaarige, wieder ein anderer will ausgerechnet eine Tizianblonde, wo soll die Allgemeine Zeitung alles das nur hernehmen? Und schon ist wieder ein Intelligenzler da — sie reichen einander die Türklinke —, der will eine, die sehr energisch, aber uneigennützig ist, dagegen lange, reiche Haare hat, er braucht sie als Ergänzung, während ein fester Charakter auf Freundschaft sanftmütigen Gegenpols besteht. Oft aber ist nur Frohsinn und Temperament Bedingung. Die kuriosesten Typen tummeln sich. Man denke nur, ein trink- und wetterfester Wanderkamerad wird unter »Nietzsche« erwartet, ein anderer tuts nicht unter »Eroica«, eine weltfremde, verspielte Seele wünscht älteren Herrn unter »Ruth«, ein Realpolitiker eine »Juno«, aber ohne Bubikopf, eine gebildete Dame ersehnt »Neue Hoffnung«, eine andere bildet sich ein, sie sei ein »rassiger Typ«, ein »Adonis« braucht Geld, ein japanischer Student offeriert sich als »exotischen Menschen«, ein veritabler »Wiking« trägt sich an, daneben gelüstet’s einen nach einem »Naschkatzerl«, und nur wirklich liebes Mädel wird folgerichtig unter »Liebling« begehrt, den wieder ein »fescher, vollwertiger Intelligenzler« Darling nennt. Und zwischendurch die unübersehbare Schar der Sensiblen, zumeist Dreißiger, die die Hauptkundschaft bilden, der Aparten, der Nichtalltäglichen — kurzum, es geht zu wie im G’wölb von Nestroys Weinberl, »plötzlich tritt neues Leben ins Merkantilische — — da kommt ein zartes Wesen um ein’n Bärnzucker, da ein Kuchelbär um ein Rosenöl, da lispelt ein brustdefekter Jüngling: ‚Ein’n Zuckerkandl‘, da schreit ein kräftiger Alter: ‚A Flaschel Schligowitz!‘, da will ein üppiges Wesen ein Halstüchel, da eine Zaundürre Fischbeiner zu ein’m ausg’schnittnen Leibel haben«, da will der eine ein’n Haring und die andre ein’n Kas — in solchen Momenten muss die Allgemeine zeigen, was eine Allgemeine ist: »d’Leut’ z’samm’schrein lass’n, wie s’ wollen, und mit einer ruhigen, ans Unerträgliche grenzenden Gelassenheit eins nach’m andern bedienen.« Ja, wenn alle so anspruchslos wären wie manche. Die wünschen »nur platonische Freundschaft«, was ist denn dabei, ein älterer Herr, schon ganz genügsam, bittet nur um »Ein bisschen Feuer«, einer will ja nichts als was umgekehrt zu lesen ist, ein anderer bloß »gemeinsamen Zeitvertreib«, wiewohl man sich da auch denken kann, was er sich da denkt. Manche verhalten sich direkt zugeknöpft, sind unwirsch und lehnen brüsk ab, was sie wünschen; »Abenteuer ausgeschlossen« ruft eine Dame mit Eigenheim, »Halbwelt ausgeschlossen« erklärt ebensolcher Herr, oder »Halbwelt verbeten« ein Akademiker, allerdings unter der Chiffre »Mulatschak«. Ein Vierziger, der sich nach Kultur und Statur sehnt, tritt schon etwas aus sich heraus, indem er zwinkernd  ragt: »Kleine Osterfahrt?«. (Offenbar der Verführer aus Terramares Gedicht, der da lächelt: »Seid’ne Ruh und süßer Wein.«) Sehr schwer zu behandeln dürfte ein Altersgenosse sein, der von vornherein darauf aufmerksam macht, dass er »äußerst pedantischer Wesensart« ist, und unter »Anständig 7« zu seinem Ziel gelangen will. Einer rühmt von sich, er sei mittelgroß und freidenkend, und macht sich damit übertriebene Hoffnungen, während ein mehr Besonnener einer Anpassungsfähigen unter der Chiffre »Vederemo« winkt (»Man wird doch da sehn«). Der Betrieb ist unerhört kompliziert, denn eine schmiegsame Frauennatur soll nur erstklassigst sein, eine Amazone

energisch, eine Eintänzerin unbedingt groß, eine Nichtalltägliche will, dass einer »kein absoluter Verstandesmensch« sei — was im Kreise der Intelligenz doch fast ein Ding der Unmöglichkeit ist —, und zwei große schlanke Jüdinnen suchen Tennispartner »für sofort«. Direkt aufsehenerregend aber ist es, wenn dafür wieder jene Dame, welche Samstag von zwei Herren bis ins Opernkino »verfolgt« wurde, um ein Wiedersehen gebeten wird. Das grenzt schon an Listenwahl! Aber das Organ der Intelligenz, das seinen Lesern keinen Zwang auferlegen will, bleibt seinem Programm doch viel treuer mit einer Parole wie dieser:

I c h  w ä h l e  35 bis 45jährige vorurteilsfreie Dame mit Eigenheim. Zuschr. unter »Freie Wahl«.

Und da sie allen Interessen dient, so interveniert die ‚Wiener Allgemeine Zeitung‘ natürlich auch dort, wo das Wahlrecht noch nicht einmal erobert wurde, und offeriert »eine bildschöne, 16jährige Offizierswaise« unter »Unschuld«. Während sich dies und alles andere begibt, arbeitet eine schon routinierte Masseuse ununterbrochen, alles Leben und Treiben begleitend wie die Liliencron’sche Schwalbe, die weglang auf und niederjagt. Dieser junge Gentleman-Masseur dagegen, der heute bis 8 Uhr und zwar in und außer Haus bedient, während er gleich darunter versichert, dass er heute bis 9 Uhr bediene, stiftet Verwirrung. In welchem Grade aber Wien bereits Fremdenstadt geworden ist, ja ein Zentrum raffinierter Sinnenkultur, beweist der Plan eines »Neger- Masseurs«, akademisch gebildet, derzeit Paris, der  sich in Wien selbständig machen will und zu diesem Behufe vornehme Klientel unter »Othello« sucht. Erotischer Gipfel in einer Landschaft, in der allabendlich die intelligenten, unabhängigen Damen und die feschen, vollwertigen Intelligenzler lustwandeln, denn intelligent sind sie alle, denen das Organ der Intelligenz hinten dies und vorn etwas anderes sagt.

All dies spielt sich täglich mit einer sympathischen Offenheit ab, die der ‚Allgemeinen Zeitung‘ tatsächlich die geistige Elite dieses Landes gewonnen hat, zum Beispiel mich, der sicherlich weit entfernt von dem Verdacht lebt, den Vertretern welcher Spezialität immer, die da publizistisch versorgt wird, ihre Freude zu missgönnen; von den paar Fällen abgesehn, wo das Inserat als die Keimzelle der Chantage oder des Zuhältertums erkennbar wird. Wahrscheinlich sind es gemeinnützigere Menschen als die Politiker, von denen vorn die Rede ist, und

sicherlich ist die Rubrik, die solchen Reigen täglich mit so herziger Unbefangenheit vorführt, der am besten geschriebene, mit verständlicheren Adjektiven ausgestattete Teil des Organs der Intelligenz. Dass eine Publizistik an der Förderung und Vermittlung lebenswichtiger Angelegenheiten Geld verdient, wäre auch noch nicht der Übel größtes. Dieses ist aber die Heuchelei einer Gesellschaft, die es noch immer erlaubt, dass eine kleine Kupplerin für die Dienste, die sie ihr erweist, bestraft wird und dass die Zeitung, wenn in einem Pensionszimmer sich ein Teil von dem abgespielt hat, was sie täglich propagiert, das dreimal vertagte Hochgericht eines Bezirksrichters zur Sensation macht. Es ist, solange ein elendes Sexualgesetz besteht, das die Verfolgung der Vermittlerin eines straffreien Liebesverkehrs vorsieht, eine der aufreizendsten kriminalistischen Unterlassungen, den Gewinn der Pressekuppelei für legitim zu erklären, ganz abgesehen davon, dass durch diese und nur durch diese auch ein bestehendes Gesetz gegen die öffentliche Unsittlichkeit übertreten wird. Eine andere Frage ist die nach der Kompatibilität der Wahlpropaganda mit der Kuppelei. Wenngleich der Mann, der im Vordertrakt die geistige Elite anzusprechen hat, ein Verwandter des lebenslustigen Altbundeskanzlers Renner sein soll, so ist doch gerade von der offiziellen Sozialdemokratie keine Lockerung der moralischen und gesetzlichen Fesseln des Sexuallebens zu  erwarten.        (Wenn man etwa an jene polizeiterminologische Begutachtung des Leumunds einer Mutter durch den Professor Tandler denkt oder an den Ausspruch des Dr. Ellenbogen über den italienischen Arrest, wo sich

Räuber, Diebe, Mörder, Päderasten und Leute ähnlichen Kalibers

aufgehalten haben.) Freilich, eine Angelegenheit der Weltanschauung dürfte es für die ‚Wiener Allgemeine Zeitung‘ weder sein, die Intelligenz vorn politisch, noch hinten anders zu befriedigen.

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Seelenmord – Was ein Mensch wert ist. Von W.K.Nordenham

07. Mai 2012 | Kategorie: Artikel, Justiz, Menschenwürde, Seelenmord, Was ein Mensch wert ist

Spiegel-online  12.3.2012

Kind für Missbrauch gezeugt – Langjährige Haftstrafen für Paar aus NRW

Die Vorwürfe waren ungeheuerlich: Melanie R. und Benjamin P. sollen ein Kind gezeugt haben, nur um es später sexuell zu missbrauchen. Das tat der Vater dann auch, als das Baby fünf Wochen alt war. Jetzt muss das Paar ins Gefängnis.

