09. April 2012 | Kategorie: Artikel, Grass, Notizen zur Zeit
Stern.de 08.04.2012
Nach kritischem Gedicht: Israel lässt Grass nicht mehr einreisen.
Die Empörung über das Gedicht von Günter Grass hat jetzt handfeste Folgen: Der israelische Innenminister erklärt den deutschen Schriftsteller zur Persona non grata – und verhängt ein Einreiseverbot.
Literaturnobelpreisträger Günter Grass darf wegen seines israelkritischen Gedichts nicht mehr nach Israel einreisen. Die israelische Regierung erklärte ihn am Sonntag zur Persona non grata, bestätigte ein Sprecher des Innenministers Eli Jischai.
Die Sache ist zu ernst, um sie dem Boulevard und den Tagschreibern zu überlassen. Günter Grass darf also nicht mehr nach Israel reisen, was er wohl auch so nicht vorgehabt hätte, obwohl er doch nur eine abwegige, unsinnige Meinung geäußert hat, die des Aufhebens nicht wert gewesen wäre. Manchmal jedoch hat Dummschwätzerei unerwartete Folgen, denn offensichtlich ist es Herrn Grass gelungen, ein ganzes Land, bzw. dessen Regierung persönlich zu beleidigen. Demokratien pflegen mit abweichenden Meinungen minderer Qualität souveräner umzugehen und sich mit dem Wort zu wehren, ohne ordnungspolitische Mittel bemühen zu müssen. Übertriebene Empfindlichkeit und überzogene Reaktionen kennt man gemeinhin nur von totalitären Regimen. Man könnte die israelische Reaktion mit Fug und Recht als die Fortsetzung des groben Unfugs ansehen, den Herr Grass verzapft hat, gäbe es da nicht die Worte des großen Mahners Leibowitz, der hier zitiert sei. Im Jahre 1987 beschrieb Leibowitz die Situation eines Staates, der am siebten Tag des Sechs-Tage-Krieges mit der Besetzung eroberten Landes sein Gesicht veränderte. Er sah einen Staat geprägt von den Notwendigkeiten der Geheimpolizei und des Geheimdienstes voraus, der sich zwangsläufig verändern müsste.
„Mein politisches Programm fordert die Teilung des Landes zwischen dem jüdischen und palästinensischen Volk. Ich lehne den Autonomieplan in aller Schärfe ab, den dieser Plan ist nichts anderes als ein heuchlerischer und gemeiner Trick um die jüdische Gewaltherrschaft über das palästinensische Volk aufrechtzuerhalten. (…)
Wir müssen uns damit abfinden, dass weder Nablus, noch Hebron und Jericho zu unserem Hoheitsgebiet gehören werden, die Araber aber werden sich damit abfinden müssen, dass Galiläa nicht zu ihrem Staat gehören wird. Wenn beide Seiten einer derartigen Teilung nicht zustimmen, dann wird es keine Lösung geben – dann gehen beide Völker einer Katastrophe entgegen. (…)
Die Welt bringt heute dem Staat Israel keinerlei Achtung und Wertschätzung mehr entgegen, von aufrichtiger Sympathie erst gar nicht zu sprechen, so wie es in den ersten Jahren nach der Staatsgründung in weiten Kreisen üblich war. Aber noch viel entscheidender ist, dass der Staat Israel dem meisten Juden selbst immer fremder wird – und gerade nicht den schlechtesten unter ihnen –, weil der Staat in seinem heutigen Zustand wirklich keinen Lorbeerkranz für das Jüdische Volk darstellt. Der ehemalige Ministerpräsident Jitzhak Rabin hat einmal in einem Moment geistiger Erleuchtung gesagt: Warum ist es eine Katastrophe, wenn wir nach Etz-Zion (ein Block jüdischer Siedlungen in Westjordanien, zurzeit unter israelischer Herrschaft) mit einem jordanischen Visum fahren? Wenn wir das Land teilen, dann werden die Einwohner von Etz-Zion an ihrem Platz bleiben, mitsamt der großen Talmudschule, und es wird dort zahlreiche jüdische Siedlungen geben, so wie es arabische Dörfer in Israel gibt. (…)
(…) Heute bin ich sicherlich gegen diese Siedlungen, denn sie verhindern die Teilung des Landes. Das ist ja auch Zweck und Absicht dieser Siedlungen. Aber, wenn die Teilung durchgeführt ist, und beide Staaten in friedlicher Koexistenz leben, dann sehe ich durchaus die Möglichkeit für eine Errichtung von jüdischen Siedlungen jenseits der Grenzlinie. Wenn wir den Weg, auf dem wir uns befinden fortsetzen – dann wird das zum Untergang des Staates Israel führen, und zwar im Zeitraum von ein paar Jahren, dazu braucht es noch nicht einmal Generationen. Im Inneren wird Israel ein Staat mit Konzentrationslagern für Menschen wie mich werden, sobald Vertreter der rechtsnationalen Parteien (…) an die Macht kommen. (…)“
Eine Gesellschaft unter andauernden Belagerungs und Besetzung muss sich verändern. Dieser Zustand dauert für die israelische Gesellschaft seit schon fünfundvierzig Jahren an und hat inzwischen bis zu einer freiwilligen Einmauerung geführt. Es gibt seither kaum noch Attentate, aber was ist mit der Freiheit? Der Freiheit für Andersdenkende? Religiöse Fanatiker verwischen die Trennung von Kirche und Staat. Avigdor Liebermann darf auf Grund seiner Äußerungen schon als Faschist betrachtet werden, und er ist nicht allein. Die Regierung Israels hat empfindlicher, reaktionärer und intoleranter reagiert, als es von einem demokratischen Gemeinwesen zu erwarten gewesen wäre. Anstatt den Unfug eines Grass zu ignorieren, folgt sie dem Muster totalitärer Staaten und gibt sich hochoffiziell beleidigt. Das ist mehr als Unfug. Leibowitz hätte es nicht überrascht, und mich macht es traurig. Auf welchem Wege ? Israel muss umkehren und Frieden mit sich machen, indem es ihn mit den anderen macht – im eigenen Interesse, bevor es vollends in Faschismus abgleitet. Und wenn die Palästinenser nicht wollen wie gewöhnlich und auch das Lebensrecht Israels nicht anerkennen, dann muss man raus aus der Westbank – auf eigene Faust. Dann kann man sich um sich selbst kümmern und da es niemand sonst tut, die Welt vor der Bedrohung durch eine iranische Atombombe bewahren.
06. April 2012 | Kategorie: Artikel, Grass, Notizen zur Zeit
Welt online 6.4.2012
Hamburger Autorenvereinigung
Grass-Gedicht „Viel Lärm um nichts“
Hamburg (dpa/lno) – Die Hamburger Autorenvereinigung rät in der kontroversen Debatte um das jüngste Gedicht von Günter Grass zu mehr Gelassenheit. «Man sollte alles ein wenig tiefer hängen», sagte der Vorsitzende der Vereinigung, Gino Leineweber, am Freitag in Hamburg. «Betrachtet man das sogenannte Gedicht ohne den Namen des Verfassers, wäre es dieser Kunstform kaum zugeordnet worden. Es ist literarisch ein Nichts, dessen Bewertung die Mühe nicht lohnt.» Wenn Günter Grass seinen Ruf schädige, sei das bedauerlich für einen Schriftsteller, der Großes geleistet habe, betrachte man sein gesamtes künstlerisches Schaffen.
Der Hamburger Autorenvereinigung ist zu danken, auch dafür, dass sie das Lebenswerk von dem „Gedicht“ trennt. Wenn sie meint, eine Bewertung lohne d e r Mühe nicht, so trifft das zu, unterschlägt aber die Wirkung der Grass-Polemik auf antisemitische Wirrköpfe und Schweinehunde im Geiste, deren Gebell aus dumpfen Tiefen umgehend herauftönt und die deutsch-reflexartig den Täter für das Opfer halten möchten. Darin gibt es seit den Tagen des SS-Mannes Grass eine stillschweigende Übereinstimmung im Lande der Vollstrecker, die sich mit übertreibender Kritik am Opfer zu exkulpieren versucht. Welche Atombombe wir man fürchten müssen? Die israelische oder die Iranische? Das zu verwechseln erfordert eine betrrächtliche Atherosklerose. Die Folgen hätten einem Günter Grass bewusst gewesen sein müssen. Dennoch hat er sich geäußert. Aber so wenig ich zum Beispiel von einem Bäcker etwas über Fleischwaren erfahren möchte oder umgekehrt vom Metzger über Backwaren, so wenig will ich von einem Schriftsteller pseudopolitisch , ja was eigentlich, informiert, belehrt, belästigt, ungebeten mit dem Wort überfallen werden? Es ist von Allem etwas dabei. Profundere Köpfe haben sich zu dem Thema geäußert, allen voran sei Jeschajahu Leibowitz genannt, der schon 1987 mit vierundachtzig Jahren mehr wusste, als Günther Grass bis heute offenbar vergessen hat.
Dass Selbstgerechtigkeit als einzig verwirklichte Gerechtigkeit zu gelten hat, ist weder neu noch überraschend. Aber es stößt in diesem Falle besonders unangenehm auf, wenn Herr Grass sich nämlich nach der Veröffentlichung seiner Polemik, als zu Recht Kritisierter, selbstredend in die Opferrolle begibt und sich darin gefällt, plötzlich das ein oder andere an seinem Text zu relativieren, der doch „mit letzter Tinte“ in die Tastatur getippt, als ultima ratio angelegt war und dem nun minima ratio nachgewiesen wird. Denn was da als „Gedicht“ daherkommt, erfüllt weder nach Form noch nach Inhalt die Erwartung oder den Anspruch, den man nur an einen Prosatext des noblen Preisträgers stellen dürfte. Es erweist sich , dass er vom Subjekt, über das er schreibt, keine Ahnung hat und daher objektiv nur fehlen kann, und er beweist sich daher weniger als Antisemit, denn als alter Simpel. Karl Kraus hätte ihn unter die „Mausis“ eingereiht. Der Herr macht sich eben nur mausig, und der bislang bemerkenswerteste Vorschlag, auf den Unsinn zu reagieren, stammt von dem scharfsinnigen Menschen Sebastian K., der vorschlug, Günter Grass anzuzeigen, wegen groben Unfugs nämlich!
02. April 2012 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Notizen zur Zeit, Zeitzeugnisse/Zeitzeugen
Es gibt eine Aktualität, die zeitlos ist. Die Frage, warum Karl Kraus von Jahr zu Jahr lebendiger wird, kann von niemandem besser beantwortet werden als im Folgenden von ihm selbst. Haufenweise haben sich an ihm die Geister, Plagegeister und Ungeister abgearbeitet und mit dem Versuch ihres Gegenbeweises den Beweis geführt, dass er recht hat. W.K.Nordenham
DIE FACKEL
Nr. 261—62 WIEN, 13. OKTOBER 1908 X. JAHR
Apokalypse.
(Offener Brief an das Publikum.)
»Den Überwinder will ich genießen
lassen von dem Lebensholze, das in
meines Gottes Paradiese steht.«
Am 1. April 1909 wird aller menschlichen Voraussicht nach die ‚Fackel‘ ihr Erscheinen einstellen. Den Weltuntergang aber datiere ich von der Eröffnung der Luftschiffahrt.
Eine Verzögerung beider Ereignisse aus äußeren Gründen könnte an meiner Berechtigung nichts ändern, sie vorherzusagen, und nichts an der Erkenntnis, dass beide ihre Wurzel in demselben phänomenalen Übel haben: in dem fieberhaften Fortschritt der menschlichen Dummheit.
Es ist meine Religion, zu glauben, dass Manometer auf 99 steht. An allen Enden dringen die Gase aus der Welthirnjauche, kein Atemholen bleibt der Kultur und am Ende liegt eine tote Menschheit neben ihren Werken, die zu erfinden ihr so viel Geist gekostet hat, dass ihr keiner mehr übrig blieb, sie zu nützen.
Wir waren kompliziert genug, die Maschine zu bauen, und wir sind zu primitiv, uns von ihr bedienen zu lassen. Wir treiben einen Weltverkehr auf schmalspurigen Gehirnbahnen.
Aber siehe, die Natur hat sich gegen die Versuche, eine weitere Dimension für die Zwecke der zivilisatorischen Niedertracht zu missbrauchen, aufgelehnt und den Pionieren der Unkultur zu verstehen gegeben, dass es nicht nur Maschinen gibt, sondern auch Stürme! »Hinausgeworfen ward der große Drache, der alle Welt verführt, geworfen ward er auf die Erde … Er war nicht mächtig genug, einen Platz im Himmel zu behaupten.« Die Luft wollte sich verpesten, aber nicht »erobern« lassen. Michael stritt mit dem Drachen, und Michel sah zu. Vorläufig hat die Natur gesiegt. Aber sie wird als die Klügere nachgeben und einer ausgehöhlten Menschheit den Triumph gönnen, an der Erfüllung ihres Lieblingswunsches zugrundezugehen. Bis zum Betrieb der Luftschiffahrt geduldet sich das Chaos, dann kehrt es wieder! Dass Montgolfieren vor hundert Jahren aufstiegen, war durch die dichterische Verklärung, die ein Jean Paul davon gab, gerechtfertigt für alle Zeiten; aber kein Gehirn mehr, das Eindrücke zu Bildern formen könnte, wird in den Tagen leben, da eine höhenstaplerische Gesellschaft zu ihrem Ziel gelangen und der Parvenü ein Maßbegriff sein wird. Es ist ein metaphysisches Bubenspiel, aber der Drache, den sie steigen lassen, wird lebendig. Man wird auf die Gesellschaftsordnung spucken können, und davon würde sie unfehlbar Schaden nehmen, wenn ihr nicht schlimmere Sendung zugedacht wäre …
Die Natur mahnt zur Besinnung über ein Leben, das auf Äußerlichkeiten gestellt ist. Eine kosmische Unzufriedenheit gibt sich allenthalben kund, Sommerschnee und Winterhitze demonstrieren gegen den Materialismus, der das Dasein zum Prokrustesbett macht, Krankheiten der Seele als Bauchweh behandelt und das Antlitz der Natur entstellen möchte, wo immer er ihrer Züge gewahr wird: an der Natur, am Weibe und am Künstler. Einer Welt, die ihren Untergang ertrüge, wenn ihr nur seine kinematographische Vorführung nicht versagt bleibt, kann man mit dem Unbegreiflichen nicht bange machen. Aber unsereins nimmt ein Erdbeben als Protest gegen die Einrichtungen der Demokratie ohneweiters hin und zweifelt keinen Augenblick an der Möglichkeit, dass ein Übermaß menschlicher Dummheit die Elemente empören könnte.
Die Tragik einer gefallenen Menschheit, die für das Leben in der Zivilisation viel schlechter taugt als eine Jungfer fürs Bordellwesen, und die sich mit der Moral über die Syphilis trösten möchte, ist verschärft durch den unaufhörlichen Verzicht auf alle seelische Erneuerung. Ihr Leib ist ethisch geschmiert und ihr Hirn ist eine camera obscura, die mit Druckerschwärze ausgepicht ist. Sie möchte vor der Presse, die ihr das Mark vergiftet hat, in die Wälder fliehen, und findet keine Wälder mehr. Wo einst ragende Bäume den Dank der Erde zum Himmel
hoben, türmen sich Sonntagsauflagen. Hat man nicht ausgerechnet, dass eine amerikanische Zeitung für eine einzige Ausgabe eine Papiermasse braucht, für deren Herstellung zehntausend Bäume von zwanzig Metern Höhe gefällt werden müssen? Es ist schneller nachgedruckt als nachgeforstet. Wehe, wenn es so weit kommt, dass die Bäume bloß täglich zweimal, aber sonst keine Blätter tragen! »Und aus dem Rauche kamen Heuschrecken über die Erde, welchen Macht gegeben wurde, wie die Skorpionen Macht haben … Menschen ähnlich waren ihre Gesichter … Und es wurde ihnen geboten, weder das Gras auf der Erde, noch etwas Grünes, noch irgend einen Baum zu beschädigen, sondern bloß die Menschen, die nicht haben das Siegel Gottes an ihren Stirnen.« Aber sie beschädigten die Menschen, und schonten die Bäume nicht.
Da besinnt sich die Menschheit, dass ihr der Sauerstoff vom Liberalismus entzogen wurde und rennt in den Sport. Aber der Sport ist ein Adoptivkind des Liberalismus, er trägt schon auf eigene Faust zur Verdummung der Familie bei. Kein Entrinnen! Auch wenn sie auf dem Misthaufen des Lebens Tennis spielen, die Schmutzflut kommt immer näher und das Sausen aller Fabriken übertönt so wenig ihr Geräusch wie die Klänge der Symphoniekonzerte, zu denen die ganz Verlassenen ihre Zuflucht nehmen.
Inzwischen tun die Politiker ihre Pflicht. Es sind Märtyrer ihres Berufs. Ich habe gehört, dass Österreich Bosnien annektiert hat. Warum auch nicht? Man will alles beisammen haben, wenn alles aufhören soll. Immerhin ist solch ein einigend Band eine gewagte Unternehmung, — in Amerika, wo man uns so oft verwechselt hat, heißt es dann wieder, Bosnien habe Österreich annektiert. Erst die Auflösung unseres Staates, von der in der letzten Zeit so viel die Rede war und die sich separat vollziehen wird, weil die anderen Weltgegenden nicht in solcher Gesellschaft zugrundegehen wollen, dürfte allem müßigen Gerede ein Ende machen. Aber es ist eine weitblickende Politik, den Balkan durcheinanderzubringen. Dort sind die Reserven zur Herstellung des allgemeinen Chaos. Die Wanzen mobilisieren schon gegen die europäische Kultur.
Die Aufgabe der Religion, die Menschheit zu trösten, die zum Galgen geht, die Aufgabe der Politik, sie lebensüberdrüssig zu machen, die Aufgabe der Humanität, ihr die Galgenfrist abzukürzen und gleich die Henkermahlzeit zu vergiften.
Durch Deutschland zieht ein apokalyptischer Reiter, der für viere ausgibt. Er ist Volldampf voraus in allen Gassen. Sein Schnurrbart reicht von Aufgang bis Niedergang und von Süden gen Norden. »Und dem Reiter ward Macht gegeben, den Frieden von der Erde zu nehmen, und dass sie sich einander erwürgten.« Und alles das ohne Absicht und nur aus Lust am Fabulieren.
Dann aber sehe ich ihn wieder als das Tier mit den zehn Hörnern und den sieben Köpfen und einem Maul gleich dem Rachen eines Löwen. »Man betete das Tier an und sprach: Wer ist dem Tiere gleich? Und wer vermag mit ihm zu streiten? Ein Maul ward ihm zugelassen, große Dinge zu reden.«
Neben diesem aber steht die große Hure, »die mit ihrer Hurerei die Welt verdarb«. Indem sie sich allen, die da wollten, täglich zweimal hingab. »Von dem Wollustwein ihrer Unzucht haben alle Völker getrunken, und die Könige der Erde buhlten mit ihr.«
Wie werden die Leute aussehen, deren Großväter Zeitgenossen des Max Nordau gewesen sind? Bei Tage Börsengeschäfte abgewickelt und am Abend Feuilletons gelesen haben? Werden sie aussehen?! Weh dir, dass du der Enkel eines alten Lesers der ‚Neuen Freien Presse‘ bist! Aber so weit lässt es die Natur nicht kommen, die ihre Beziehungen zur Presse streng nach deren Verhalten gegen die Kultur eingerichtet hat. Einer journalisierten Welt wird die Schmach eines lebensunfähigen Nachwuchses erspart sein: das Geschlecht, dessen Fortsetzung der Leser mit Spannung entgegensieht, bleibt im Übersatz. Die Schöpfung versagt das Imprimatur. Der intellektuelle Wechselbalg, den eine Ratze an innerer Kultur beschämen müsste, wird abgelegt. Der Jammer ist so groß, dass er gleich den Trost mitbringt, es komme nicht so weit. Nein, der Bankert aus Journalismus und Hysterie pflanzt sich nicht fort! Über die Vorstellung, dass es ein Verbrechen sein soll, der heute vorrätigen Menschensorte die Frucht abzutreiben, lacht ein Totengräber ihrer Missgeburten. Aber die Natur arbeitet schon darauf hin, den Hebammen jede Versuchung zu ersparen! Die Vereinfachung der Gehirnwindungen, die ein Triumph der liberalen Bildung ist, wird die Menschen selbst zu jener geringfügigen Arbeit unfähig machen, deren Leistung die Natur ihnen eigens schmackhaft gemacht hat. So könnte die Aufführungsserie des »Walzertraums« einen jähen Abbruch erfahren!
Aber glaubt man, dass die Erfolgsziffern der neuen Tonwerke ohne Einfluss auf die Gestaltung dieser Verhältnisse bleiben werden? Dass sie noch vor zwanzig Jahren möglich gewesen wären? Eine Welt von Wohllaut ist versunken, und ein krähender Hahn bleibt auf dem Repertoire; der Geist liegt auf dem Schindanger, und jeder Dreckhaufen ist ein Kristallpalast … Hat man den Parallelismus bemerkt, mit dem jedesmal ein neuer Triumph der »Lustigen Witwe« und ein Erdbeben gemeldet werden? Wir halten bei der apokalyptischen 666 … Die misshandelte Urnatur grollt; sie empört sich dagegen, dass sie die Elektrizität zum Betrieb der Dummheit geliefert haben soll. Habt ihr die Unregelmäßigkeiten der Jahreszeiten wahrgenommen? Kein Frühling kommt mehr, seitdem die Saison mit solcher Schmach erfüllt ist!
Unsere Kultur besteht aus drei Schubfächern, von denen zwei sich schließen, wenn eines offen ist, nämlich aus Arbeit, Unterhaltung und Belehrung. Die chinesischen Jongleure bewältigen das ganze Leben mit einem Finger. Sie werden also leichtes Spiel haben. Die gelbe Hoffnung! … Unseren Ansprüchen auf Zivilisation würden allerdings die Schwarzen genügen. Nur, dass wir ihnen in der Sittlichkeit über sind. In Illinois hat es eine weiße Frau mit einem Neger gehalten. Das Verhältnis blieb nicht ohne Folgen. »Nachdem eine Menge Weißer zahlreiche Häuser im Negerviertel in Brand gesteckt und verschiedene Geschäfte erbrochen hatten, ergriffen sie einen Neger, schossen zahlreiche Kugeln auf ihn ab und knüpften die Leiche an einem Baum auf. Die Menge tanzte dann unter ungeheurem Jubelgeschrei um die Leiche herum.« In der Sittlichkeit sind wir ihnen über.
Humanität, Bildung und Freiheit sind kostbare Güter, die mit Blut, Verstand und Menschenwürde nicht teuer genug erkauft sind. Nun, bis zu dem Chinesentraum versteige ich mich nicht: aber einem gelegentlichen Barbarenangriff auf die Bollwerke unserer Kultur, Parlamente, Redaktionen und Universitäten, könnte man zujauchzen, wenn er nicht selbst eine politische Sache wäre, also eine Gemeinheit. Als die Bauern eine Hochschule stürmten, wars nur der andere Pöbel, der seines Geistes Losung durchsetzen wollte. Die Dringlichkeit, die Universitäten in Bordelle zu verwandeln, damit die Wissenschaft wieder frei werde, sieht keine politische Partei ein. Aber die Professoren würden als Portiers eine Anstellung finden, weil die Vollbärte ausgenützt werden können und die Würde nun einmal da ist, und die Kollegiengelder wären reichlich hereingebracht.
»Den Verzagten aber, und Ungläubigen, und Verruchten, und Totschlägern, und Götzendienern, und allen Lügnern, deren Teil wird sein in dem Pfuhl, der mit Feuer und Schwefel brennt«.
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Was vermag nun ein Satirenschreiber vor einem Getriebe, dem ohnedies in jeder Stunde ein Hohngelächter der Hölle antwortet? Er vermag es zu hören, dieweil die anderen taub sind. Aber wenn er nicht gehört wird? Und wenn ihm selbst bange wird?
Er versinkt im Heute und hat von einem Morgen nichts zu erwarten, weil es kein Morgen mehr gibt, und am wenigsten eines für die Werke des Geistes. Wer heute noch eine Welt hat, mit dem muss sie untergehen.
Umso sicherer, je länger die äußere Welt Stand hält. Der wahre Weltuntergang ist die Vernichtung des Geistes, der andere hängt von dem gleichgiltigen Versuch ab, ob nach Vernichtung des Geistes noch eine Welt bestehen kann.
Darum glaube ich einige Berechtigung zu dem Wahnwitz zu haben, dass die Fortdauer der ‚Fackel’ ein Problem bedeute, während die Fortdauer der Welt bloß ein Experiment sei.
Die tiefste Bescheidenheit, die vor der Welt zurücktritt, ist in ihr als Größenwahn verrufen. Wer von sich selbst spricht, weil kein anderer von ihm spricht, ist lästig. Wer niemand mit seiner Sache zu belasten wagt und sie selbst führt, damit sie nur einmal geführt sei, ist anmaßend. Und dennoch weiß niemand besser als ich, dass mir alles Talent fehlt, mitzutun, dass mich auf jedem Schritt der absolute Mangel dessen hemmt, was unentbehrlich ist, um sich wenigstens im Gedächtnis der Mitlebenden zu erhalten, der Mangel an Konkurrenzfähigkeit. Aber ich weiß auch, dass der Größenwahn vor der Bescheidenheit den Vorzug der Ehrlichkeit hat und dass es eine untrügliche Probe auf seine Berechtigung gibt: seinen künstlerischen Ausdruck. Darüber zu entscheiden, sind freilich die wenigsten Leser sachverständig, und man ist auch hier wieder auf den Größenwahn angewiesen. Er sprach: Selbstbespiegelung ist erlaubt, wenn das Selbst schön ist; aber sie erwächst zur Pflicht, wenn der Spiegel gut ist. Und jedenfalls ist es sogar ehrlicher, zum dionysischen Praterausrufer seiner selbst zu werden, als sich von dem Urteil der zahlenden Kundschaft abhängig zu machen. Die Journalisten sind so bescheiden, die Keime geistiger Saat für alle Zeiten totzutreten. Ich bin größenwahnsinnig: ich weiß, dass meine Zeit nicht kommen wird.
Meine Leser! Wir gehen jetzt ins zehnte Jahr zusammen, wir wollen nicht nebeneinander älter werden, ohne uns über die wichtigsten Missverständnisse geeinigt zu haben.