Essen.- Der Plan war so entsetzlich, die Umsetzung so grausam, dass die Tat „außerhalb des Bereichs unserer Vorstellung“ liege, betonte Staatsanwalt Gabriel Wais am Landgericht Essen. Melanie R., 26, und Benjamin P., 27, sollen ein Kind gezeugt haben – aus einem einzigen Grund: Sie wollten es sexuell missbrauchen.

Am Montag wurde das Urteil in dem Fall gesprochen. Der 27-jährige Angeklagte aus Gelsenkirchen wurde zu   a c h t , seine ein Jahr jüngere Partnerin zu  f ü n f  J a h r e n  Haft wegen schweren sexuellen Kindesmissbrauchs verurteilt.   D i e    R i c h t e r   b l i e b e n  m i t    d e m  S t r a f m a ß   für Benjamin P.  u n t e r  d e n von Staatsanwalt  Wais  g e f o r d e r t e n   z e h n   J a h r e n . Ein Gutachter hatte beide Angeklagten für  v o l l   s c h u l d f ä h i g   erklärt.(…)

„Die Angeklagten haben einen schutzlosen Säugling zum bloßen Objekt ihrer sexuellen Begierde degradiert und seine  M e n s c h e n-   w ü r d e    m i t    F ü ß e n   g e t r e t e n „, sagte der Vorsitzende Richter Heinz – Günter Busold in der Urteilsbegründung. Die Richter hätten im Verlauf des Prozesses in Abgründe menschlichen Handelns und Denkens geblickt, die sie  “ f a s s u n g s l o s  und  b e t r o f f e n  machen“, so der Vorsitzende.(…)

Wenn irgendjemand  Zweifel an Sinn und Zweck der Frage gehabt hat, zu was eine human sich nennende Spezies  nicht nur fähig, sondern auch imstande sei, welche Schandtat sie nie und nimmer begehen würde und was ihr unbedingt zuzutrauen sei, hier wird ihm Antwort zuteil. Das schlimmste Vorstellbare greift  zu kurz, der Schrecken trifft mitten ins Herz. Sei es der  schriftstellerische Auswurf des kranksten Gehirns oder seien es die Phantasieauswürfe  psychopathischer Filmemacher, nichts, aber auch gar nichts, vermag die Ungeheuerlichkeit zu einzuholen, die durch die obige Mitteilung  belegt wird und vor der noch der ärgste Alptraum kapitulieren muss. Der Artikel geht ins Detail. Ich sehe mich nicht in der Lage mehr von dem wiederzugeben, was niemand wissen will und  keiner sich vorstellen kann. Lange habe ich gezögert überhaupt zu schreiben, da mir das Wort fehlte während der Zorn wuchs. Es gibt Ereignisse, die den Geist lähmen, in Lethargie verfallen lassen, wo man den Aufschrei der geschundenen Weltseele zu hören glaubt und sich das Bewusstsein aus Selbstschutz der Mitteilung verweigern will. Beim Ausbruch des 1.Weltkrieges, des großen aus einer Sektlaune begonnenen Völkermordens und als die Zeit durch die Nazis 1933  in Blut getaucht wurde, da wieder niemand Einhalt geboten hatte, gab es diese Momente für Karl Kraus. Das große  Grauen  beschreibt auf alle Zeit  Auschwitz.  Aber im scheinbar menschlich Kleinen, welches eben  darum für groß zu gelten hat, wiederholt sich der tägliche Schrecken oder vielmehr, er setzt sich fort.

Die abgenutzte Metapher vom menschlichen Abgrund kann im vorliegenden Fall in ihrer Bedeutung vollendet und dem Wortsinn getreu erfahren werden, weil erst das Adjektiv „menschlich“ den Abstieg in die tiefsten Tiefen des Ekels und der Widerwärtigkeit beglaubigt und man allein deshalb dem Abgrund die Bodenlosigkeit zutraut, in die ein Tier sich nie je verirren würde. Kein noch so abgründiges Höllenwerk scheint der Unnatur des Menschen wesensfremd, eben gerade weil sie menschlich ist. Das ewig Menschliche zieht nicht hinan, sondern hinab. Die dünne Schicht  kultureller Errungenschaften, welche die humane Unzulänglichkeit als  Zivilisation ausgibt, kaschiert notdürftig, was dem  Tier an Natur  verloren ging, als es Mensch ward. Ohne das Menschsein je  erlangt zu haben, gedachte dieser Missgriff der Schöpfung das scheinbar Animalische von sich abwerfen  zu dürfen ohne sich über die Folgen Rechenschaft zu geben, die bloßes Menschsein nach sich ziehen würde.  Nichts einfacher und daher unnützer  als mit dem Kulturmäntelchen zudecken zu wollen, was selbst durch ein Zaubergewand nur unsichtbar, aber niemals ungeschehen gemacht werden könnte.  Sophokles Wort  aus Antigone – “ Ungeheuer ist viel, doch nichts ist ungeheurer als der Mensch“-  habe ich immer  so verstanden, dass im Ungeheuer  Mensch nicht nur Ungeheures sondern vor allem Ungeheuerliches angelegt ist.

Der Abscheu wird verstärkt durch die Tatsache, dass  die Justiz  selbst dieses unfassbare Delikt nicht des Höchstmaßes der Strafe für würdig erachtete, sondern Gründe fand, die offenbar Gelegenheit zu Milde boten. Die Würde des schutzlosen Säuglings sei „mit Füßen getreten“ worden, so der Richter. Selten klang eine Phrase so dümmlich und deplaziert.  Wenn doch nur dieses geschehen wäre! Und zwischen den sodann aufgebotenen Befindlichkeitsadjektiven „fassungslos und betroffen“ scheint mir sehr wohl ein wertiger Unterschied, wobei man auf die  Reihenfolge achte, welche die Floskel zuverlässig von echter Empfindung scheidet und den Mangel an Tiefe aufdeckt. Es ist das Urteil des Gerichtes, das die Würde des Kindes nochmals missachtete, als es die Tat der Höchststrafe für unwürdig befand. Schon lange – spätestens seit dem Versagen der belgischen Justiz im Falle  Dutroux – bedrängt mich eine perfide Ahnung, als ob nämlich ein Hodenträger dem anderen aus unbewusstem Skrotalkonformismus nolens-volens etwas nachzusehen hätte, wenn es um Missbrauch geht, der ja durchweg von Männern ausgeführt wird oder wurden schon einmal vermehrt weibliche Päderasten entdeckt, die sich an Kindern oder gar Säuglingen vergingen? Vergewaltigen Frauen reihenweise Jungen und Mädchen oder hat auch hier die Riege der Hodenträger inklusive der per ordre Vaticano Depravierten die absolute  Hoheit? Viel zu oft habe ich noch nach Jahrzehnten den Schmerz der Opfer miterleben müssen,  als sie mir davon sprachen, wie wenn es gestern gewesen wäre, da man ihre Seele mordete. Im Talmud und später im Koran heißt es, dass wenn jemand einen Menschen tötet, so solle es sein, als hätte er die ganze Menschheit getötet. Es ist an der Zeit, dass sich die Hodenträger aus der Gesetzgebung für männliche Sexualtäter heraushalten und bei der Aburteilung  dieser Taten vom Richteramt wegen Befangenheit zurücktreten, vielmehr dies Frauen überlassen, in der zugegeben vagen Hoffnung, dass  Würde nicht noch mehr beschädigt  und der Seelenmord, den jede  dieser Taten unstrittig zur Folge hat, als solcher wahrgenommen wird und strafrechtlich im Sinne des Opfers wahrhaft gewürdigt.


MARC AUREL – Selbstbetrachtungen 3. Buch

23. April 2012 | Kategorie: Artikel, Marc Aurel

Marc Aurel

Drittes Buch

1. Wir müssen uns nicht bloß sagen, dass das Leben mit jedem Tage schwindet und ein immer kleinerer Teil davon übrig bleibt, sondern auch bedenken, dass es ja ungewiss ist, wenn man ein längeres Leben vor sich hat, ob die Geisteskräfte immer gleichbleiben und zum Verständnis der Dinge, so wie zu all den Wahrnehmungen und Betrachtungen hinreichen werden, welche uns auf dem Gebiete des Göttlichen und Menschlichen erfahren machen. Denn wie viele werden nicht im Alter kindisch! Und bei wem ein solcher Zustand eingetreten ist, dem fehlt es zwar nicht an der Fähigkeit zu atmen, sich zu nähren, sich etwas vorzustellen und etwas zu begehren, aber das Vermögen, sich frei zu bestimmen, die Reihe der Pflichten, die ihm obliegen, zu überschauen, die Erscheinungen sich zu Stück für Stück zu verdeutlichen und darüber, ob’s Zeit zum Sterben sei oder was sonst einer durchaus geweckten Denkkraft bedarf, sich klar zu werden – das ist bei ihm erloschen. Also muss man sich beeilen, nicht bloß weil uns der Tod mit jedem Tage näher tritt, sondern auch weil die Fähigkeit, die Dinge zu betrachten und zu verfolgen, oft vorher aufhört.