Die falsche Verteilung der Respekte, die die Demokratie durchführte, hat auch das Publikum zu einer verehrungswürdigen Standesperson gemacht. Das ist es nicht. Oder ist es bloß für den Sprecher, dem es die unmittelbare Wirkung des Worts bestätigt, nicht für den Schreibenden; für den Redner und Theatermann, nicht für den Künstler der Sprache. Der Journalismus, der auch das geschriebene Wort an die Pflicht unmittelbarer Wirkung band, hat die Gerechtsame des Publikums erweitert und ihm zu einer geistigen Tyrannis Mut gemacht, der sich jeder Künstler selbst dann entziehen muss, wenn er sie nur in den Nerven hat. Die Theaterkunst ist die einzige, vor der die Menge eine sachverständige Meinung hat und gegen jedes literarische Urteil behauptet. Aber das Eintrittsgeld, das sie bezahlt, um der Gaben des geschriebenen Wortes teilhaft zu werden, berechtigt sie nicht zu Beifalls- oder Missfallsbezeigungen. Es ist bloß eine lächerliche Vergünstigung, die es dem einzelnen ermöglicht, um den Preis eines Schinkenbrots ein Werk des Geistes zu beziehen. Dass die Masse der zahlenden Leser den Gegenwert der schriftstellerischen Leistung bietet, so wie die Masse der zahlenden Hörer den des Theatergenusses, wäre mir schon eine unerträgliche Fiktion. Aber gerade sie schlösse ein Zensurrecht des einzelnen Lesers aus und ließe bloß Kundgebungen der gesamten Leserschar zu. Der vereinzelte Zischer wird im Theater überstimmt, aber der Briefschreiber kann ohne akustischen Widerhall seine Dummheit betätigen. Worunter ein Schriftsteller, der mit allen Nerven bei seiner Kunst ist, am tiefsten leidet, das ist die Anmaßung der Banalität, die sich ihm mit individuellem Anspruch auf Beachtung aufdrängt. Sie schafft ihm das furchtbare Gefühl, dass es Menschen gibt, die sich für den Erlag zweier Nickelmünzen an seiner Freiheit vergreifen wollen, und seine Phantasie öffnet ihm den Prospekt einer Welt, in der es nichts gibt als solche Menschen. Dagegen empfände er tatsächlich den organisierten Einspruch der Masse als eine logische Beruhigung, als die Ausübung eines wohlerworbenen Rechtes, als die kontraktliche Erfüllung einer Möglichkeit, auf die er vorbereitet sein musste und die demnach weder seinem Stolz noch seinem Frieden ein Feindliches zumutet. Wenn sich die Enttäuschungen, die meine Leser in den letzten Jahren an mir erleben, eines Tages in einem Volksgemurmel Luft machten, ich würde mich in diesem eingerosteten Leben an der Bereicherung der Verkehrsformen freuen. Aber dass ein Chorist der öffentlichen Meinung sich vorschieben darf, meine Arie stört und dass ich die Nuancen einer Stupidität kennen lernen muss, die doch nur in der Einheit imposant wirkt, ist wahrhaft grässlich. Es ist eine demokratische Wohlfahrtsinstitution, dass der Leser seine Freiheit gegen den Autor hat und dass seine Privilegien über das Naturrecht hinausreichen, den Bezug einer unangenehmen Zeitschrift aufzugeben; dass Menschen, mit denen ich wirklich nicht mehr als Essen und Verdauen und auch dies nur ungern gemeinsam habe, es wagen dürfen, mir ihr Missfallen an meiner »Richtung« kundzutun oder gar zu motivieren. Es schafft bloß augenblickliche Erleichterung, wenn ich in solchem Fall sofort das Abonnement auf die ‚Fackel‘ aufgebe und die Entziehung, so weit sie möglich ist, durchführen lasse. Deprimierend bleibt die Zähigkeit, mit der diese Leute auf ihrem Recht bestehen, meine Feder als die Dienerin ihrer Lebensauffassung und nicht als die Freundin meiner eigenen zu betrachten; vernichtend wirkt die Hoffnung, die sie noch am Grabe ihrer Wünsche aufpflanzen, das lästige Zureden ihrer stofflichen Erwartungen. Wie weit es erst, wie unermesslich weit es mich all den Sachen entrückt, die zu vertreten oder zu zertreten einst mir inneres Gebot war, ahnt keiner. Dem Publikum gilt die Sache. Ob ich mich über oder unter die Sache gestellt habe, das zu beurteilen, ist kein Publikum der Erde fähig, aber wenn es verurteilt, dass ich außerhalb der Sache stehe, so ist es berechtigt, schweigend seine Konsequenz zu ziehen.
Dass ich die publizistische Daseinsberechtigung verloren habe, ist hoffentlich der Fall; die Form periodischen Erscheinens dient bloß meiner Produktivität, die mir in jedem Monat ein Buch schenkt. Zieht mir der redaktionelle Schein dauernd Missverständnisse zu, bringt er mir Querulanten ins Haus und die unerträglichen Scharen jener, denen Unrecht geschieht und denen ich nicht helfen kann, und jener, die mir Unrecht tun und denen ich nicht helfen will, so mache ich ihm ein Ende. Jetzt ist die Zeit zur Aussprache gekommen, aber ich bin immer noch nachgiebig genug, den Lesern die Entscheidung zu überlassen. Ich betrüge ihren Appetit, indem ich ihre Erwartung, Pikantes für den Nachtisch zu kriegen, enttäusche und ihnen Gedanken serviere, die der Nachtruhe gefährlich sind. Mich selbst bedrückt ihr Alp; denn es ist nicht meine Art, ahnungslose Gäste zu misshandeln. Aber sie sollen im zehnten Jahre nicht sagen, dass sie ungewarnt hereingefallen sind. Wer dann noch mit dem Vorurteil zu mir kommt, dass ich ein Enthüller stofflicher Sensationen sei, dass ich berufsmäßig die Decken von den Häusern hebe, um lichtscheue Wahrheiten oder gar nur versteckte Peinlichkeiten emporzuziehen, der hat das Kopfweh seiner eigenen Unvorsichtigkeit zuzuschreiben. Ein Teil dieser Leser will die Wahrheit hören um ihrer selbst willen, der andere will Opfer bluten sehen. Das Instinktleben beider Gruppen ist plebejisch. Aber ich täusche sie, weil meine Farbe rot ist und mit der Verheißung lockt, zu erzählen, wie sichs ereignet hat. Dass ich heimlich in eine Betrachtungsweise abgeglitten bin, die als das einzige Ereignis gelten lässt: wie ichs erzähle, — das ist die letzte Enthüllung, die ich meinen Lesern schuldig bin. Ich täuschte, und war allemal tief betroffen, allemal wusste ich, dass ich mir dergleichen nicht zugetraut hätte, aber ich blieb dabei, Aphorismen zu sagen, wo ich Zustände enthüllen sollte. So schmarotze ich nur mehr an einem alten Renommee.
Glaubt einer, dass es auf die Dauer ein angenehmes Bewusstsein ist? Nun, ich wollte den Lesern helfen und ihnen den Weg zeigen, der zur Entschädigung für den Ausfall an Sensationen führt. Ich wollte sie zu einem Verständnis für die Angelegenheiten der deutschen Sprache erziehen, zu jener Höhe, auf der man das geschriebene Wort als die naturnotwendige Verkörperung des Gedankens und nicht bloß als die gesellschaftspflichtige Hülle der Meinung begreift. Ich wollte sie entjournalisieren. Ich riet ihnen, meine Arbeiten zweimal zu lesen, damit sie auch etwas davon haben. Sie waren entrüstet und sahen im nächsten Heft nur nach, ob nicht doch etwas gegen die Zustände bei der Länderbank darin stände … Nun wollen wir sehen, wie lange das noch weiter geht. Ich sage, dass der einzige öffentliche Übelstand, den noch aufzudecken sich lohnt, die Dummheit ist. Das Publikum wünscht so allgemeine Themen nicht und schickt mir Affären ins Haus. Aber wie selten ist es, dass das Interesse der Skandalsucht mit meinen separatistischen Bestrebungen zusammentrifft! Wenns einen Fall Riehl gibt, verzeiht mir das Publikum die Gedanken, die ich mir dazu mache, und freut sich, dass es einen Fall Riehl gibt. Es ist ein schmerzliches Gefühl, eine Wohltat nicht zu verdienen; aber es ist geradezu tragisch, sein eigener Parasit zu sein.
Denn das ist es ja eben, dass von meinem Wachstum, welches die Reihen meiner Anhänger so stark gelichtet hat, die Zahl meiner Leser im Durchschnitt nicht berührt wurde, und dass ich zwar kein guter Geschäftsmann bin, so lange ich die ‚Fackel‘ bewahre, aber gewiss ein schlechter, wenn ich sie im Überdruss hinwerfe. Und weil es toll ist, auf die Flucht aus der Aktualität Wiener Zeitungsleser mitzunehmen, so ist es anständig, sie zeitweise vor die Frage zu stellen, ob sie sich die Sache auch gründlich überlegt haben.
In Tabakgeschäften neben dem Kleinen Witzblatt liegen zu müssen und neben all dem tristen Pack, das mit talentlosen Enthüllergebärden auf den Kunden wartet, es wird immer härter und es ist eine Schmach unseres Geisteslebens, an der ich nicht allzu lange mehr Teil haben möchte. Um den wenigen, die es angeht, zugänglich zu sein, lohnt es nicht, sich den vielen Suchern der Sensation hinzugeben. Im besten Falle dünke ich diesen ein Ästhet. Denn in den allgemeinen, gleichen und direkten Schafsköpfen ist jeder ein Ästhet, der nur durch staatlichen Zwang zur Ausübung des Wahlrechts sich herbeilässt. Der Ästhet lebt fern von der Realität, sie aber haben den Schlüssel zum wahren Leben; denn das wahre Leben besteht im Interesse für Landtagswahlreform, Streikbewegung und Handelsvertrag. So sprechen vorzüglich jene Geister, die in der Politik die Viehtreiber von St. Marx vorstellen. Der Unterschied: dem Ästheten löst sich alles in eine Linie auf, und dem Politiker in eine Fläche. Ich glaube, dass das nichtige Spiel, welches beide treiben, beide gleich weit vom Leben führt, in eine Ferne, in der sie überhaupt nicht mehr in Betracht kommen, der Herr Hugo von Hofmannsthal und der Herr Abgeordnete Doleschal. Es ist tragisch, für jene Partei reklamiert zu werden, wenn man von dieser nichts wissen will, und zu dieser gehören zu müssen, weil man jene verachtet. Aus der Höhe wahrer Geistigkeit aber sieht man die Politik nur mehr als ästhetischen Tand und die Orchidee als eine Parteiblume. Es ist derselbe Mangel an Persönlichkeit, der die einen treibt, das Leben im Stoffe, und die anderen, das Leben in der Form zu suchen. Ich meine es anders als beide, wenn ich, fern den Tagen, da ich in äußeren Kämpfen lebte, fern aber auch den schönen Künsten des Friedens, mir heute den Gegner nach meinem Pfeil zurechtschnitze.
Die Realität nicht suchen und nicht fliehen, sondern erschaffen und im Zerstören erst recht erschaffen: wie sollte man damit Gehirne beglücken, durch deren Windungen zweimal im Tag der Mist der Welt gekehrt wird? Über nichts fühlt sich das Publikum erhabener als über einen Autor, den es nicht versteht, aber Kommis, die sich hinter einer Budel nicht bewährt hätten oder nicht haben, sind seine Heiligen. Den Journalisten nahm ein Gott, zu leiden, was sie sagen. Mir aber wird das Recht bestritten werden, meiner tiefsten Verbitterung Worte zu geben, denn nur den Stimmungen des Lesers darf eine Feder dienen, die für Leser schreibt. Meine Leser sind jene Weißen, die einen Neger lynchen, wenn er etwas Natürliches getan hat. Ich leiste feierlichen Verzicht auf die Rasse und will lieber überhaupt nicht gelesen sein, als von Leuten, die mich für ihre Rückständigkeit verantwortlich machen. Sie ist im Fortschritt begriffen: wie wird es mir ergehen? Die intellektuelle Presse macht dem Schwachsinn des Philisters Mut und erhebt die Plattheit zum Ideale: so sind die Folgen meiner Tätigkeit unabsehbar. Der letzte Tropf, der sich am sausenden Webstuhl der Zeit zu schaffen macht, wird mich als Müßiggänger verachten. Ich wollte nach Deutschland gehen, denn wenn man unter Österreichern lebt, lernt man die Deutschen nicht genügend hassen. Ich wollte meine Angstrufe in Deutschland ausstoßen, denn in Österreich bezieht man sie am Ende auf die Kappen und nicht auf die Köpfe. Aber ein satanischer Trieb verlockt mich, die Entwicklung der Dinge hier abzuwarten und auszuharren, bis der große Tag des Zornes kommt und die tausend Jahre vollendet sind. Bis der Drache losgelassen ist und mir eine Stimme aus den Wolken ruft: »Flieg’n m’r, Euer Gnaden?«
Karl Kraus.
19. Februar 2012 | Kategorie: Journalisten, Notizen zur Zeit, Wulff
Der Parlamentarismus ist die Kasernierung der politischen Prostitution. Karl Kraus
Der Satz von Karl Kraus trifft, wie man da sieht, zu. Wer sich prostituiert, verlangt einen Gegenwert und sei es ein Ehrensold. Der sich verkauft hat, hat auf jeden Fall einen zu hohen Preis bezahlt. Deshalb ist das Vertrauen in die per se unglaubwürdige Aussage, man mache es im Grunde umsonst, schnell futsch, wenn man es dann zu auffällig treibt. Da reicht der Verdacht, und die Generalbeauftragten der Presse für jede Art Verdacht, bei denen die Absicht seit jeher Handlungsweise bestimmt, um einen Verdacht zu erzeugen und die noch aus jedem Verdacht eine Tat zu konstruieren wissen, die nicht begangen worden sein muss, um vollbracht worden zu sein. Keine nachgeschobene Unschuldsvermutung oder nachgewiesene Unschuld kann sie ungeschehen machen, denn das „semper aliquid haeret“, dass nämlich immer etwas hängen bleibt, gehört zum stillschweigend akzeptierten Grundkonsens boulevardjournalistischer Ethik , die als Phantom den Ungeist begleitet, dem keine Jauchegrube den Geruchsnerv abtötet und der das Licht des Tages nicht mehr zu scheuen hat, seit er mit Präsidialem sein Wesen trieb. Aber es bedurfte schon des Signals einer Staatsanwaltschaft, die sich der publizierten Meinung annahm und wegen Anfangsverdachtes der Vorteilsnahme ermittelt, nicht gegen die Journaille, sondern gegen einen bevorteilten und überforderten Präsidenten. Wohl angemerkt, die unerlaubte Vorteilsnahme, im Privatleben angenehm, im Geschäftsleben gang und gäbe, für Journalisten mit ihren Firmenrabatten und Freikartenabonnements Bedingung, ist in der Politik nur dann unerwünscht, wenn sie öffentlich wird und für einen Bundespräsidenten obsolet, dem eine Bildzeitung vordem holder war, als es der Anstand erlaubt hätte. Der Wulff, als er den Schafspelz ablegte, hat sich als Schaf erwiesen. Nachdem der Boulevard ihm den Vorteil strich, erwies er sich reif für die Schlachtbank des Tagesjournalismus, vermutlich als Unschuldslamm. Nun hat ihm die Stunde geschlagen und das Halali einer Hetze mit allen Mitteln darf geblasen werden, das das vorläufige Ende der Jagd bestätigt. Denn wer wollte schon von sich behaupten, sauber bleiben zu wollen, wenn erneut der nächste erste Stein geworfen wird, vor allem dann, wenn es sich um einen der Kotsteine der Bildzeitung handelt. Lange hat sich die bilderprobte, bundesdeutsche Öffentlichkeit vorgegaukelt, man sei in deutschen Landen von der Unart eines Journalismus à la „News of the world“ noch weit entfernt. Das war ein Irrtum, und bei der größten Boulevardzeitung Deutschlands wird man klammheimlich die Korken knallen lassen und sich bestätigt sehen auf einem Umweg, der direkt mit den Ratten durch die Kanalisation bis in die Privatsphäre nunmehr eines jeden Berufspolitikers führen wird, die zwar durch das Grundgesetz geschützt ist, aber nicht vor Kloakenjournalismus bewahrt, der pseudoinvestigativ daherschleicht. Ohne den Wulff fängt nicht nur in den vorgeblich seriöseren Redaktionsstuben das Nachdenken darüber an, ob denn ab sofort jeder Amtsträger durch den Nacktscanner einer Journaille gejagt wird, die noch den letzten Flecken auf der Weste immer des Anderen sichtbar macht und vor dem Blick in die herunter zu lassende Hose nicht zurückschreckt, in die zu guter Letzt alles gegangen sein wird. Wenigstens einer soll so sein, wie man selbst sein sollte, wenn man so wäre, wie man gern wäre, also anständig, ehrlich, edel, hilfreich und gut, dazu überparteilich, mit messbarem Intelligenzquotienten, erlesenen Manieren, also jemand, der im Dutzend die Gänge der Parlamente des Landes bevölkert. Das fällt die Auswahl schwer. Viele werden dennoch ablehnen, weil sie begründet um den letzten Rest an Privatleben fürchten, indem ihnen zum Beispiel nachgewiesen wird, dass sie seinerzeit in der Schule vom Klassenprimus abschreiben durften, nachdem sie ihn mit einem Bier bestochen hatten. Ich warte gespannt auf die journalistische Nachlese in den Fußnoten der Lebensläufe von Ministern und Abgeordneten, mit ihren Nebeneinkünften, mit ihrem Bundestags-Golf, Bundestags-Tennis und sonstigem Tourismus im Namen des Sponsors und des Volkes.
26. Januar 2012 | Kategorie: Artikel, Jean Paul, Notizen zur Zeit
Anlässlich der großen Stunde des deutschen Parlamentes, das den Einsatz in Afghanistan unter gebetsmühlenartigem Ableiern der unfrommen Lüge verlängerte, dass dort alles bereits viel besser sei, man schließlich auf der Seite des afghanischen Volkes stehe und getragen von der blinden Zuversicht, es werde nicht so schlimm kommen, wie es längst schon ist; anlässlich der Tatsache, dass die Vertreter des Volkes das selbstredend nicht für sich persönlich beschlossen, sondern stellvertretend nur für die Soldaten, die am Hindukusch seit zehn Jahren die Freiheit unter anderem des Herrn Struck verteidigen müssen und die der Mandatsverlängerung vermutlich nicht zugestimmt hätten, da keines der „Kriegsziele“ erreicht wurde und erreicht werden wird; anlässlich der bedeutungsschweren Stunde, da über Leib und Leben immer der Anderen, sowohl der Täter als auch der Opfer, der Krieg weiterhin verhängt wurde; anlässlich dieser traurigen Stunde, da nämlich das Gewissen, auf welches die Abgeordneten im Parlament sich zu berufen geruhten, allein durch die Worte des Herrn Ströbele sich vertreten sehen konnte, seien zwei Kapitel aus alter Zeit zitiert und jenen ins Stammbuch geschrieben, die mit dem Retortenwort „alternativlos“ neuerdings jede Schweinerei glauben rechtfertigen zu können, was nichts anderes beschreibt als eine zivilisierte Form der Menschenverachtung; denn das Land, in das man den Soldaten schickt, wird nicht dasselbe bleiben, und der Mensch, den man schickt, wird nicht derselbe sein, der zurückkehrt. Jean Paul schrieb die Erziehlehre seinerzeit zwar für Fürsten, aber es spräche für Phantasiearmut würde man nicht in den Wirtschaftsbossen und Politkern der Jetztzeit ohne Mühe ihre der Erziehung bedürftigen Nachfolger sogleich erkennen, ungemein erleichtert durch das Trio infernale: Bush, Cheney, Rumsfeld. W.K. Nordenham (Hervorhebungen im Folgenden durch mich)
Jean Paul Richter: Levana oder Erziehlehre – Kapitel 44
Werden Sie gleich mir eine Friedenpredigt vor dem Kriege an den Fürsten, der eben den Brandbrief zum Kriegsfeuer hinwerfen will, etwa so halten: »Bedenk es, ein Schritt über dein Grenzwappen verwandelt zwei Reiche, hinter dir verzerrt sich deines – vor dir das fremde. – Ein Erdbeben wohnt und arbeitet dann unter beiden fort – alle alte Rechtsgebäude, alle Richterstühle stürzen, Höhen und Tiefen werden ineinander verkehrt. – Ein jüngster Tag voll auferstehender Sünder und voll fallender Sterne, ein Weltgericht des Teufels, w o d i e L e i b e r d i e G e i s t e r r i c h t e n, d i e F a u s t k r a f t d a s H e r z . Bedenk es, Fürst! Jeder Soldat wird in diesem Reich der Gesetzlosigkeit dein gekrönter Bruder auf fremdem Boden mit Richtschwert, aber ohne Waage und gebeut unumschränkter als du; jeder feindliche Packknecht ist dein Fürst und Richter, mit Kette und Beil für dich in der Hand! – Nur die Willkür der Faust und des Zufalls sitzt auf dem Doppelthrone des Gewissens und Lichts. – Zwei Völker sind halb in Sklavenhändler, halb in Sklaven verkehrt, unordentlich durcheinander gemischt. – Für höhere Wesen ist das Menschenreich ein gesetz- und gewissenloses, taubblindes Tier- und Maschinenreich geworden, das raubt, frisst, schlägt, blutet und stirbt. – Immerhin sei du gerecht, du lässest doch durch die erste Manifestzeile wie durch ein Erdbeben die gefesselte Ungerechtigkeit aus ihren Kerkern los! A u c h i s t j a d i e W i l l k ü r s o h e r g e b r a c h t g r o ß , d a s s d i r k l e i n e r e M i s s h a n d- l u n g e n g a r n i c h t , u n d g r o ß e n u r d u r c h i h r e W i e d e r h o l u n g v o r d i e O h r e n k o m m e n . Denn die Erlaubnis, zugleich zu töten und zu beerben, schließt jede kleinere in sich. Sogar der waffenlose Bürger tönt in die Miss- und Schreitöne ein, vertauschend alle Lebenspläne gegen Minutengenuss und ungesetzliche Freiheit und von den befreundeten Kriegern als ein halber, von den anfeindenden als ein ganzer Feind behandelt und aufgereizt. Dies bedenke, Fürst, bevor du in die Heuschreckenwolke des Kriegs alles dein Licht verhüllst und in dein bisher so treu verwaltetes Land alle Krieger eines fremden zu Obrigkeiten und Henkern einsetzest, oder deine Krieger ebenso ins fremde!« (Dies hat Karl Kraus sowohl vorgelesen als auch in DIE FACKEL Nr. 443-444 , 1916 veröffentlich.)
Jean Paul Richter: Levana oder Erziehlehre – Kapitel 45
E i g e n t l i c h s o l l t e n u r d a s V o l k – dies könnte man wenigstens einem Erbprinzen erziehend sagen – ü b e r d e n K r i e g m i t e i n e m a n d e r n , d. h. über die Rückkehr in den e r s t e n N a t u r s t a n d, besonders da nur dessen harte Früchte, nicht dessen süße auf dasselbe fallen, a b z u s t i m m e n h a b e n , ob es sich als Totenopfer dem Gewitter und Sturm des Krieges weihe, oder nicht. Es ist schreiend gen Himmel, der noch nicht hört: dass ein Fürst für den Witzstich eines andern Fürsten zwei Völker unter die Streitaxt treiben darf. Man schaudert in der neuern Geschichte über die kleinen Zündruten der Kriegsminen; wie eine Weiber-Stecknadel, ein Gesandtenfinger oft der Leiter eines länderbreiten Gewitters geworden. Wenigstens sollte der Krieg der neuern Zeiten nur die Krieger treffen, nicht die entwaffneten Stände. Sobald der tätigere Anteil der letzten jene beeinträchtigt, z. B. Schießen aus Häusern: so berufen sie sich gern auf das Recht einer Absonderung und bestrafen und bekriegen zugleich; warum soll dann aber der wehrlose Stand ohne die Vorteile doch alle Leiden des bewehrten, die der Plünderung, Gefangennehmung u. s. w., teilen? – Von drei Zeiten muss einmal nach dieser schlechten vierten eine oder jede kommen, damit die Zukunft die Vergangenheit entsündige: dass es entweder Seekriege ohne Kaperbriefe gibt, und zum Landkrieg man sich, als zu einem vielstimmigen und vielhändigen Zweikampfe, in eine Wüste bestellt – oder dass wieder, wie in eingesunknen oder aufgeflognen Republiken, jeder Bürger Soldat, folglich jeder Soldat auch Bürger ist – oder endlich, dass vom Himmel die ewige Frieden-Fahne herunterflattert und über die Erde im Äther weht. –
Mir ist, als wenn Sie oder einer Ihrer Freunde einmal die Geschichte – diesen langen Kriegsbericht und Bulletin der Menschheit – für eine Kriegsansteckung junger Fürsten erklärt hätten. Fast aber wollt‘ ich ihr die Heilung von der Kriegslust anvertrauen. Karl XII. von Schweden wurde schwerlich bloß durch Curtius‘ Leben des Alexanders ruhm- und länderdurstig, da Alexander selber es gewesen, ohne seinen Biographen gelesen zu haben; wie auch Cäsar, der von Curtius nichts gekannt als dessen Helden. An der Geschichte lässt sich eben die Anker- und Klingenprobe des See- und Landkriegsschwertes machen. Sie allein zeigt dem ruhmdürstigen Prinzen, wie wenig bloße Tapferkeit auslange zum Ruhm. D e n n a u f d e r E r d e i s t e i n f e i g e s V o l k n o c h s e l t e n e r a l s e i n k ü h n e r M a n n ; welche Völker der alten und neuen Zeit waren nicht tapfer? Jetzo z. B. fast ganz Europa, die Russen, Dänen, Schweden, Österreicher, Sachsen, Engländer, Hessen, Franzosen, Bayern und Preußen. – Je tiefer Roms freier Geist einsank, desto wilder und kräftiger hob sich der tapfere empor; Katilina, Cäsar, August hatten siegende Knechte. Die häufige Bewaffnung der alten Sklaven (wie in der neuern die der Bettler) beweiset gegen den Wert der gemeinen Faust- und Wunden-Tapferkeit. Der Athener Iphikrates sagte: raub- und lustgierige Soldaten sind die besten; und der General Fischer setzte dazu: Landstreicher. – Kann ein Fürst in die Nachwelt mit nichts als mit den schönen Tigerflecken der Eroberer strahlen wollen, womit ihn die Timurs, Attilas, Dessalines und andere Geißeln Gottes oder Knuten des Teufels überbieten? – Wie kalt geht man in der Geschichte über die unzähligen Schlachtfelder, welche die Erde mit Todes-Beeten umziehen! Und mit welchen Flüchen eilt man vor der Krone vorüber, welche, wie sogenannte Ajüstagen oder Blechaufsätze nur auf dem fortsprützenden Wasserstrahl der Fontänen, ebenso nur auf empor- springenden Blutströmen in der Höhe sich erhalten! Wo aber einige Helden davon ein ewiger Nachschimmer überschwebet, wie Marathons Ebene, Thermopyläs Tiefe: da kämpften und opferten andere Geister; – himmlische Erscheinungen, der Freiheit-Mut. U n d w e l c h e r E i n z e l n e i n d e r G e s c h i c h t e g r o ß d a s t e h t u n d i h r e R ä u m e er f ü l l t , d e r t u t e s n i c h t a u f e i n e r P y r a m i d e v o n T o t e n k ö p f e n a u s S c h l a c h t e n , s o n d e r n e i n e g r o ß e S e e le s c h w e b e t , w i e di e G e s t a l t e i n e r ü b e r i r d i s c h e n W e l t , v e r k l ä r t i n d e r N a c h t u n d b e r ü h r t S t e r n e u n d E r d e .