2. Merkwürdig ist, wie an den Erzeugnissen der Natur auch die, welche nur beiläufige Merkmale sind, einen gewissen Reiz ausüben. So machen z.B. die Risse und Sprünge im Brot, die nicht in dieser Absicht vom Bäcker gesetzt waren, die Esslust besonders rege. Ebenso bei den Feigen, die, wenn sie überreif sind, aufbrechen, und bei den Oliven, die gerade wegen der Stellen geschätzt werden, wo sie nahe daran sind faul zu werden. Die niederhängenden Ähren, die Stirnfalte des Löwen, der Schaum am Munde des Ebers und manches andere dergleichen hat freilich keinen Reiz, wenn man es für sich betrachtet; aber weil es uns in den Werken der Natur und im Zusammenhange mit ihnen entgegentritt, erscheint es als eine Zierde und wirkt anziehend. Fehlt es uns also nur nicht an Empfänglichkeit und an Tiefe des Blicks in die Welt der Dinge, so werden wir kaum Etwas von solchen Nebenumständen auffinden, das uns nicht angenehm vorkäme. Ebenso werden wir dann aber auch z.B. wirkliche Tierkämpfe nicht weniger gern ansehen, als die Darstellungen, die uns Maler und Bildhauer davon geben; und unser keusches Auge wird mit gleichem Wohlgefallen auf der würdigen Gestalt des Greises wie auf der liebreizenden des Mädchens ruhen. Doch gehört dazu eben eine innige Vertrautheit mit der Natur und ihren Werken.

3. Hippokrates hat viele Krankheiten geheilt, dann ist er selbst an einer Krankheit gestorben. Die Chaldäer prophezeiten vielen den Tod, dann hat sie selber das Geschick ereilt. Alexander, Pompejus, Cäsar, nachdem sie so manche Stadt von Grund auf zerstört und in der Schlacht so viele Tausende ums Leben gebracht hatten, schieden sie selbst aus dem Leben. Heraklit, der über den Weltbrand philosophierte, starb an der Wassersucht, den Demokrit brachte das Ungeziefer um, den Sokrates ein Ungeziefer anderer Art. Kurz, zu einem jeden heißt es einmal: Du bist eingestiegen, gefahren, im Hafen eingelaufen, so steige nun aus! Geht es in ein anderes Leben, so gewiss in keines, das ohne Götter ist. Ist es aber ein Zustand ohne Empfindung, auch gut. Wir hören auf von Leid und Freude hingehalten zu werden und verlassen ein Behältnis von umso schlechterer Art, je edler der Eingeschlossene war; denn der ist Geist und göttlichen Wesens, jenes aber Staub und Materie.

4. Verschwende Deine Zeit nicht mit Gedanken über das, was andere angeht, es sei denn, dass Du jemand damit förderlich sein kannst. Du versäumst offensichtlich notwendigere Dinge, wenn Dich nichts weiter beschäftigt, als was der macht und aus welchem Grunde er so handelt, was er sagt oder will oder anstellt. So etwas zieht den Geist nur ab von der Beobachtung seiner selbst. Man muss alles Eitle und Vergebliche aus der Kette der Gedanken zu entfernen suchen, vornehmlich alle müßige und nichtswürdige Neugier, und sich nur an solche Gedanken gewöhnen, über die wir sofort, wenn uns jemand fragt, was wir gerade denken, gern und mit aller Offenheit Rechenschaft geben können, so dass man gleich sieht, hier ist alles lauter und gut, und so wie es einem Gliede der menschlichen Gesellschaft geziemt, hier wohnt nichts von Genusssucht und Lüsternheit, nichts von Zank oder Neid oder Misstrauen, nichts von alle dem, wovon der Mensch nur mit Erröten gestehen könnte, dass es seine Seele beschäftige. Und ein solcher Mensch – dem es, nun ja auch nicht an dem Streben nach Auszeichnung fehlen kann – ist ein Priester und Diener der Götter, der sich des Gottes in sich zu bedienen weiß,  dass ihn keine Lust beflecken, kein Schmerz verwunden, kein Stolz berücken, nichts Böses überhaupt ihn reizen kann. Er ist ein Held in jenem großen Kampfe gegen die Leidenschaft, und eingetaucht in das Wesen der Gerechtigkeit vermag er jegliches Geschick von ganzer Seele zu begrüßen. Ein solcher Mensch aber denkt selten und nur, wenn es das allgemeine Beste erfordert, an das, was andere sagen oder tun oder meinen. Sondern die eigene Pflicht ist der einzige Gegenstand seines Tuns, so wie das, was ihm das Schicksal gesponnen, im Gewebe des Ganzen der Hauptgegenstand seines Nachdenkens. Dort hält er Tugend, hier den guten Glauben. Und in der Tat ist jedem zuträglich, was sich mit ihm zuträgt nach dem Willen des Schicksals. Stets ist er eingedenk, dass alle Vernunftwesen einander verwandt sind, und dass es zur menschlichen Natur gehört für andere zu sorgen. Nach Ansehen strebt er nur bei denen, die ein naturgemäßes Leben führen, da er ja weiß, wie die, die nicht so leben sind, was und mit wem sie zu Hause und außer Haus, am Tage und bei Nacht, ihr Wesen treiben. Das Lob derer also, die sich nicht selber zu genügen wissen, kann ihm nichts sein.

5. Tue nichts mit Widerwillen, nichts ohne Rücksicht auf das Gemeinwohl, nichts ungeprüft, nichts wobei Du noch Bedenken hast. Drücke Deine Gedanken aus ohne Ziererei. Sei kein Schwätzer und kein Vieltuer. Sondern mit einem Worte,  der Gott in Dir führe das Regiment, welchem Geschlecht, Alter, Beruf, welcher Abkunft und Stellung Du nun auch angehören magst, so dass Du immer in der Verfassung bist, wenn Du abgerufen werden solltest, gern und willig zu folgen. – Eidschwur und Zeugenschaft musst Du immer entbehren können. – Innerlich aber sei heiter, nicht bedürfend, dass die Hilfe von Außen Dir komme, auch nicht des Friedens bedürftig, den andere uns geben können. – Steh‘, heißt es, nicht: lass` Dich stellen!

6. Kannst Du im menschlichen Leben etwas Besseres finden als Gerechtigkeit, Wahrheit, Mäßigung, Tapferkeit oder mit einem Wort, als den Zustand der Seele, wo Du in Allein – was eine Sache der Vernunft und Selbstbestimmung ist –  mit Dir selbst, in dem aber, was ohne Dich geschieht, mit dem Schicksale zufrieden bist? Kannst Du, sage ich, etwas entdecken, das noch besser ist als dies, so wende Dich dem mit ganzer Seele zu und freue Dich, dass Du das Beste aufgefunden hast. Es sollte aber in Wahrheit nichts Besseres geben, als den in Dir wohnenden Gott, der Deine Begierden sich untertänig zu machen weiß, der die Gedanken prüft, den sinnlichen Empfindungen, wie Sokrates sagt, sich zu entziehen sucht, und der sich selbst den Göttern unterwirft und für das Wohl der Menschen Sorge trägt. Solltest Du finden, dass gegen dieses alles andere gering ist und verschwindet, so folge nun auch keiner anderen Stimme und lass in Deine Seele nichts eindringen, was, wenn es Dich einmal angezogen, an der ungeteilten Pflege jenes herrlichen Schatzes, Deines Eigentums, Dich hindert. Denn diesem Gute, dem Höchsten nach Wesen und Wirkung, irgendetwas anderes wie Ehre, Herrschaft, Reichtum, Genuss an die Seite setzen zu wollen, wäre Torheit, weil uns all dieses, selbst wenn wir es nur ein wenig anziehend finden, dann mit einem Male ganz in Beschlag nimmt und verführt. Darum sage ich, man solle einfach und unbedingt das Bessere wählen und ihm anhängen. Das Bessere ist aber auch immer zugleich das Zuträgliche, sei es deswegen, dass es uns gut ansteht als denkenden oder als empfindenden Wesen. Finden, wir nun Etwas, das uns als Vernunftwesen zu fördern verspricht, so müssen wir es festhalten und pflegen. Ist es aber nur unserem Empfinden vereinbar, so haben wir es mit Bescheidenheit und schlichtem Sinn hinzunehmen, und nur dafür zu sorgen, dass wir uns unser gesundes Urteil bewahren und fortgesetzt die Dinge gehörig prüfen. –

7. Bilde Dir nie ein, dass etwas gut für Dich sein könnte, was Dich nötigt, irgendwann einmal die Treue zu brechen, die Scham hintanzusetzen, jemanden zu hassen, argwöhnisch zu sein, in Verwünschungen auszubrechen, Dich zu verstellen oder Dinge zu begehren, bei denen man Vorhänge und verschlossene Türen braucht. Derjenige, welcher die Vernunft, seinen Genius und deren kultische Würdigung jederzeit die erste Rolle spielen lässt, wird nie zu einer Tragödie Anlass geben oder seufzen oder die Einsamkeit oder große Gesellschaft suchen, weder auf der Jagd noch auf der Flucht sein, und er wird leben im höchsten Sinne des Worts. Ob seine Seele auf lange oder kurze Zeit im Leibe eingeschlossen bleiben soll, kümmert ihn wenig; er würde, auch wenn er bald scheiden müsste, dazu ganz ebenso sich auf den Weg machen, wie wenn es gälte, irgendetwas anderes mit Anstand und mit edlem Wesen auszuführen; sondern wofür er durch das ganze Leben Sorge trägt, ist nur das, dass seine Seele sich stets in einem Zustande befinde, der einem in Bezug auf das Zusammenleben mit andern, angewiesenen vernünftigen Wesen geziemt.