22. Januar 2012 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Entwicklung, Notizen zur Zeit
Was ich einmal fürs Leben gern möchte, das ist, einer sogenannten »Entwicklung« beiwohnen. Ich war schon dabei, wie Gerüchte entstanden, ich habe die Ausbreitung mancher Epidemie aus nächster Nähe miterlebt, aber das, was man eine Entwicklung nennt, habe ich noch nie mit eigenen Augen gesehen. Karl Kraus
DIE FACKEL
Nr. 261—62 WIEN, 13. OKTOBER 1908 X. JAHR
Entwicklung.
Kürzlich las ich einen Vorschlag zur Abschaffung der deutschen Satire. Hätte ein Greisler nachgewiesen, dass auch der gesalzene Kaviar keine Volksnahrung sei, ich wär’s zufrieden gewesen. Aber er sagte, das Volk verlange bessere Nahrung. Die Satire auf vaterländische Übel habe sich überlebt, denn das Vaterland habe kein Übel mehr. Die bösen Zeiten der kulturellen Zerrissenheit seien vorüber und seit genau fünf Jahren sei die Entwicklung abgeschlossen. Und da es keinen Schwindel und keine Hässlichkeit mehr gibt, so ist auch kein ersichtlicher Grund für die geringste satirische Anstrengung vorhanden. Also ein Vorschlag zur Güte, der annehmbar wäre, wenn er nicht selbst die Satire auf ein noch wenig bebautes Feld verwiese, nämlich auf die Dummheit.
Was ich einmal fürs Leben gern möchte, das ist, einer sogenannten »Entwicklung« beiwohnen. Ich war schon dabei, wie Gerüchte entstanden, ich habe die Ausbreitung mancher Epidemie aus nächster Nähe miterlebt, aber das, was man eine Entwicklung nennt, habe ich noch nie mit eigenen Augen gesehen. Nicht einmal die Entwicklung eines Kindes, geschweige denn die eines Volkes. Wenn ich nach fünf Jahren in ein Familienhaus kam, so war es wohl nicht zu verkennen, dass der kleine Rudolf inzwischen gewachsen war, aber ich fragte mich sogleich, ob mir der Unterschied zwischen einst und jetzt auch aufgefallen wäre, wenn ich die ganze Zeit dabei gestanden, meine Hand auf seinem Kopfe gehalten oder wenigstens jeden Morgen nachgesehen hätte, ob er größer geworden sei. Ich glaube, um eine Entwicklung recht zu genießen, muss man sich von ihr überraschen lassen. Aber fünf Jahre im Leben eines Volkes sind vielleicht nicht einmal so viel wie ein Tag im Leben eines Kindes, und wenn man dort alle fünf Jahre nachsieht, so fällt einem keine Veränderung auf. Die Fähigkeit, eine Entwicklung zu übersehen, wächst mit der Entfernung, in der man von ihr steht, und nur dem sogenannten »historischen Sinn« ist es gegeben, sie aus unmittelbarer Nähe aufzuspüren. Der historische Sinn ist aber eine Eigenschaft, die man gerade bei den jüngeren Zeitgenossen antrifft, weil für sie jede Erfahrung den Reiz des Ungewohnten hat, jedes zeitliche Erlebnis zum Ereignis wird und jeder Glockenschlag eine Ewigkeit einläutet. Gewiss wäre der kleine Rudolf, von dessen Entwicklung ich mir erst Rechenschaft geben kann, wenn sie abgeschlossen sein wird, schon jetzt imstande, die Entwicklung des deutschen Volkes von gestern auf heute festzustellen. Die Häufigkeit dieser Erscheinung ist selbst wieder eine Tatsache der kulturellen Entwicklung, die man nicht übersehen darf. Denn seitdem die Zeitgeschichte täglich zweimal erscheint, ist jeder in die Lage versetzt, Phrasen zu gebrauchen, die sonst erst nach einem Jahrhundert in der Leute Mund kämen. So kann einer zum Beispiel behaupten, die deutsche Nation sei bis vor fünf Jahren in der Umbildung begriffen gewesen, seit damals aber habe sie pünktlich die Verpflichtung erfüllt, eine »aus heterogensten Ständen plötzlich nach außen einsgewordene Gemeinschaft innerlich zur homogenen Rasse zu verarbeiten«. Wer sollte leugnen, dass dies ein Ziel sei, aufs innigste zu wünschen? Wer außer den Satirikern ist so blind, nicht zu sehen, dass es über Nacht erreicht wurde? Jene glauben noch immer, an der Tafel einer Kultur zu sitzen, in deren Hause Prahlhans Küchenmeister ist. Wie Petron vom Gastmahl des Trimalchio sagt: »Nun folgte ein Gang, welcher unserer Erwartung nicht entsprach, doch zog er durch seine Neuheit aller Augen auf sich«, so sehen sie Wunder über Wunder, und sind unzufrieden. Ein »Mischmasch von einem Spanferkel und anderem Fleische«, »ein Hase mit Flügeln, damit er dem Pegasus gleiche«, und »in den Ecken des Aufsatzes vier Faune, aus deren Schläuchen Brühe auf die Fische herunterfließt, die in einem Meeresstrudel schwimmen«. Zum Lob der Brühe singt ein ägyptischer Sklave mit abscheulicher Stimme ein Liedchen. Aber die satirischen Gäste finden sie trotzdem nicht schmackhaft und erdreisten sich, all ihr Salz hineinzuschütten. Und nachdem sie sich noch an der protzigen Aufschrift des hundertjährigen Falerners berauscht haben, träumen sie diesen Traum:
Die Entwicklung ist eine G. m. b. H., das Schicksal ist ein Kaufhaus des Westens, das Leben ist eine Stehbierhalle. Um die Seele des Menschen ringen Wertheim und Tietz. Zweimal täglich löst eine Generation die andere ab, aber die Zeitrechnung beginnt mit der Einführung der orthozentrischen Kneifer, der Reformglücksehe und der Eröffnung der Halenseer Terrassen. Alles, was vorher geschah, hat nur dazu gedient, die sogenannte Entwicklung vorzubereiten, wenn es sich nicht etwa zum Beweise der Homosexualität des Fürsten Eulenburg heranziehen lässt. Nicht nur die Geschichte, auch die Bibelforschung hat wertvolles Material geliefert, aus dem klar hervorgeht, wie seit Erschaffung der Welt alles auf eine Entwicklung hingearbeitet hat, die erst jetzt abgeschlossen vor uns liegt. Schon die Häufigkeit der Bemerkung »Und der Herr sprach« scheint darauf hinzudeuten. »Und der Herr sprach: Es ist ein Geschrei zu Sodom, das ist groß und ihre Sünden sind schwer … Da ließ der Herr Schwefel regnen auf Sodom …« Merkwürdig ist auch der Hinweis auf die Affäre von Loths Töchtern: »Also gaben sie ihrem Vater Wein zu trinken in dieser Nacht … Und sie wurden schwanger von ihrem Vater. Und die älteste gebar einen Sohn, den nannte sie Moab. Von dem kommen her die Moabiter, bis auf den heutigen Tag«. Und dann war wieder eine Leiter da, »die stand auf Erden und rührete mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel des Herrn stiegen daran auf und nieder«, denn es waren Flügeladjutanten Gottes … Hier verlässt der Traum die logische Linie und ist plötzlich an dem Punkt, wo die eigentliche Entwicklung ansetzt. Es braust ein Ruf wie Donnerhall:
Pauline, au au, au au, au au
Wie haben sie dir verhaun!
Fünf Jahre später schon ist der Spieß umgekehrt:
Und er rief: Geliebte Krause — immer mit der Hand lang
Machen Se doch ’ne kleine Pause — immer mit der Hand lang!
Die Entwicklung ist im Zuge, wir wissen, wie viel’s geschlagen hat. Zuerst hieß es bloß: Wir Deutsche fürchten Gott, aber sonst nichts in der Welt! Bald aber wird schüchtern hinzugesetzt: Und höchstens noch die strengen Masseusen! Es ist nicht schimpflich, sich im Frieden schlagen zu lassen, und kriegerische Tüchtigkeit steht nach wie vor in hohem Ansehen. Aber die Zeiten haben sich geändert. Früher versicherte die Schangsonette:
Ja, so ein Leudenant, so fesch und sauber,
Wirkt auf ein Mädchenherz als wie ein Zauber.
Jetzt singt zwar noch immer eine ganze Kompagnie:
Ja, wir sind doch ’ne eigne Rasse,
Zivil ist ganz ’ne faule Klasse!
Aber die es singen, sind uniformierte Mädchen … Die Satiriker träumen weiter. Von einer Politik, die durch eine eifrige Ausnützung der Verkehrsmittel, wie Post und Telegraph, sich in der ganzen Welt Geltung verschafft, da man einsehen gelernt hat, dass das gesprochene Wort nicht ausreicht. Von einer Justiz, die den Tod eines Angeklagten für keinen Vertagungsgrund hält, von einem Lauf der Gerechtigkeit, bei dem zuerst sie vor den Fürsten und dann die Fürsten vor ihr ohnmächtig werden, und überhaupt von all den Dingen, die man Schmutzereien nennt. Der Schlaf der Satiriker wird unruhig, aber sie haben nichts zu fürchten, denn zu ihren Häupten stehen die Schutzmänner Michael und Gabriel. Sie träumen von einer Welt der Speisehäuser, deren Portiers auf die Frage, was die Göttinnen im Stiegenraum mit der Verdauung zu tun haben, prompt die Auskunft geben: Herr, das hat doch den Zweck, um dem Schönheitssinne Rechnung zu tragen! … Die Satiriker wälzen sich auf ihrem Lager. Da sehen sie Böcklins Toteninsel mit allem Komfort der Neuzeit ausgestattet. Es ist erreicht. Die Entwicklung ist soeben auf ihrem Höhepunkt angelangt, die Nation zur homogenen Rasse verarbeitet. Und fünfundzwanzig Jahre hat es gebraucht, bis das Volk in den Besitz der unentbehrlichsten Schmutzereien gelangte, und nur fünf, bis es die Kultur bekam … Die Satiriker erwachen. Die Polizeihunde Edith und Ruß bellten so laut.
Karl Kraus.
29. Dezember 2011 | Kategorie: Artikel, Notizen zur Zeit, Prommis
Handelsblatt
Oktoberfest in München: Bier, Busen, B-Promis
18.09.2011
Zeigt her eure Krüge: Auf der Wiesn geht die Party ab – in diesem Jahr sind viele so genannte Promis mit dabei. Selbst Politiker geben sich ungewohnt volksnah. Ein Überblick über die diesjährige Gaudi.(…)
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Karl Kraus machte die Inflation der „Prominenten“ seinerzeit am Beispiel von – heute würde man sagen – Begleitdamen oder Hostessen, zum Gegenstand einer Glosse mit dem Titel „Prominente Pupperln“ *, die ihre Prominenz allein durch die Tatsache der Begleitung eines der Prominenz ebenfalls Unverdächtigen, etwa eines Kommerzienrates, erlangten. Heutzutage, allseits von Prominentendunst umweht, tut man sich schwerer im Umgang mit einer Spezies, die sich in den schnellen Brütern der Redaktionsstuben, unter dem Schutz übergroßer Druckbuchstaben und bunter Hochglanzbilder, in ungehemmter, vorwiegend ungeschlechtlicher Vermehrung befindet. Es scheint fast, als glaubte sich, als Folge ständiger Verrieselung der Redaktionsabwässer auf cerebralem Brachland, eine geschätzte Hälfte der Bildangucker verdächtig, zur Prominenz zu taugen. Wie erstünde sonst tagtäglich die Unsumme neuer Namen in Zeitungen und Gazetten, die, wie durch faulen Zauber über Nacht in Wort, Bild und Ton herbeigegaukelt, Aug und Ohr umschmeicheln, um einem hypertrophierten Prominentengedächtnis einverleibt zu werden, das sich parasitär den Rest der eben noch frei verfügbaren Hirnmasse angeeignet hat. Es gehört kaum mehr als ein Nichts dazu, etwa das Schnipsen von irgendeinem Bundbildseitenmacho, der die Finger sowieso in allen Spalten besonders der Klatschpresse zu haben hat, und es klicken alle Verschlüsse, auch die der Kameras. Wie schnell wird man verwechselt mit jemand oder man ist es tatsächlich selbst, und ehe man sich versieht, ist man prominent. Kaum dass eine Prominente oder eine Prominenter eine Tochter oder einen der Sohn bekommt, schon sind diese selbst – gewissermaßen von der Nabelschnur an – prominent oder wie es zeitstimmig zurechtgestutzt heißt: „Prommis“! Die richtige Schreibweise verlangt dem phonetischen Auswurf folgend ein Doppel-„m“ und rückt den Prommi akustisch in die Nähe zum „Dummy“ oder „Lemming“, bei denen man aber wenigstens weiß, dass sie echt sind. Eine Kamera, ein Foto und etwas Fernsehen vielleicht, und es hat es sich mit der Anonymität, deren Gegenteil, die „Prommität“, sich aufführt, als sei sie eine Aufmerksamkeit wert.