8. In der Seele eines Menschen, der in Zucht und Schranken gehalten worden und so gehörig geläutert ist, findet man nun auch jene Wunden und Schäden nicht mehr, die so häufig unter einer gesunden Oberfläche heimlich fortwuchern. Nichts Knechtisches ist in ihm und nichts Geziertes; sein Wesen hat nichts besonders Verbindliches, aber auch nichts Abstoßendes; ihn drückt keine Schuld und Nichts, was ihn zu Heimlichkeiten nötigte. Auch hat ein solcher Mensch wirklich »vollendet«, wenn ihn das Schicksal ereilt, was man von andern oft nur mit demselben Rechte sagt, wie von dem Helden eines Dramas, dass er ein Tragischer sei, noch wie das Stück geendet hat.

9. Was die Fähigkeit zu urteilen und Schlüsse zu machen anbetrifft, so musst Du sie in Ehren halten. Denn es wohnt ihr die Kraft bei, zu verhüten, dass sich in Deiner Seele irgendeine Ansicht festsetze, welche widernatürlich ist oder einem vernunftbegabten Wesen unangemessen. Ihre Bestimmung ist, uns geistig unabhängig zu machen, den Menschen zugetan und den Göttern gehorsam.

10. Alles Übrige ist Nebensache. Das Wenige, was ich gesagt habe, reicht völlig hin. Dabei bleibe man sich bewusst, dass jeder eigentlich nur dem gegenwärtigen Augenblicke lebe. Denn alles Übrige ist entweder durchlebt oder in Dunkel gehüllt. Also ein Kleines ist es, was jeder lebt, und ein Kleines, wo er lebt – das Winkelchen Erde, und ein Kleines der Ruhm, den er hinterlässt, sei es auch der Größte, damit er sich forterbe in der Kette dieser Menschenkinder, die so geschwind sterben müssen und die nicht einmal sich selbst begreifen, geschweige denn den, der längst vor ihnen gestorben!

11. Den aufgestellten Maximen ist aber noch eine hinzuzufügen. Von jedem Gegenstande, der sich Deinem Nachdenken darbietet, suche Dir stets einen klaren und bestimmten Begriff zu machen, so dass Du weißt, was er an sich und was er nach allen seinen Beziehungen ist, damit Du ihn selbst sowohl wie seine einzelnen Momente nennen und bezeichnen kannst. Denn nichts erzeugt in dem Grade hohen Sinn und edle Denkungsart, als wenn man imstande ist, sich von jeder im Leben gemachten Erfahrung, dem Wesen ihres Gegenstandes und ihrer Vermittlung nach, Rechenschaft zu geben, und alle Begebenheiten so anzusehen, dass man bei sich überlegt, in welchem Zusammenhang sie erscheinen und welche Stelle sie in demselben einnehmen, welchen Wert sie für das Ganze haben und was sie dem Menschen bedeuten, diesem Bürger eines höchsten Reiches, zu dem sich die übrigen Reiche wie die einzelnen Häuser zu der ganzen Ortschaft verhalten; dass man weiß, was man jedes Mal vor sich hat, von wo es sich überliefert hat und wie lange es bestehen wird, und wie sich der Mensch dazu zu verhalten habe, ob milde oder tapfer, zweifelnd oder vertrauensvoll, sich hingebend oder in sich selbst ruhend; so dass man  von jedem Einzelnen sagen muss, entweder es kommt von Gott  oder es ist ein Stück jenes großen Gewebes, das das Schicksal spinnt, und so und so gefügt, oder endlich, dass es  von einem unsrer Genossen und Brüder kommt, der nicht gewusst hat, was naturgemäß ist. Du aber weißt es, und darum begegnest Du ihm, wie es das natürliche Gesetz der Gemeinschaft fordert, mit Liebe und Gerechtigkeit. Und auch in den gleichgültigen Dingen zeigst Du ein ihrem Wert entsprechendes Verhalten.

12.  Wenn Du der gesunden Vernunft folgst und bei dem, was Dir zu tun gerade obliegt, mit Eifer, Kraft und Liebe tätig bist, ohne dass Dich ein anderer Gedanke dabei leitet, als der, Dein Inneres rein zu erhalten, als solltest Du bald Deinen Geist aufgeben, so ist es recht. Wenn Du Dich auf diese Weise zusammennimmst und dabei weder zögerst noch eilst, sondern es Dir genügen lässt, an der Dir von  Natur aus zu Gebote stehenden Energie und an der Wahrhaftigkeit, die aus jedem Deiner Worte hervorleuchten muss, so wirst Du ein glückliches Leben führen. Und ich wüsste nicht, wer Dich daran hindern sollte.

13. Wie die Ärzte zu raschem Kurieren stets ihre Instrumente und Eisen zur Hand haben, so musst Du zum Zwecke der Erkenntnis göttlicher und menschlicher Dinge die Lehren der Philosophie in steter Bereitschaft halten, damit Du in allem, auch im Kleinsten, immer so handelst wie einer, der sich des Zusammenhanges beider bewusst ist. Denn Menschliches lässt sich ohne Beziehung auf Göttliches ebenso wenig richtig behandeln als umgekehrt.

14. Hör endlich auf, Dich selbst zu verwirren! Es ist nicht daran zu denken, dass Du dazu kommst, was Du Dir für spätere Zeiten Deines Lebens vorbehalten hattest, dies und jenes zu treiben und zu lesen und wieder hervorzusuchen. Darum gib solche törichte Pläne auf, und wenn Du Dich selber lieb hast, schaffe Dir – noch vermagst Du es – eiligst die Hilfe, derer Du bedarfst!

15. In manchem Wort, das unbedeutend scheint, liegt oft ein tieferer Sinn. Wie Mancher sagt: »Ich will doch sehen, was es gibt«, und denkt nicht daran, dass es dazu eines anderen Schauens bedarf, als des der Augen.

16. Leib, Seele, Geist – das war jene Dreiheit: der Leib mit seinen Empfindungen, die Seele mit ihren Begierden und der Geist mit seinen Erkenntnissen. Aber Bilder und Vorstellungen haben auch unsere Haustiere; von Begierden in Bewegung gesetzt werden auch die wilden Tiere oder Menschen, die nicht mehr Menschen sind, ein Phalaris, ein Nero; in allem sich vom dem Geiste, was vorteilhaft scheint, leiten zu lassen, ist auch die Sache solcher, welche das Dasein der Götter leugnen, welche das Vaterland verraten, welche die schändlichsten Dinge tun, sobald es nur niemand sieht. Wenn insofern also jenes etwas allen Gemeinsames ist, so bleibt als das dem Guten Eigentümliche nur übrig, das ihm vom Schicksal Bestimmte willkommen zu heißen, das Heiligtum in seiner Brust nicht zu entweihen, sich nicht durch die Mengen der Gedanken zu verwirren, sondern im Gleichmaß zu verharren, der Stimme des Gottes zu folgen, nichts zu reden wider die Wahrheit und nichts zu tun wider die Gerechtigkeit. Und dass man dabei ein einfaches, züchtiges und wohlgemutes Leben führt, daran sollte eigentlich niemand zweifeln. Geschähe es aber, wir würden deshalb doch keinem zürnen, noch von dem Wege weichen, der an das Ziel des Lebens führt, bei welchem wir unbefleckt, gelassen, wohlgerüstet und willig dem Schicksal gehorchend ankommen müssen.


Notizen zur Zeit. Mehr als Unfug. Von W.K. Nordenham

09. April 2012 | Kategorie: Artikel, Grass, Notizen zur Zeit

Stern.de 08.04.2012

Nach kritischem Gedicht: Israel lässt Grass nicht mehr einreisen.

Die Empörung über das Gedicht von Günter Grass hat jetzt handfeste Folgen: Der israelische Innenminister erklärt den deutschen Schriftsteller zur Persona non grata – und verhängt ein Einreiseverbot.

Literaturnobelpreisträger Günter Grass darf wegen seines israelkritischen Gedichts nicht mehr nach Israel einreisen. Die israelische Regierung erklärte ihn am Sonntag zur Persona non grata, bestätigte ein Sprecher des Innenministers Eli Jischai.

Die Sache ist zu ernst, um sie dem Boulevard und den Tagschreibern zu überlassen. Günter Grass darf also nicht mehr nach Israel reisen, was er wohl auch so nicht vorgehabt hätte, obwohl er doch nur eine abwegige, unsinnige Meinung geäußert hat, die des Aufhebens nicht wert gewesen wäre. Manchmal jedoch hat Dummschwätzerei unerwartete Folgen, denn offensichtlich ist es Herrn Grass gelungen, ein ganzes Land, bzw. dessen Regierung persönlich zu beleidigen. Demokratien pflegen mit abweichenden Meinungen minderer Qualität souveräner umzugehen und sich mit dem Wort zu wehren, ohne ordnungspolitische Mittel bemühen zu müssen. Übertriebene Empfindlichkeit und überzogene Reaktionen kennt man gemeinhin nur von totalitären Regimen. Man könnte die israelische Reaktion mit Fug und Recht als die Fortsetzung des groben Unfugs ansehen, den Herr Grass verzapft hat, gäbe es da nicht die Worte des großen Mahners Leibowitz, der hier zitiert sei. Im Jahre 1987 beschrieb Leibowitz die Situation eines Staates, der am siebten Tag des Sechs-Tage-Krieges mit der Besetzung eroberten Landes sein Gesicht veränderte. Er  sah einen Staat   geprägt von den Notwendigkeiten der Geheimpolizei und des Geheimdienstes  voraus, der sich zwangsläufig  verändern müsste.

„Mein politisches Programm fordert die Teilung des Landes zwischen dem jüdischen und palästinensischen Volk. Ich lehne den Autonomieplan in aller Schärfe ab, den dieser Plan ist nichts anderes  als ein heuchlerischer und gemeiner Trick um die jüdische Gewaltherrschaft über das palästinensische Volk  aufrechtzuerhalten. (…)

Wir müssen uns damit abfinden, dass weder Nablus, noch Hebron und Jericho  zu unserem Hoheitsgebiet gehören werden, die Araber aber werden sich damit abfinden müssen, dass Galiläa nicht zu ihrem Staat gehören wird. Wenn beide Seiten einer derartigen Teilung nicht zustimmen, dann wird es keine Lösung geben – dann gehen beide Völker einer Katastrophe entgegen. (…)

Die Welt bringt heute dem Staat Israel keinerlei Achtung und Wertschätzung mehr entgegen, von aufrichtiger Sympathie erst gar nicht zu sprechen, so wie es in den ersten Jahren nach der Staatsgründung in weiten Kreisen üblich war. Aber noch viel entscheidender ist, dass der Staat Israel dem meisten Juden selbst immer fremder wird – und gerade nicht den schlechtesten unter ihnen –, weil der Staat in seinem heutigen Zustand wirklich keinen Lorbeerkranz für das Jüdische Volk darstellt.  Der ehemalige Ministerpräsident Jitzhak Rabin hat einmal in einem Moment geistiger Erleuchtung gesagt: Warum ist es eine Katastrophe, wenn wir nach Etz-Zion (ein Block jüdischer Siedlungen in Westjordanien, zurzeit unter israelischer Herrschaft) mit einem jordanischen Visum fahren? Wenn wir das Land teilen, dann werden die Einwohner von Etz-Zion an ihrem Platz bleiben, mitsamt der großen Talmudschule, und es wird dort zahlreiche jüdische Siedlungen geben, so wie es arabische Dörfer  in Israel gibt. (…)

(…) Heute bin ich sicherlich gegen diese Siedlungen, denn sie verhindern die Teilung des Landes. Das ist ja auch Zweck und Absicht dieser Siedlungen. Aber, wenn die Teilung durchgeführt ist, und beide Staaten in friedlicher Koexistenz leben, dann sehe ich durchaus die Möglichkeit für eine Errichtung von jüdischen Siedlungen  jenseits der Grenzlinie. Wenn wir den Weg, auf dem wir uns befinden fortsetzen – dann wird das zum Untergang des Staates Israel führen, und zwar im Zeitraum von ein paar Jahren, dazu braucht es noch nicht einmal Generationen. Im Inneren wird Israel ein Staat mit Konzentrationslagern für Menschen wie mich werden, sobald Vertreter der rechtsnationalen Parteien (…) an die Macht kommen. (…)“

Eine Gesellschaft unter  andauernden Belagerungs und Besetzung muss sich verändern. Dieser Zustand dauert für die israelische Gesellschaft seit schon fünfundvierzig Jahren an und hat inzwischen bis zu einer freiwilligen Einmauerung geführt. Es gibt seither kaum noch Attentate, aber was ist mit der Freiheit? Der Freiheit für Andersdenkende? Religiöse Fanatiker verwischen die Trennung von Kirche und Staat.  Avigdor Liebermann darf auf Grund seiner Äußerungen schon als Faschist betrachtet werden, und er ist nicht allein.  Die Regierung Israels hat empfindlicher, reaktionärer und intoleranter reagiert, als es von einem demokratischen Gemeinwesen zu erwarten gewesen wäre. Anstatt den Unfug eines Grass zu ignorieren, folgt sie dem Muster totalitärer Staaten und gibt sich hochoffiziell beleidigt. Das ist mehr als Unfug. Leibowitz hätte es nicht überrascht, und mich macht es traurig. Auf welchem Wege ? Israel muss umkehren und Frieden mit sich machen, indem es ihn mit den anderen macht –  im eigenen Interesse, bevor es vollends in  Faschismus abgleitet. Und wenn die Palästinenser nicht wollen wie gewöhnlich und auch das Lebensrecht Israels nicht anerkennen, dann muss man raus aus der Westbank –  auf eigene Faust. Dann kann man sich um sich selbst kümmern und da es niemand sonst tut, die Welt vor der Bedrohung durch eine iranische Atombombe bewahren.


Notizen zur Zeit. Grober Unfug. Von W.K. Nordenham

06. April 2012 | Kategorie: Artikel, Grass, Notizen zur Zeit

Welt online  6.4.2012

Hamburger Autorenvereinigung

Grass-Gedicht „Viel Lärm um nichts“

Hamburg (dpa/lno) – Die Hamburger Autorenvereinigung rät in der kontroversen Debatte um das jüngste Gedicht von Günter Grass zu mehr Gelassenheit. «Man sollte alles ein wenig tiefer hängen», sagte der Vorsitzende der Vereinigung, Gino Leineweber, am Freitag in Hamburg. «Betrachtet man das sogenannte Gedicht ohne den Namen des Verfassers, wäre es dieser Kunstform kaum zugeordnet worden. Es ist literarisch ein Nichts, dessen Bewertung die Mühe nicht lohnt.» Wenn Günter Grass seinen Ruf schädige, sei das bedauerlich für einen Schriftsteller, der Großes geleistet habe, betrachte man sein gesamtes künstlerisches Schaffen.

Der Hamburger Autorenvereinigung ist zu danken, auch dafür, dass sie das  Lebenswerk von dem „Gedicht“ trennt.  Wenn sie meint, eine Bewertung lohne  d e r  Mühe nicht, so trifft das zu, unterschlägt aber die Wirkung der Grass-Polemik auf  antisemitische Wirrköpfe und Schweinehunde im Geiste, deren Gebell aus dumpfen Tiefen umgehend herauftönt und die deutsch-reflexartig den Täter für das Opfer halten möchten. Darin  gibt es seit den Tagen des SS-Mannes Grass eine stillschweigende Übereinstimmung im Lande der Vollstrecker, die  sich mit übertreibender Kritik am Opfer  zu exkulpieren versucht. Welche Atombombe wir man fürchten müssen? Die israelische oder die Iranische? Das zu verwechseln erfordert eine betrrächtliche Atherosklerose.  Die Folgen hätten einem Günter  Grass bewusst gewesen sein müssen. Dennoch hat er sich geäußert. Aber so wenig ich zum Beispiel von einem Bäcker etwas über Fleischwaren erfahren möchte oder umgekehrt vom Metzger über  Backwaren, so wenig will ich von einem Schriftsteller pseudopolitisch , ja was eigentlich, informiert, belehrt, belästigt, ungebeten mit dem Wort überfallen  werden? Es ist von Allem etwas dabei. Profundere Köpfe haben sich zu dem Thema geäußert, allen voran sei  Jeschajahu Leibowitz genannt, der schon 1987 mit vierundachtzig Jahren mehr wusste, als Günther Grass bis heute offenbar vergessen hat.

Dass Selbstgerechtigkeit als  einzig verwirklichte Gerechtigkeit zu gelten hat, ist weder neu noch überraschend. Aber es stößt  in diesem Falle  besonders unangenehm auf, wenn Herr Grass sich nämlich nach der Veröffentlichung seiner Polemik, als zu Recht Kritisierter, selbstredend in  die Opferrolle begibt und sich darin gefällt,  plötzlich das ein oder andere an seinem Text zu relativieren, der  doch „mit letzter Tinte“  in die Tastatur getippt, als ultima ratio angelegt war und dem nun minima ratio nachgewiesen wird. Denn was da als „Gedicht“ daherkommt, erfüllt weder nach Form noch nach Inhalt die Erwartung oder den Anspruch, den man nur an einen Prosatext des noblen Preisträgers stellen dürfte. Es erweist sich , dass er vom Subjekt, über das er schreibt, keine Ahnung hat und daher objektiv nur fehlen kann, und er beweist sich daher weniger als Antisemit, denn als alter Simpel. Karl Kraus hätte ihn unter die „Mausis“  eingereiht. Der Herr macht sich eben nur mausig, und der bislang bemerkenswerteste Vorschlag, auf den Unsinn zu reagieren, stammt von dem scharfsinnigen Menschen Sebastian K., der vorschlug, Günter Grass anzuzeigen, wegen groben Unfugs nämlich!


Apokalypse. Von Karl Kraus

02. April 2012 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Notizen zur Zeit, Zeitzeugnisse/Zeitzeugen

Es gibt eine Aktualität, die zeitlos ist. Die Frage,  warum Karl Kraus von Jahr zu Jahr lebendiger wird, kann von niemandem besser beantwortet werden als im Folgenden von ihm selbst. Haufenweise haben sich an ihm die Geister, Plagegeister und Ungeister abgearbeitet und mit dem Versuch ihres Gegenbeweises den Beweis geführt, dass er  recht hat. W.K.Nordenham

DIE FACKEL

Nr. 261—62 WIEN, 13. OKTOBER 1908 X. JAHR


Apokalypse.

(Offener Brief an das Publikum.)

»Den Überwinder will ich genießen
lassen von dem Lebensholze, das in
meines Gottes Paradiese steht.«

Am 1. April 1909 wird aller menschlichen Voraussicht nach die ‚Fackel‘ ihr Erscheinen einstellen. Den Weltuntergang aber datiere ich von der Eröffnung der Luftschiffahrt.

Eine Verzögerung beider Ereignisse aus äußeren Gründen könnte an meiner Berechtigung nichts ändern, sie vorherzusagen, und nichts an der Erkenntnis, dass beide ihre Wurzel in demselben phänomenalen Übel haben: in dem fieberhaften Fortschritt der menschlichen Dummheit.