Wenn jemand erst mal richtig promminent ist, kann man fast nix mehr machen. Seibst Überwachungskameras oder Paparazzi wirken in der Folge eher hilfreich als bedrohlich. Das veröffentlichte Gedächtnis, dem jeder echte Gedanke verdächtiger vorkommt als der oberflächlichste Schwatzbrei, und ein Bedachtes gründsätzlich als ein vom Unwesentlichen Ablenkendes beargwöhnt, merkt sich noch Gesicht und Namen eines jeden Dumpfkopfes, der zum Titelbild mit Schlagzeile erkoren ward. Man kann sich kaum mehr ausreichend konzentrieren, möchte man doch sogleich den Hinweis auf einen Promminenten versäumen, den man versäumen möchte. Dabei brauchte niemand mehr die Augen aufzureißen, um der Promminenz ansichtig zu werden. Man müsste sie vielmehr schließen, um sicher zu gehen, dass man keines Promminenten ansichtig wird, so haben sie zugenommen, die Promminenten mit ihren Nachkommen. Diese Promminenz promeniert so promminent, das jeder Nichtpromminente sofort erkennt: Das muss ein Promminenter sein, der da so promminent daherwatschelt. Tag für Tag erstehen aus dem mir nichts dir nichts, aufgeblasen wie Heißluftballons, die Sternchen, Stars, Superstars, Megastars, Supermegastars, Ultrasupermegastars und ungezählte Subprime-Prommis, die vor hundert Jahren noch Kommis hießen und sich damals wie heute schon mal als Ladenschwengel oder Model für gewisse Stunden verdingen mussten, bevor sie Kaiser, König bzw. Gräfin Koks oder Schauspieler, Sportler und sonstige Hochstapler der Thermoaeroindustrie wurden, zu denen sich neuerdings die Riegen der TV Suppenkasper und ungezählte Schwatzbirnen in Diagonalformat gesellen. Dafür wird auf Teufel komm raus gecastet, was offensichtlich mit der Schublade und dem Kasten zu tun haben muss, in den eine gepackt wird oder auf dem einer nichts hat, die dafür das richtige Zeug, wenn schon nicht haben, so zumindest anhaben, und das landet umgehend auf einer Superstarbühne oder als Prommi-Star in einer Vorabendserie, wo die Neu-Promminenten von morgens bis abends verhanswurstet werden. Da prommeniert die Form, dünkt sich als Inhalt und verwechselt Design mit einem Dasein, das sich frei nach Karl Kraus darin erschöpft, dass man da und dabei ist. Der „Augenblick des höchsten Glücks“, der für ein „ganzes Menschenleben“ reichen könnte, wird dort nicht gefunden. Er reicht allenfalls bis zum Kater am nächsten Morgen oder Übermorgen. Und das unterscheidet die Promminenz von jener Prominenz, die in des Wortes Bedeutung herausragt. Aber von der war an dieser Stelle nicht die Rede.
*in Suche eingeben und lesen.
03. Dezember 2011 | Kategorie: Notizen aus Medienland, Notizen zur Zeit, Was man so lesen muss
„Was man so lesen muss, und wo man nicht weiter weiß .“, wird Aufgefundenes, Kleines etwas größer darstellen, damit auch im Kleinen in ferner Zukunft mehr Sorgfalt herrsche.Bei den meisten reicht es schon, sie nur zu zitieren, wie Karl Kraus sagte.
Kölner Stadtanzeiger vom 29.11.11
„Bin kein Blender und Betrüger“
Erstellt 29.11.11, 00:01h, aktualisiert 02.12.11, 00:23h
Karl-Theodor zu Guttenberg hat sich neun Monate nach der Aberkennung seines Doktortitels mit seinem neuen Interview-Buch „Vorerst gescheitert“ zurückgemeldet. Darin verteidigt der frühere Verteidigungsminister seine Fehler und greift die Uni Bayreuth an.
(…)
Doktorarbeit war „größte Dummheit“
Erneut versicherte Guttenberg, er habe bei seiner Dissertation „ s e l b s t v e r s t ä n d l i c h “ keinen Ghostwriter gehabt.„Wenn ich die Absicht gehabt hätte, zu täuschen, dann hätte i c h m i c h n i e m a l s s o p l u m p u n d d u m m a n g e s t e l l t, wie es an einigen Stellen dieser Arbeit der Fall ist.“ Zugleich bezeichnete er die unter persönlichem Druck entstandene Doktorarbeit, die über weite Strecken nachweislich ohne Quellenangabe abgeschrieben war, als „ g r ö ß t e D u m m h e i t m e i n e s L e b e n s “. Auch beim Krisenmanagement räumte Guttenberg Fehler ein. Zu Jahresbeginn von den Vorwürfen überrascht, habe er teilweise „völlig falsch reagiert“. Er betonte: „Eigentlich habe ich in diesen Tagen immer die f a l s c h e O p t i o n gewählt.“ Doch sei er kein Blender, wie Kritiker oft behaupten. „Das ist e i n f a c h ein A t t r i b u t , das meinem bisherigen Leben nicht gerecht wird.“
Kann jemand eines Gedanken fähig sein, der das Wort nicht hat, sondern das Wort ihn hat? Soll man auf den Menschen mit seinen Worten eindreschen, obwohl einen das unbestimmte Gefühl von Leichenschändung beschleicht? Wie angenehm empfindet man es da, wenn jemand das selbst erledigt. Es fängt mit seinem Missverständnis des Wortes „selbstverständlich“ an, das etwas bezeichnet, was sich aus sich selbst heraus versteht. Diese Bedingung bleibt unerfüllt, weil man von selbst nichts versteht. Er hat nicht die Absicht gehabt „zu täuschen“, wiewohl man seit Spickzettelzeiten weiß, dass schon deren Gebrauch einen Täuschungsversuch darstellt. Dasselbe gilt für seine mit Plagiaten gespickte Dissertation. Wer außer ihm selbst hätte sich „so plump und dumm“ anstellen können, „wie es an einigen Stellen dieser Arbeit der Fall ist,“ wo er doch einen dafür verantwortlich zu machenden Ghostwriter „selbstverständlich“ nicht gehabt haben will? Wer war dann Schreiber oder bestand eine Verwechslung von Abschreiben mit Abschreibung? Ich verstehe es trotzdem nicht. Jede Doktorarbeit ist von der Aufgabe her persönlich belastend, weil man sie auch als Plagiat selbst abschreiben muss, zumal wenn man es nicht war. Deshalb kann mit „persönlichem Druck“ eigentlich nur die Druckerei gemeint sein, die das Elaborat als Buch fertigte, und das folgende Eingeständnis „größte Dummheit meines Lebens“ verlangt zwingend die Ergänzung: bis jetzt! Denn die obigen Aussagen lassen mangels Einsicht Schlimmes erwarten. Wir erfahren nämlich, er sei „überrascht“ gewesen von den Vorwürfen. Kannte er seine Arbeit nicht? Er habe „teilweise völlig falsch reagiert“, sagt aber nicht, worauf und habe „in diesen Tagen immer die f a l s c h e O p t i o n „ gewählt. Natürlich muss es f a l s c h e L o t i o n heißen, dann erschließt sich der Sinn sofort. Das Wort Blender sei „ einfach ein Attribut“, dem ich zwar einfach zustimme, dass aber seinem „bisherigen Leben nicht gerecht wird.“ Was zu beweisen wäre! Man lese sich die obigen Sätze durch und erkläre mir den Sinn, der doch logisch nur darin liegen kann, dass er entweder der Schreiber der Arbeit war und sich beim Betrug getäuscht hat oder aber, da er nicht getäuscht hat und so selbst betrogen worden sein muss, war es der Schreiber der Arbeit, der getäuscht und ihn damit betrogen hat, der er nicht gewesen sein kann, weil er nicht täuschen wollte und es deshalb war, weil er es abgeschrieben und nicht selbst geschrieben hat und es deshalb nicht gewesen sein kann, obwohl er es war. Ein Selbstbetrug also! Jetzt haben wir´s endlich, „selbstverständlich.“
03. Dezember 2011 | Kategorie: Artikel, Notizen aus Medienland, Notizen zur Zeit, Was man so lesen muss
„Was man so lesen muss, und wo man nicht weiter weiß. „, wird Aufgefundenes, Kleines etwas größer darstellen, damit auch im Kleinen in ferner Zukunft mehr Sorgfalt herrsche.
Kölner Stadtanzeiger vom 2.12.11
Mann mit langem Atem
Elio Di Rupo kann Regierungschef in Belgien werden.
Es werde nur noch ein paar Tage dauern, verkündete Elio Di Rupo am vergangenen Sonntag, bis Belgien endlich eine neue Regierung bekommt.der Designierte Ministerpräsident hatte sich zuvor in einem 17-stündigen Verhandlungsmarathon mit sechs Parteien auf einen gemeinsamen Sparhaushalt für das kommende Jahr geeinigt.
Zeit wird es, schließlich steht Belgien seit eineinhalb Jahren ohne Regierung da – ein neuer W e l t r e k o r d. (…) Der Sohn italienischer Einwanderer kann neuer Ministerpräsident werden.
Wenn es denn so kommt, gäbe es mit dem 60-jährigen Politiker gleich d r e i R e k o r d e zu vermelden. Er wäre der erste frankophone Regierungschef seit drei Jahrzehnten, der Erste Sozialist in diesem Amt seit 1974 und weltweit der erste Männliche. Eine Frau gibt es schon, Islands l e s b i s c h e Premierministerin … .
Dass der studierte Chemiker s c h w u l ist , ist spätestens seit der D u t r o u x -Affäre 1996 bekannt. Im Zuge… ( Überflüssiger Bericht über Verleumdung Di Rupos. Anm. d. Red.denn: ) … konnte der V e r d a c h t z w e i f e l s f r e i ausgeräumt werden. (…)
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So lässt ein gewisser E l m a r K r a u s h a a r, Journalist und Schriftsteller, sich rekordverdächtig vernehmen, der die Adjektive frankophon und sozialistisch offenbar für vergleichbar informativ und bemerkenswert hält wie etwa lesbisch und männlich, und von dem ich – bei meiner zufällig heterosexuellen Ehre! – als einer, der sonst jede beliebige Form echter Liebe von Herzen begrüßt, nicht weiß und auf keinen Fall wissen will, ob der Herr schwul, bisexuell, asexuell,oder Hermaphrodit ist und nur achtlos einen Artikel runtergeschrieben hat, in dem er lesbisch, sozialistisch und männlich für rekordfähig hält. Wenn man verwirrt von so vielen möglichen Rekorden weiterliest, erfährt man, worum es eigentlich geht und was man so wenig wissen wollte, wie die private Vorliebe der isländischen Ministerpräsidentin, dass Elio Di Rupo schwul ist. Es folgt Unsägliches, unter absichtsvoller Verwendung des Namens Dutroux, eines pädophilen Kindermörders, das mit einem z w e i f e l s f r e i e n F r e i s p r u c h für Herrn Di Rupo geendet hat. Immerhin war er in dieser „A f f ä r e „ vor Gericht, will uns der Schreiber verdächtig zweifelsfrei und ohne jeden Skrupel vermelden, ungeachtet des unzweifelhaft erfolgten z w e i f e l s f r e i e n Freispruches. Was haben solche Nachrichten, um den Begriff Niveau zu vermeiden, in einer normalen Tageszeitung zu suchen? Nichts! Und das meiste Andere auch nicht! Es wäre ein paar bunten Gazetten oder wie derlei heißt, sicher ein paar schwul-sozialistisch-frankophone Zeilen wert gewesen und an der richtigen semivoyeuristischen Adresse bestens untergebracht, wo schwul und lesbisch für einen Rekord immer gut genug ist. Herrn Kraushaar durfte deshalb darauf hoffen, wie alle Nur-für-denTag-Scheiber, dass keiner über die ersten Sätze hinweg käme, dass nämlich ein Papierkorb den Artikel vorher gnädig aufgenommen haben würde, wohin solche Art von „Information“ von vornherein gehört hätte. Leider habe ich weitergelesen.