Es ist meine Religion, zu glauben, dass Manometer auf 99 steht. An allen Enden dringen die Gase aus der Welthirnjauche, kein Atemholen bleibt der Kultur und am Ende liegt eine tote Menschheit neben ihren Werken, die zu erfinden ihr so viel Geist gekostet hat, dass ihr keiner mehr übrig blieb, sie zu nützen.

Wir waren kompliziert genug, die Maschine zu bauen, und wir sind zu primitiv, uns von ihr bedienen zu lassen. Wir treiben einen Weltverkehr auf schmalspurigen Gehirnbahnen.

Aber siehe, die Natur hat sich gegen die Versuche, eine weitere Dimension für die Zwecke der zivilisatorischen Niedertracht zu missbrauchen, aufgelehnt und den Pionieren der Unkultur zu verstehen gegeben, dass es nicht nur Maschinen gibt, sondern auch Stürme! »Hinausgeworfen ward der große Drache, der alle Welt verführt, geworfen ward er auf die Erde … Er war nicht mächtig genug, einen Platz im Himmel zu behaupten.« Die Luft wollte sich verpesten, aber nicht »erobern« lassen. Michael stritt mit dem Drachen, und  Michel sah zu. Vorläufig hat die Natur gesiegt. Aber sie wird als die Klügere nachgeben und einer ausgehöhlten Menschheit den Triumph gönnen, an der Erfüllung ihres Lieblingswunsches zugrundezugehen. Bis zum Betrieb der Luftschiffahrt geduldet sich das Chaos, dann kehrt es wieder! Dass Montgolfieren vor hundert Jahren aufstiegen, war durch die dichterische Verklärung, die ein Jean Paul davon gab, gerechtfertigt für alle Zeiten; aber kein Gehirn mehr, das Eindrücke zu Bildern formen könnte, wird in den Tagen leben, da eine höhenstaplerische Gesellschaft zu ihrem Ziel gelangen und der Parvenü ein Maßbegriff sein wird. Es ist ein metaphysisches Bubenspiel, aber der Drache, den sie steigen lassen, wird lebendig. Man wird auf die  Gesellschaftsordnung spucken können, und davon würde sie unfehlbar Schaden nehmen, wenn ihr nicht schlimmere Sendung zugedacht wäre …

Die Natur mahnt zur Besinnung über ein Leben, das auf Äußerlichkeiten gestellt ist. Eine kosmische Unzufriedenheit gibt sich allenthalben kund, Sommerschnee und Winterhitze demonstrieren gegen den Materialismus, der das Dasein zum Prokrustesbett macht, Krankheiten der Seele als Bauchweh behandelt und das Antlitz der Natur entstellen möchte, wo immer er ihrer Züge gewahr wird: an der Natur, am Weibe und am Künstler. Einer Welt, die ihren Untergang ertrüge, wenn ihr nur seine kinematographische Vorführung nicht versagt bleibt, kann man mit dem Unbegreiflichen nicht bange machen. Aber unsereins nimmt ein Erdbeben als Protest gegen die Einrichtungen der Demokratie ohneweiters hin und zweifelt keinen Augenblick an der Möglichkeit, dass ein Übermaß menschlicher Dummheit die Elemente empören könnte.

Die Tragik einer gefallenen Menschheit, die für das Leben in der Zivilisation viel schlechter taugt als eine Jungfer fürs Bordellwesen, und die sich mit der Moral über die Syphilis trösten möchte, ist verschärft durch den unaufhörlichen Verzicht auf alle seelische Erneuerung. Ihr Leib ist ethisch geschmiert und ihr Hirn ist eine camera obscura, die mit Druckerschwärze ausgepicht ist. Sie möchte vor der Presse, die ihr das Mark vergiftet hat, in die Wälder fliehen, und findet keine Wälder mehr. Wo einst ragende Bäume den Dank der Erde zum Himmel
hoben, türmen sich Sonntagsauflagen. Hat man nicht ausgerechnet, dass eine amerikanische Zeitung für eine einzige Ausgabe eine Papiermasse braucht, für deren Herstellung zehntausend Bäume von zwanzig Metern Höhe gefällt werden müssen? Es ist schneller nachgedruckt als nachgeforstet. Wehe, wenn es so weit kommt, dass die Bäume bloß täglich zweimal, aber sonst keine Blätter tragen! »Und aus dem Rauche kamen Heuschrecken über die Erde, welchen Macht gegeben wurde, wie die Skorpionen Macht haben … Menschen ähnlich waren ihre Gesichter … Und es wurde ihnen geboten, weder das Gras auf der Erde, noch etwas Grünes, noch irgend einen Baum zu beschädigen, sondern bloß die Menschen, die nicht haben das Siegel Gottes an ihren Stirnen.« Aber sie beschädigten die Menschen, und schonten die Bäume nicht.

Da besinnt sich die Menschheit, dass ihr der Sauerstoff vom Liberalismus entzogen wurde und rennt in den Sport. Aber der Sport ist ein Adoptivkind des Liberalismus, er trägt schon auf eigene Faust zur Verdummung der Familie bei. Kein Entrinnen! Auch wenn sie auf dem Misthaufen des Lebens Tennis spielen, die Schmutzflut kommt immer näher und das Sausen aller  Fabriken übertönt so wenig ihr Geräusch wie die Klänge der Symphoniekonzerte, zu denen die ganz Verlassenen ihre Zuflucht nehmen.

Inzwischen tun die Politiker ihre Pflicht. Es sind Märtyrer ihres Berufs. Ich habe gehört, dass Österreich Bosnien annektiert hat. Warum auch nicht? Man will alles beisammen haben, wenn alles aufhören soll. Immerhin ist solch ein einigend Band eine gewagte Unternehmung, — in Amerika, wo man uns so oft verwechselt hat, heißt es dann wieder, Bosnien habe  Österreich annektiert. Erst die Auflösung unseres Staates, von der in der letzten Zeit so viel die Rede war und die sich separat vollziehen wird, weil die anderen Weltgegenden nicht in solcher Gesellschaft zugrundegehen wollen, dürfte allem müßigen Gerede ein Ende machen. Aber es ist eine weitblickende Politik, den Balkan durcheinanderzubringen. Dort sind die Reserven zur Herstellung des allgemeinen Chaos. Die Wanzen mobilisieren schon gegen die europäische Kultur.

Die Aufgabe der Religion, die Menschheit zu trösten, die zum Galgen geht, die Aufgabe der Politik, sie lebensüberdrüssig zu machen, die Aufgabe der Humanität, ihr die Galgenfrist  abzukürzen und gleich die Henkermahlzeit zu vergiften.

Durch Deutschland zieht ein apokalyptischer Reiter, der für viere ausgibt. Er ist Volldampf voraus in allen Gassen. Sein Schnurrbart reicht von Aufgang bis Niedergang und von Süden gen Norden. »Und dem Reiter ward Macht gegeben, den Frieden von der Erde zu nehmen, und dass sie sich einander erwürgten.« Und alles das ohne Absicht und nur aus Lust am Fabulieren.

Dann aber sehe ich ihn wieder als das Tier mit den zehn Hörnern und den sieben Köpfen und einem Maul gleich dem Rachen eines Löwen. »Man betete das Tier an und sprach: Wer ist dem Tiere  gleich? Und wer vermag mit ihm zu streiten? Ein Maul ward ihm zugelassen, große Dinge zu reden.«

Neben diesem aber steht die große Hure, »die mit ihrer Hurerei die Welt verdarb«. Indem sie sich allen, die da wollten, täglich zweimal hingab. »Von dem Wollustwein ihrer Unzucht haben alle Völker getrunken, und die Könige der Erde buhlten mit ihr.«

Wie werden die Leute aussehen, deren Großväter Zeitgenossen des Max Nordau gewesen sind? Bei Tage Börsengeschäfte abgewickelt und am Abend Feuilletons gelesen haben? Werden sie aussehen?! Weh dir, dass du der Enkel eines alten Lesers der ‚Neuen Freien Presse‘ bist! Aber so weit lässt es die Natur nicht kommen, die ihre Beziehungen zur Presse streng nach deren Verhalten gegen die Kultur eingerichtet hat. Einer journalisierten Welt wird die Schmach eines lebensunfähigen Nachwuchses erspart sein: das Geschlecht, dessen Fortsetzung der Leser mit Spannung entgegensieht, bleibt im Übersatz. Die Schöpfung versagt das Imprimatur. Der intellektuelle Wechselbalg, den eine Ratze an innerer Kultur beschämen müsste, wird abgelegt. Der Jammer ist so groß, dass er gleich den Trost mitbringt, es komme nicht so weit. Nein, der Bankert aus Journalismus und Hysterie pflanzt sich nicht fort! Über die Vorstellung, dass es ein Verbrechen sein soll, der heute vorrätigen Menschensorte die Frucht abzutreiben, lacht ein Totengräber ihrer Missgeburten. Aber die Natur arbeitet schon  darauf hin, den Hebammen jede Versuchung zu ersparen! Die Vereinfachung der Gehirnwindungen, die ein Triumph der liberalen Bildung ist, wird die Menschen selbst zu jener  geringfügigen Arbeit unfähig machen, deren Leistung die Natur ihnen eigens schmackhaft gemacht hat. So könnte die Aufführungsserie des »Walzertraums« einen jähen Abbruch erfahren!