29. November 2011 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Notizen zur Zeit, Wilhelm II
Karl Kraus verlas in Innsbruck schier unglaubliche Augenzeugenberichte über Wilhelm II. Kaiser von Deutschland, den Mitinitiator des ersten Weltkrieges. Er ging nach dem Krieg ins Exil nach Holland, tat so, als wäre nichts gewesen, und niemand zog ihn je zur Rechenschaft.
Die Zeitung schreibt: Große Skandale bei einer Karl Kraus-Vorlesung in Innsbruck.
Der Korrespondenz Herzog wird aus Innsbruck telegraphiert: Bei einer Vorlesung, die der Schriftsteller Karl Kraus gestern Abend hier hielt, kam es zu einem ungeheuren Skandal. Als Kraus aus seiner Schrift »Die Letzten Tage der Menschheit« einige Kapitel vorlas, kam es bei der Verlesung des Vortrages »Kaiser Wilhelm mit seinen Generalen« zu furchtbaren Lärmszenen. Von der Galerie herab ertönten Pfuirufe …
Fakt ist, dass die vorhergehende Meldung bis auf die Tatsache der Vorlesung frei erfunden war, vielmehr waren die Zuhörer sprachlos von dem Gehörten. Das hätte die Presse, das hätten die Unbelehrbaren gern anders gehabt. Man lese im Folgenden selbst.
Die folgende „Würdigung“ sollte in die Geschichtsbücher, denn bei zu vielen ist die Botschaft über diesen Versager auf dem Kaiserthron noch nicht angekommen. Die Hervorhebungen wurden hier aus drucktechnischen Gründen etwa wie in „Die Fackel“, aber „fett“ abgedruckt. Die unten erwähnte Szene „Wilheln und die Generale“, wurde in „Die letzten Tage der Menschheit“ veröffentlicht.
DIE FACKEL
Nr. 531—543 APRIL 1920 XXII. JAHR S. 196 -306
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…Ich habe ihnen gesagt, dass ich den Berichten entsetzter Augen- und Ohrenzeugen manche Anregung zu der Szene »Wilhelm und die Generale« verdanke. So die widerwärtige Frage an den einen Flügeladjutanten, seinen erotischen Geschmack betreffend, die in Donau-Eschingen gesprochen ward und für die nicht Wilhelm, sondern ich ein Pornograph genannt wurde; sie war, als Eingriff in eine eheliche Intimität, noch weit abscheulicher als die an einen erfundenen Namen geknüpfte Wendung. Ferner jenen scherzhaften Fußtritt für den andern Flügeladjutanten, der sich in Schönbrunn ereignet hat, und zwar im Beisein Franz Josefs, des Prinzregenten und von allem was dazu gehört, auf der Szene des höchsten Zeremoniells, das sich die untertane Phantasie ausmalt, vor den verblüfften Vertretern aller Höfe. Ich habe nichts als den Schauplatz dieser Grässlichkeiten verändert, ihn ins deutsche Hauptquartier verlegt und die Rüpelszene mit dem Bombast der Gottesaufmachung kontrasthaft verbunden. Das Material zu dem eigenartigen Unfug, den ich den gekrönten Tollhäusler mit seiner Generalität treiben lasse — die heute kaum die Unbefangenheit aufbringen wird, als das letzte, was ihr geblieben ist, ausgerechnet die Ehre vorzuweisen — entstammt dem Werk »Der Seekrieg« von Kontreadmiral Persius (Verlag der Weltbühne, Charlottenburg 1919), aus dem ich hiermit die folgenden Stellen zitiere:
— — Die schon vorliegenden Veröffentlichungen und die sicherlich noch zahllosen nachfolgenden über Wilhelm den Zweiten werden auch Dem, dessen Blick bisher byzantinisch verschleiert war, klar machen, dass von Pflichttreue, ernster Auffassung seiner Stellung und dergleichen nicht die Rede sein kann. Krasser Materialismus war die Triebfeder für fast jede Handlung des Exkaisers. — —
— — Der Gedanke, dass Wilhelm der Zweite, einer seiner Söhne oder sein Bruder Heinrich ernste Arbeit leisten könnten, ist einfach absurd. — —
— — Die guten Eigenschaften der meisten Mitglieder des Seeoffiziercorps wurden durch den übeln Einfluss Wilhelms des Zweiten vielfach ertötet. Kriecherei nach oben, Fußtreten nach unten, ungesundes Strebertum, Genusssucht, Bombastereien wurden durch ihn großgezogen, und dem Material hat er durch sein Dreinreden in die Kriegsschiffkonstruktion unendlich geschadet. Unter dem Motto: »Mehr scheinen als sein« entstand so mancher Kriegsschiffbau. Es war im Königlichen Schloss zu Berlin, am 25. Februar 1905: ich war aus Ostasien in die Heimat zurückgekehrt und hatte Wilhelm dem Zweiten die Abgabe meines Kommandos zu melden. Ich erzählte ihm, dass die Chinesen mein Schiff mit geringschätzigen Augen betrachtet hätten, weil es nur Einen Schornstein führte. Schiffe mit mehreren Schloten, auch wenn sie schwächer armiert waren, hätten sich der Achtung dieser Kinder in weit höherm Maße erfreut. »Nein, nein, so ists überall, nicht nur in China«, wurde ich unterbrochen. »Die Menschen wollen Sand in die Augen gestreut bekommen. Klappern gehört zum Handwerk, das sage ich Tirpitz immer. Powerful, powerful muss solch ein Kasten ausschauen. Das ist die Hauptsache.« — —
Im Kreise des Personals der Marine erfreute sich Wilhelm der Zweite keiner Sympathien. Die Offiziere der »Hohenzollern« — die Garde — und ähnliche Günstlinge unterdrückten selbstverständlich jede Kritik, aber sonst wurde offen über den Kaiser geschimpft. Man nahm ihn nicht ernst, wusste, dass er ein Scharlatan war.
Dem Korrespondenten der ‚Daily Chronicle‘ hat Wilhelm der Zweite erklärt, dass seine Generale ohne seine Zustimmung gemacht hätten, was sie wollten. Das taten sie, und das taten mehr oder minder alle Offiziere bereits im Frieden. Die zahllosen Allerhöchsten Kabinettsordres wurden mit einem Lächeln gelesen und beiseite gelegt. Niemand richtete sich danach. »Je mehr Luxus und Wohlleben um sich greifen, umso mehr hat der Offizier die Pflicht …« Wer kennt sie nicht, alle die leeren Worte! Luxus und Wohlleben wurden im Offiziercorps durch Wilhelm den Zweiten großgezogen.
Wilhelm der Zweite hat — wenn auch nur »mit dem Munde« — unsre Flotte geschaffen, leider, denn sie war der ureigenste Grund des Krieges und unsrer Niederlage. Ohne unsre Flotte hätte sich Großbritannien niemals unsern Feinden gesellt. Aber was tat nun Wilhelm der Zweite im Kriege für die Flotte? Er erschien oft in Kiel und Wilhelmshaven und hielt Ansprachen. Nach der Schlacht vor dem Skagerrak sagte er, am fünften Juni an Bord des Flotten-Flaggschiffs in Wilhelmshaven, zu der Abordnung der Mannschaften sämtlicher Schiffe: »Die englische Flotte wurde geschlagen. Der erste gewaltige Hammerschlag wurde getan, der Nimbus der englischen Weltherrschaft ist geschwunden. Ein neues Kapitel der Weltgeschichte ist von euch aufgeschlagen. Der Herr der Heerscharen hat eure Arme gestählt, hat euch die Augen klar gehalten. Kinder, was ihr getan habt, das habt ihr getan für unser Vaterland, damit es in alle Zukunft auf allen Meeren freie Bahn habe für seine Arbeit und seine Tatkraft …«Ein sehr loyaler, äußerst königstreuer alter Seeoffizier, der die Schlacht mitgemacht hatte und bei der Rede anwesend war, sprach bald darauf die folgenden Worte: »Wir lagen mit unsern arg zusammengeschossenen Schiffen am Bollwerk. Die vielen Toten und Verwundeten wurden an Land geschafft. An den Kais standen die schwarz gekleideten Angehörigen, Frauen und Kinder weinten herzzerbrechend. Uns war gar nicht siegestrunken zu Mut. Wir wussten, dass dies die erste und letzte Schlacht gewesen war, die wir schlagen konnten. Unerhörtes Glück hatten wir gehabt, undenkbar, dass es noch einmal so gut für uns abgehen würde. Da kam der Kaiser an Bord, sehr aufgekratzt, übersät mit Orden, umgeben von seinem großen Gefolge, das lachend gnädigst rechts und links Händedrücke und Glückwünsche austeilte. Die bombastische Ansprache des Kaisers, der ganze Zauber war mir so widerwärtig, dass ich mich schüttelte. Ich ziehe die Uniform aus, sobald es möglich ist.«
So also war die Wirkung »kaiserlichen« Gebarens! Überall verscherzte sich Wilhelm die Sympathien; von Keinem, der sich ein bisschen Rückgrat bewahrt hatte, konnte er geachtet werden.
In einem norwegischen Hafen wars. Wilhelm kehrte an Bord zurück. Wir Offiziere standen am Fallreep zur Begrüßung. Wilhelm stieg »high spirits«(d.h. betrunken. Anm. d. Red.) die Treppe herauf. Er schwankte ein wenig. Wir konnten ein despektierliches Lächeln nicht unterdrücken. Wilhelm bemerkte es und rief mit einer drastischen Handbewegung:
»Was, Ihr verf… Kerls, wollt Ihr euern Obersten Kriegsherrn auslachen? Ich werde euch …«
Ein Kreuzer hielt Schießübungen ab. Wilhelm an Bord. Heiterer Sonnenschein, warmes schönes Wetter. Wilhelm war in bester Laune. Hier und dort, wie er das bei solchen
Gelegenheiten liebte, teilte er mit seiner starken rechten Hand Schläge aus an — Bevorzugte, ulkte überall herum. Sein Leibmedicus, der
Generalarzt … stand auf der rechten Seite der Kommandobrücke, am hintern Geländer. Dem alten Herrn war das lange Stehen wohl beschwerlich. Traumverloren schaute er,
hintenüber gelehnt, aufs glitzernde Meer, in den blauen Himmel und ließ sich wohlig von der warmen Sonne bescheinen.
Da sprang Wilhelm auf ihn zu, griff ihm mit der rechten Hand zwischen beide … und rief ihm einige Worte zu, die ich, weil ich einige Schritte entfernt stand, nicht genau hören konnte. Der arme Generalarzt taumelte vor wahnsinnigem Schmerz und krampfte sich an das Geländer, um nicht niederzusinken. Kreidebleich war er geworden. Wilhelm war anfangs in ein tolles Gelächter ausgebrochen, wandte sich aber, als er die Wirkung seines Zugriffs sah, stumm ab und ging auf die andre Seite der Brücke. Es sollte wohl ein Scherz sein, aber es war ein höchst übler Scherz und ein unanständiger, besonders zu verurteilen, weil das Signalpersonal und verschiedene Matrosen den Vorfall mit ansahen.
Auf einem Schiff, mit dem Prinz Heinrich längere Zeit auf der ostasiatischen Station geweilt hatte, gab es bei der Heimkehr in Kiel Inspizierung durch Wilhelm. Es war im März
und das Linoleum auf der Kommandobrücke schwitzte bei der feuchten Witterung viele dicke Tropfen aus. Wilhelm war in übermütigster Laune und Riss einen Witz nach dem andern. Sein Flügeladjutant Admiral … stand vor ihm, mit dem Rücken zu ihm. Plötzlich sauste die rechte Hand Wilhelms mit aller Wucht auf des Admirals hintere Front nieder, so dass dieser sich vor Schmerzen krümmte. »Sind Sie verrückt geworden? P…. Sie mir doch nicht immer auf die Stiebeln«, schrie Wilhelm ihn an. Die breite große Kommandobrücke des Panzerkreuzers war voll von Offizieren, Unteroffizieren und Matrosen, die das Schauspiel grinsend mit ansahen. Kann Jemand ermessen, was solch ein Gebaren Wilhelms für einen Offizier bedeutete, der mit heißer Liebe an seinem Beruf hing, der loyal seine Kräfte in den Dienst seines Obersten Kriegsherrn zu stellen bemüht war? Nur Der kanns, der sich in ähnlicher Situation befand. Der weiß, wie einem der Ekel in den Hals stieg, wie man Jenen, der einem alle Begeisterung vernichtete, hätte anspeien mögen. Mir war an dem Tage die Freude über das Wiedersehen mit der Heimat geraubt. Als wir Offiziere am Schluss der Inspizierung, bevor Wilhelm von Bord ging, zusammen mit ihm für die ‚Woche‘ photographiert wurden, barg ich meinen Kopf hinter den Rücken eines Kameraden — ich wollte nicht mit S. M. auf einem Bild erscheinen. Und solche Fälle waren keineswegs Ausnahmen. Wie häufig machte man sich im engern Kameradenkreis Luft mit Worten wie: »Dieser Idiot!« oder: »Den Kerl kann ja kein Mensch ernst nehmen.« Und obgleich nur Eine Stimme über Wilhelm herrschte, obgleich alle ältern Seeoffiziere darin einig waren, dass er die Flotte und das ganze deutsche Volk dem Verderben zuführe, fand sich Niemand, konnte sich unter den obwaltenden Verhältnissen Niemand finden, der den Mut zur rettenden Tat aufgebracht hätte. Erst die Tragödie des viereinhalbjährigen Krieges führte zur Katharsis.