Aber glaubt man, dass die Erfolgsziffern der neuen Tonwerke ohne Einfluss auf die Gestaltung dieser Verhältnisse bleiben werden? Dass sie noch vor zwanzig Jahren möglich gewesen  wären? Eine Welt von Wohllaut ist versunken, und ein krähender Hahn bleibt auf dem Repertoire; der Geist liegt auf dem Schindanger, und jeder Dreckhaufen ist ein Kristallpalast … Hat  man den Parallelismus bemerkt, mit dem jedesmal ein neuer Triumph der »Lustigen Witwe« und ein Erdbeben gemeldet werden? Wir halten bei der apokalyptischen 666 … Die  misshandelte Urnatur grollt; sie empört sich dagegen, dass sie die Elektrizität zum Betrieb der Dummheit geliefert haben soll. Habt ihr die Unregelmäßigkeiten der Jahreszeiten  wahrgenommen? Kein Frühling kommt mehr, seitdem die Saison mit solcher Schmach erfüllt ist!

Unsere Kultur besteht aus drei Schubfächern, von denen zwei sich schließen, wenn eines offen ist, nämlich aus Arbeit, Unterhaltung und Belehrung. Die chinesischen Jongleure  bewältigen das ganze Leben mit einem Finger. Sie werden also leichtes Spiel haben. Die gelbe Hoffnung! … Unseren Ansprüchen auf Zivilisation würden allerdings die Schwarzen  genügen. Nur, dass wir ihnen in der Sittlichkeit über sind. In Illinois hat es eine weiße Frau mit einem Neger gehalten. Das Verhältnis blieb nicht ohne Folgen. »Nachdem eine Menge Weißer zahlreiche Häuser im Negerviertel in Brand gesteckt und verschiedene Geschäfte erbrochen hatten, ergriffen sie einen Neger, schossen zahlreiche Kugeln auf ihn ab und  knüpften die Leiche an einem Baum auf. Die Menge tanzte dann unter ungeheurem Jubelgeschrei um die Leiche herum.« In der Sittlichkeit sind wir ihnen über.

Humanität, Bildung und Freiheit sind kostbare Güter, die mit Blut, Verstand und Menschenwürde nicht teuer genug erkauft sind. Nun, bis zu dem Chinesentraum versteige ich mich  nicht: aber einem gelegentlichen Barbarenangriff auf die Bollwerke unserer Kultur, Parlamente, Redaktionen und Universitäten, könnte man zujauchzen, wenn er nicht selbst eine   politische Sache wäre, also eine Gemeinheit. Als die Bauern eine Hochschule stürmten, wars nur der andere Pöbel, der seines Geistes Losung durchsetzen wollte. Die Dringlichkeit, die Universitäten in Bordelle zu verwandeln, damit die Wissenschaft wieder frei werde, sieht keine politische Partei ein. Aber die Professoren würden als Portiers eine Anstellung finden,  weil die Vollbärte ausgenützt werden können und die Würde nun einmal da ist, und die Kollegiengelder wären reichlich hereingebracht.

»Den Verzagten aber, und Ungläubigen, und Verruchten, und Totschlägern, und Götzendienern, und allen Lügnern, deren Teil wird sein in dem Pfuhl, der mit Feuer und Schwefel brennt«.

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Was vermag nun ein Satirenschreiber vor einem Getriebe, dem ohnedies in jeder Stunde ein Hohngelächter der Hölle antwortet? Er vermag es zu hören, dieweil die anderen taub sind. Aber wenn er nicht gehört wird? Und wenn ihm selbst bange wird?

Er versinkt im Heute und hat von einem Morgen nichts zu erwarten, weil es kein Morgen mehr gibt, und am wenigsten eines für die Werke des Geistes. Wer heute noch eine Welt hat, mit dem muss sie untergehen.

Umso sicherer, je länger die äußere Welt Stand hält. Der wahre Weltuntergang ist die Vernichtung des Geistes, der andere hängt von dem gleichgiltigen Versuch ab, ob nach Vernichtung des Geistes noch eine Welt bestehen kann.

Darum glaube ich einige Berechtigung zu dem Wahnwitz zu haben, dass die Fortdauer der ‚Fackel’ ein Problem bedeute, während die Fortdauer der Welt bloß ein Experiment sei.

Die tiefste Bescheidenheit, die vor der Welt zurücktritt, ist in ihr als Größenwahn verrufen. Wer von sich selbst spricht, weil kein anderer von ihm spricht, ist lästig. Wer niemand mit  seiner Sache zu belasten wagt und sie selbst führt, damit sie nur einmal geführt sei, ist anmaßend. Und dennoch weiß niemand besser als ich, dass mir alles Talent fehlt, mitzutun, dass  mich auf jedem Schritt der absolute Mangel dessen hemmt, was unentbehrlich ist, um sich wenigstens im Gedächtnis der Mitlebenden zu erhalten, der Mangel an Konkurrenzfähigkeit. Aber ich weiß auch, dass der Größenwahn vor der Bescheidenheit den Vorzug der Ehrlichkeit hat und dass es eine untrügliche Probe auf seine Berechtigung gibt: seinen künstlerischen  Ausdruck. Darüber zu entscheiden, sind freilich die wenigsten Leser sachverständig, und man ist auch hier wieder auf den Größenwahn angewiesen. Er sprach: Selbstbespiegelung ist erlaubt, wenn das Selbst schön ist; aber sie erwächst zur Pflicht, wenn der Spiegel gut ist. Und jedenfalls ist es sogar ehrlicher, zum dionysischen Praterausrufer seiner selbst zu werden,  als sich von dem Urteil der zahlenden Kundschaft abhängig zu machen. Die Journalisten sind so bescheiden, die Keime geistiger Saat für alle Zeiten totzutreten. Ich bin  größenwahnsinnig: ich weiß, dass meine Zeit nicht kommen wird.

Meine Leser! Wir gehen jetzt ins zehnte Jahr zusammen, wir wollen nicht nebeneinander älter werden, ohne uns über die wichtigsten Missverständnisse geeinigt zu haben.

Die falsche Verteilung der Respekte, die die Demokratie durchführte, hat auch das Publikum zu einer verehrungswürdigen Standesperson gemacht. Das ist es nicht. Oder ist es bloß für  den Sprecher, dem es die unmittelbare Wirkung des Worts bestätigt, nicht für den Schreibenden; für den Redner und Theatermann, nicht für den Künstler der Sprache. Der  Journalismus, der auch das geschriebene Wort an die Pflicht unmittelbarer Wirkung band, hat die Gerechtsame des Publikums erweitert und ihm zu einer geistigen Tyrannis Mut  gemacht, der sich jeder Künstler selbst dann entziehen muss, wenn er sie nur in den Nerven hat. Die Theaterkunst ist die einzige, vor der die Menge eine sachverständige Meinung hat  und gegen jedes literarische Urteil behauptet. Aber das Eintrittsgeld, das sie bezahlt, um der Gaben des geschriebenen Wortes teilhaft zu werden, berechtigt sie nicht zu Beifalls- oder  Missfallsbezeigungen. Es ist bloß eine lächerliche Vergünstigung, die es dem einzelnen ermöglicht, um den Preis eines Schinkenbrots ein Werk des Geistes zu beziehen. Dass die Masse  der zahlenden Leser den Gegenwert der schriftstellerischen Leistung bietet, so wie die Masse der zahlenden Hörer den des Theatergenusses, wäre mir schon eine unerträgliche Fiktion.  Aber gerade sie schlösse ein Zensurrecht des einzelnen Lesers aus und ließe bloß Kundgebungen der gesamten Leserschar zu. Der vereinzelte Zischer wird im Theater überstimmt, aber  der Briefschreiber kann ohne akustischen Widerhall seine Dummheit betätigen. Worunter ein Schriftsteller, der mit allen Nerven bei seiner Kunst ist, am tiefsten leidet, das ist die  Anmaßung der Banalität, die sich ihm mit individuellem Anspruch auf Beachtung aufdrängt. Sie schafft ihm das furchtbare Gefühl, dass es Menschen gibt, die sich für den Erlag zweier  Nickelmünzen an seiner Freiheit vergreifen wollen, und seine Phantasie öffnet ihm den Prospekt einer Welt, in der es nichts gibt als solche Menschen. Dagegen empfände er tatsächlich  den organisierten Einspruch der Masse als eine logische Beruhigung, als die Ausübung eines wohlerworbenen Rechtes, als die kontraktliche Erfüllung einer Möglichkeit, auf die er  vorbereitet sein musste und die demnach weder seinem Stolz noch seinem Frieden ein Feindliches zumutet. Wenn sich die Enttäuschungen, die meine Leser in den letzten Jahren an mir  erleben, eines Tages in einem Volksgemurmel Luft machten, ich würde mich in diesem eingerosteten Leben an der Bereicherung der Verkehrsformen freuen. Aber dass ein Chorist der öffentlichen Meinung sich vorschieben darf, meine Arie stört und dass ich die Nuancen einer Stupidität kennen lernen muss, die doch nur in der Einheit imposant wirkt, ist wahrhaft grässlich. Es ist eine demokratische Wohlfahrtsinstitution, dass der Leser seine Freiheit gegen den Autor hat und dass seine Privilegien über das Naturrecht hinausreichen, den Bezug  einer unangenehmen Zeitschrift aufzugeben; dass Menschen, mit denen ich wirklich nicht mehr als Essen und Verdauen und auch dies nur ungern gemeinsam habe, es wagen dürfen, mir ihr Missfallen an meiner »Richtung« kundzutun oder gar zu motivieren. Es schafft bloß augenblickliche Erleichterung, wenn ich in solchem Fall sofort das Abonnement auf die  ‚Fackel‘ aufgebe und die Entziehung, so weit sie möglich ist, durchführen lasse. Deprimierend bleibt die Zähigkeit, mit der diese Leute auf ihrem Recht bestehen, meine Feder als die Dienerin ihrer Lebensauffassung und nicht als die Freundin meiner eigenen zu betrachten; vernichtend wirkt die Hoffnung, die sie noch am Grabe ihrer Wünsche aufpflanzen, das lästige  Zureden ihrer stofflichen Erwartungen. Wie weit es erst, wie unermesslich weit es mich all den Sachen entrückt, die zu vertreten oder zu zertreten einst mir inneres Gebot war, ahnt  keiner. Dem Publikum gilt die Sache. Ob ich mich über oder unter die Sache gestellt habe, das zu beurteilen, ist kein Publikum der Erde fähig, aber wenn es verurteilt, dass ich außerhalb  der Sache stehe, so ist es berechtigt, schweigend seine Konsequenz zu ziehen.

Dass ich die publizistische Daseinsberechtigung verloren habe, ist hoffentlich der Fall; die Form periodischen Erscheinens dient bloß meiner Produktivität, die mir in jedem Monat ein Buch schenkt. Zieht mir der redaktionelle Schein dauernd Missverständnisse zu, bringt er mir Querulanten ins Haus und die unerträglichen Scharen jener, denen Unrecht geschieht und denen ich nicht helfen kann, und jener, die mir Unrecht tun und denen ich nicht helfen will, so mache ich ihm ein Ende. Jetzt ist die Zeit zur Aussprache gekommen, aber ich bin immer  noch nachgiebig genug, den Lesern die Entscheidung zu überlassen. Ich betrüge ihren Appetit, indem ich ihre Erwartung, Pikantes für den Nachtisch zu kriegen, enttäusche und ihnen  Gedanken serviere, die der Nachtruhe gefährlich sind. Mich selbst bedrückt ihr Alp; denn es ist nicht meine Art, ahnungslose Gäste zu misshandeln. Aber sie sollen im zehnten Jahre  nicht sagen, dass sie ungewarnt hereingefallen sind. Wer dann noch mit dem Vorurteil zu mir kommt, dass ich ein Enthüller stofflicher Sensationen sei, dass ich berufsmäßig die Decken von den Häusern hebe, um lichtscheue Wahrheiten oder gar nur versteckte Peinlichkeiten emporzuziehen, der hat das Kopfweh seiner eigenen Unvorsichtigkeit zuzuschreiben. Ein Teil dieser Leser will die Wahrheit hören um ihrer selbst willen, der andere will Opfer bluten sehen. Das Instinktleben beider Gruppen ist plebejisch. Aber ich täusche sie, weil meine Farbe  rot ist und mit der Verheißung lockt, zu erzählen, wie sichs ereignet hat. Dass ich heimlich in eine Betrachtungsweise abgeglitten bin, die als das einzige Ereignis gelten lässt: wie ichs erzähle, — das ist die letzte Enthüllung, die ich meinen Lesern schuldig bin. Ich täuschte, und war allemal tief betroffen, allemal wusste ich, dass ich mir dergleichen nicht zugetraut  hätte, aber ich blieb dabei, Aphorismen zu sagen, wo ich Zustände enthüllen sollte. So schmarotze ich nur mehr an einem alten Renommee.

Glaubt einer, dass es auf die Dauer ein angenehmes Bewusstsein ist? Nun, ich wollte den Lesern helfen und ihnen den Weg zeigen, der zur Entschädigung für den Ausfall an Sensationen führt. Ich wollte sie zu einem Verständnis für die Angelegenheiten der deutschen Sprache erziehen, zu jener Höhe, auf der man das geschriebene Wort als die naturnotwendige Verkörperung des Gedankens und nicht bloß als die gesellschaftspflichtige Hülle der Meinung begreift. Ich wollte sie entjournalisieren. Ich riet ihnen, meine Arbeiten zweimal zu lesen,  damit sie auch etwas davon haben. Sie waren entrüstet und sahen im nächsten Heft nur nach, ob nicht doch etwas gegen die Zustände bei der Länderbank darin stände … Nun wollen wir sehen, wie lange das noch weiter geht. Ich sage, dass der einzige öffentliche Übelstand, den noch aufzudecken sich lohnt, die Dummheit ist. Das Publikum wünscht so allgemeine Themen nicht und schickt mir Affären ins Haus. Aber wie selten ist es, dass das Interesse der Skandalsucht mit meinen separatistischen Bestrebungen zusammentrifft! Wenns  einen Fall Riehl gibt, verzeiht mir das Publikum die Gedanken, die ich mir dazu mache, und freut sich, dass es einen Fall Riehl gibt. Es ist ein schmerzliches Gefühl, eine Wohltat nicht zu verdienen; aber es ist geradezu tragisch, sein eigener Parasit zu sein.

Denn das ist es ja eben, dass von meinem Wachstum, welches die Reihen meiner Anhänger so stark gelichtet hat, die Zahl meiner Leser im Durchschnitt nicht berührt wurde, und dass  ich zwar kein guter Geschäftsmann bin, so lange ich die ‚Fackel‘ bewahre, aber gewiss ein schlechter, wenn ich sie im Überdruss hinwerfe. Und weil es toll ist, auf die Flucht aus der  Aktualität Wiener Zeitungsleser mitzunehmen, so ist es anständig, sie zeitweise vor die Frage zu stellen, ob sie sich die Sache auch gründlich überlegt haben.

In Tabakgeschäften neben dem Kleinen Witzblatt liegen zu müssen und neben all dem tristen Pack, das mit talentlosen Enthüllergebärden auf den Kunden wartet, es wird immer härter und es ist eine Schmach unseres Geisteslebens, an der ich nicht allzu lange mehr Teil haben möchte. Um den wenigen, die es angeht, zugänglich zu sein, lohnt es nicht, sich den vielen  Suchern der Sensation hinzugeben. Im besten Falle dünke ich diesen ein Ästhet. Denn in den allgemeinen, gleichen und direkten Schafsköpfen ist jeder ein Ästhet, der nur durch  staatlichen Zwang zur Ausübung des Wahlrechts sich herbeilässt. Der Ästhet lebt fern von der Realität, sie aber haben den Schlüssel zum wahren Leben; denn das wahre Leben besteht  im Interesse für Landtagswahlreform, Streikbewegung und Handelsvertrag. So sprechen vorzüglich jene Geister, die in der Politik die Viehtreiber von St. Marx vorstellen. Der  Unterschied: dem Ästheten löst sich alles in eine Linie auf, und dem Politiker in eine Fläche. Ich glaube, dass das nichtige Spiel, welches beide treiben, beide gleich weit vom Leben führt, in eine Ferne, in der sie überhaupt nicht mehr in Betracht kommen, der Herr Hugo von Hofmannsthal und der Herr Abgeordnete Doleschal. Es ist tragisch, für jene Partei  reklamiert zu werden, wenn man von dieser nichts wissen will, und zu dieser gehören zu müssen, weil man jene verachtet. Aus der Höhe wahrer Geistigkeit aber sieht man die Politik nur  mehr als ästhetischen Tand und die Orchidee als eine Parteiblume. Es ist derselbe Mangel an Persönlichkeit, der die einen treibt, das Leben im Stoffe, und die anderen, das Leben in  der Form zu suchen. Ich meine es anders als beide, wenn ich, fern den Tagen, da ich in äußeren Kämpfen lebte, fern aber auch den schönen Künsten des Friedens, mir heute den Gegner  nach meinem Pfeil zurechtschnitze.

Die Realität nicht suchen und nicht fliehen, sondern erschaffen und im Zerstören erst recht erschaffen: wie sollte man damit Gehirne beglücken, durch deren Windungen zweimal im Tag der Mist der Welt gekehrt wird? Über nichts fühlt sich das Publikum erhabener als über einen Autor, den es nicht versteht, aber Kommis, die sich hinter einer Budel nicht bewährt  hätten oder nicht haben, sind seine Heiligen. Den Journalisten nahm ein Gott, zu leiden, was sie sagen. Mir aber wird das Recht bestritten werden, meiner tiefsten Verbitterung Worte zu geben, denn nur den Stimmungen des Lesers darf  eine Feder dienen, die für Leser schreibt. Meine Leser sind jene Weißen, die einen Neger lynchen, wenn er etwas Natürliches getan hat. Ich leiste feierlichen Verzicht auf die Rasse und will lieber überhaupt nicht gelesen sein, als von Leuten, die mich für ihre Rückständigkeit verantwortlich machen. Sie ist im Fortschritt begriffen: wie wird es mir ergehen? Die intellektuelle Presse macht dem Schwachsinn des Philisters Mut und erhebt die Plattheit zum Ideale: so sind die Folgen meiner Tätigkeit  unabsehbar. Der letzte Tropf, der sich am sausenden Webstuhl der Zeit zu schaffen macht, wird mich als Müßiggänger verachten. Ich wollte nach Deutschland gehen, denn wenn man  unter Österreichern lebt, lernt man die Deutschen nicht genügend hassen. Ich wollte meine Angstrufe in Deutschland ausstoßen, denn in Österreich bezieht man sie am Ende auf die  Kappen und nicht auf die Köpfe. Aber ein satanischer Trieb verlockt mich, die Entwicklung der Dinge hier abzuwarten und auszuharren, bis der große Tag des Zornes kommt und die  tausend Jahre vollendet sind. Bis der Drache losgelassen ist und mir eine Stimme aus den Wolken ruft: »Flieg’n m’r, Euer Gnaden?«

Karl Kraus.