Wer mir vorwirft, ich hätte hier übertrieben, dem empfehle ich das köstliche Porträt Wilhelms des Zweiten von Johannes Fischart, das in der ‚Weltbühne‘ erschienen ist. Und wie ein andrer Seeoffizier — Admiral Foß — über seinen Obersten Kriegsherrn denkt, das entnehme man einigen Stichproben aus seinen »Enthüllungen über den Zusammenbruch«. »Wilhelm der Zweite war von vorn herein von der Überzeugung durchdrungen, dass ein durch Gottes Gnade an die Spitze eines Volkes gestellter Fürst Alles könne. Daraus entwickelte sich, geschürt durch eine grade bei seiner Veranlagung besonders verderbliche Vergötterung seitens seiner Umgebung eine schließlich krankhaft gewordene Eitelkeit, die dahin führte, dass er glaubte, die Fähigkeiten zu besitzen, sein eigner Kanzler und Generalstabschef sein zu können. Er duldete keine Einwendungen gegen seine Ansichten und Befehle. Wer sich zu Vorstellungen für verpflichtet hielt, wurde entfernt. So ist es gekommen, dass es schließlich keine aufrechten Männer mehr um ihn gab. Und wenn seine Verteidiger manche der Unbegreiflichkeiten seiner Handlungen seinen Beratern zur Last legen wollen, so muss darauf erwidert werden, dass er selbst daran schuld war, wenn diese nichts taugten. Es fehlte Wilhelm an Charakter. Es ist entschieden irrig, wenn von ihm als einem pflichtgetreuen Mann gesprochen wird. Sein ganzes Tun war nur von persönlichen Launen und Neigungen bestimmt. Überall wollte er mitreden, auch in Sachen, von denen er schon deswegen nichts verstehen konnte, weil er sich ein Urteil nur auf Grund von Studien hätte bilden können, zu denen ihm die dazu erforderliche Zeit und der dazu nötige Fleiß fehlten. Sein Wissen war ganz oberflächlicher Art. Es gab kein Gebiet, in das er sich versenkt hätte. Weder taktisch noch strategisch kam er als Führer in Betracht, weil dazu neben andrer Begabung Nerven gehören, und die besaß er nicht. Alles trieb er in oberflächlicher, spielerischer, dilettantischer Art, ließ eine Sache fallen, die er zuerst mit Feuer aufgenommen hatte, da sie nach kurzer Zeit das Interesse für ihn verlor, oder kümmerte sich nicht mehr um sie, wenn er auf nicht ohne weiteres zu überwindende Hindernisse stieß. Seine Überzeugung, alles zu verstehen, ging so weit, dass er sich sogar an einem vom Reichsmarineamt ausgeschriebenen Wettbewerb betreffend den Entwurf von Plänen für den Bau zu einem Panzerkreuzer beteiligte. Natürlich fehlte ihm dazu die erforderliche technische Bildung, und so wurde ihm ein Techniker als Mitarbeiter und Handlanger zur Verfügung gestellt. Das Unglück wollte aber, dass dieser lange der Praxis entrückte Herr seiner Aufgabe ebenso wenig gewachsen war, und so erklärt es sich, dass, wie bei der Prüfung festgestellt wurde, der kaiserliche Kreuzer umgefallen sein würde, wenn er ausgeführt und zu Wasser gebracht worden wäre. Wilhelm duldete keinen aufrechten Mann in seiner Umgebung. Schon seine krankhafte Eitelkeit erlaubte nicht, dass sich in seiner Nähe ein geistig hochstehender Mann sehen ließ. Er dachte nur an sich und sein Vergnügen. Ein sehr kluger und hoher Seeoffizier sagte im Sommer 1918: ‚Wehe dem Lande, an dessen Spitze ein solcher Feigling steht‘!«
Genügt das? Man erkennt, dass Admiral Foß weit schärfer spricht, als ich es getan. Danach brauch’ ich wohl nichts mehr von der andern Seite hierherzusetzen, von der Partei des Grafen Schulenburg, der »die liebe starke Hand unter Tränen zum letzten Mal küsste«, bevor Wilhelm als Deserteur über die holländische Grenze floh.
Der Admiral Foß ist ein Alldeutscher. Eine Stelle aus dem »Porträt«, auf das Persius verweist, betrifft die von mir verwertete Kaviar-Episode und lautet:
Der Kaiser war, am ersten Juli 1901, auf dem kleinen Kreuzer »Nymphe«, um in der Lübecker Bucht einem Torpedo-Versuchsschießen im Anschluss an die Kieler Woche beizuwohnen. Ein großes Gefolge war an Bord. In den Zwischenpausen der Anläufe kam Wilhelm ins Kartenhaus und erledigte hier Unterschriften. Tirpitz legte ihm die Schriftstücke vor. Als es ihm zu langweilig wurde, blickte er zu dem Offizier neben sich auf:
»Schrecklich, dieser Tirpitz mit seiner Tinte! Ein Glas Sekt wär’ mir lieber.« »Zu Befehl«, schnarrte der Offizier, sprang hinaus nach einer Ordonnanz und ließ eine Flasche besten Heidsieck kommen. (Für den Kaiser musste freilich der französische Champagner mit dem Etikett »Burgeff-Grün« versehen werden, weil er zu glauben wünschte, dass er vorzüglichen deutschen Sekt vor sich habe.) Der Kaiser trank das Glas bis auf einen kleinen Rest aus, ging, impulsiv, auf die Kommandobrücke, rief auf das Verdeck, wo sich das ganze Gefolge in Gala aufgestellt hatte: »Ha — Hahnke, Sie möchten wohl auch Sekt«, und schwippte den Rest auf das Gefolge. »Zu gnädig, Euer Majestät«, stammelten die Herren da unten und verbeugten sich tief. Der Kaiser kam belustigt ins Kartenhaus zurück und verlangte etwas zu essen. Man reichte ihm geröstete Kaviarschnitten. Er schmierte von einer mit dem Zeigefinger der rechten Hand den Kaviar und die Butter herunter, strich sie sich in den Mund, trat wieder hinaus auf die Kommandobrücke, rief hinunter: »Ha — Hahnke, möchten wohl auch Kaviar haben …!« und warf das leere Stück Brot unter die Hahnke und Konsorten. Ein neues: »Zu gnädig, Euer Majestät« war die devoteste Antwort. Dann erkundigte Majestät sich ganz leise bei dem Offizier nach der Geschwindigkeit dieses Kreuzers und fragte, belehrt, hinunter: »Ha — Hahnke, wieviel Knoten fährt das Schiff in der Stunde?« Und als der Generaloberst stammelnd seine Unkenntnis zugestand: »Ha — Hahnke, wissen auch garnichts. Einundzwanzig Knoten, und Sie sind der zweiundzwanzigste.« »Zu gnädig, Euer Majestät.«
Dies, mit dem Herrn der Heerschaaren im Lästermaul, ist die Gestalt, die die Menschheit regiert und in den Tod geführt hat. Wie? ich habe, als ich sie vorführte, nicht diese, sondern mich in meiner »wahren Gestalt gezeigt«? Sie sahen in Innsbruck »die Mache eines eitlen Menschen, der klug genug war, sich den Anschein eines Gottesstreiters zu geben und so die Besten zu täuschen«? Vielleicht sehen sie sie jetzt! Sie erkannten »die namenlose Geschmacklosigkeit, den Wehrlosen zu treten«, sie wurden sich »mit einem Schlage bewusst«, hier sei einer »ohne Maske«? Ja, wer vermöchte sich denn auch dem Eindruck dieser Szenen an Bord, da eine animierte Majestät handgemein wird, zu entziehen, wer erlebte nicht schaudernd »die ekelerregende Minute der Offenbarung solcher Niedrigkeit«? Welche Enthüllung! Welch eine Wendung durch Gottes Fügung! Millionen starben und dieser Kaiser machte sich einen Jux. Der Weltmord war ein Trunkenheitsdelikt. Aber er war sich dennoch der Tat bewusst. Soweit bewusst: »die Früchte seiner Kälte einzuheimsen, die ihm freilich jede innere Anteilnahme verbot, und seine Eitelkeit damit zu füttern«. Wer sähe es nicht endlich! »Und wer sein von ekelhafter Eitelkeit gesättigtes Gesicht sah, als die Bravorufe seiner Getreuen die Empörung Ehrlicher niederschrieen, wer auf diesem Gesicht, deutlichst für alle, nur die Befriedigung las, dass um ihn da unten gerauft werde«, da unten, wo die Millionen starben, »der wusste alles von ihm«! Ich wusste es, vielleicht wissen sie es jetzt auch. »Wäre es ihm auch nur eine Sekunde ernst gewesen um das, was er mit tönenden Worten am Ende vortrug«, noch am Ende, »er hätte sich nie — niemals so lächelnd, so befriedigt zeigen können. Der blaue Mantel fiel, aber es war kein Erz darunter, nur ein Komödiant«. So ist es, so muss, wer Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, es endlich erkennen; denn Donner und Blitze eines, der als Gott aus der Kriegsmaschine zu der Menschheit sprach, sie waren nur »die Gemeinheit und letzte Aussage einer Verworfenheit, die, den eigenen Hass auszuspeien und eine Eitelkeit des Umstrittenseins zu befriedigen, selbst die Tragik —denn Tragik ist es doch! — nicht respektiert«. Merken die Innsbrucker, dass ich noch immer vom Weltkrieg spreche, »der längst zu Ende ist«? Haben sie mich nicht mit dem Wilhelm verwechselt, den ich ihnen vorführte, und den Wilhelm mit mir?
Es kann nicht anders sein! Sie haben Gestalt und Gestalter verwechselt. Daher der Lärm! Sie haben in Innsbruck gegen die Zumutung getobt, dass ein solcher Ausbund Kaiser aller Deutschen gewesen sein will, und es mich entgelten lassen. Merken sie schon, wie sie’s gemeint haben, und dass ich liebe, wenn ich hasse? Sie liebe ich nicht und von ihnen würde ich die Liebe nicht lernen. Es sind viele Schieber unter ihnen; doch die andern sind unehrlicher. Sie werden mir kein Denkmal errichten. Es wird mir jenes genügen müssen, das ich ihnen errichtet habe. Und noch ein solches sollte ihnen zu denken geben. Ich habe an der Küste eines norwegischen Fjords vor vielen Sommern einen Leichenstein gesehen, der dem Andenken eines dort plötzlich verstorbenen deutschen Offiziers errichtet ist, der gleichfalls Hahnke geheißen hat, aber nur Leutnant war. Einheimische waren zu einer Auskunft erbötig. Der Leutnant Hahnke hatte einen jener Späße, die die Majestät, wie gewohnt, an Bord trieb und den er als Angriff auf seine Menschenehre empfand, mit einer leiblichen Berührung seines Kaisers beantwortet und aus dem hierdurch entstandenen Konflikt mit der Offiziersehre augenblicklich den Weg in den Selbstmord gefunden. Ehre seinem Andenken! Er war der einzige Deutsche, der mit Wilhelm II. die Sprache gesprochen hat, die Wilhelm verstand. Hätten sich zwanzig Jahre später so mutige Männer gefunden, der größte Leichenstein, der je einen Planeten überragt hat, wäre dem unsern erspart geblieben.
Nachdem er aber errichtet war, erhob sich der Prinz Joachim von Hohenzollern von seinem Tische im Hotel Adlon, ließ »Deutschland, Deutschland über alles« spielen und befahl einem Amerikaner, der auf Krücken ging, sich zu erheben. Er befahl es auch einem Holländer, und als es auch die Franzosen nicht tun wollten, warf er mit deutschen Sektflaschen nach ihnen. In dieser großen Zeit brachten die illustrierten Blätter Bilder, auf denen der deutsche Soldat, von dem auslieferungsgierigen Feind am Arm gehalten, von der deutschen Mutter Abschied nimmt; es war jener, der ein Kind in den Armen der Mutter getötet hatte. Und der deutsche Offizier nahm herzbewegenden Abschied von dem deutschen Mädchen; es war jener, der nachhause geschrieben hatte: »Und dann gibt es hier junge Mädchen, die hübsch zu entjungfern sind«. Dass ein harter Sieger, der in fünf Jahren deutsch gelernt hatte, die Macht zur Sühne des Unrechts missbrauchen wollte, schrie zum Himmel, nicht unser Tun. Eine Woche nach dem Durchbruch bei Adlon feierte Berlin Seelenaufschwung und in Deutschland gab es zehntausend Tote. Wenn diese tiefe Unbelehrbarkeit, die aus dem Schaden so wenig klug ward, dass sie ihn wieder erleiden möchte, vor nichts ihrer Weltunmöglichkeit inne wird, so sollte sie sich doch fragen, ob sie damals, als sie trunken in die große Nacht dieser Bluthochzeit taumelte, darauf gefasst war, dass ihr einmal der Bezirksrichter dies Todesurteil schreiben würde: dass jedem Diebstahl ein Milderungsgrund zuteilwird gemäß der »nach dem Kriege allgemein erfolgten Herabsetzung der Moral«. Und ob der nicht wahr gesprochen hat, der ihnen prophezeite, dass sie so viel Glorie erwerben werden, um so viel Dreck zu behalten! Sie, die uns die Zukunft gemordet haben, wollen, dass ihre Vergangenheit begraben sei? Nichts ist lebendiger als die Vergangenheit, nichts haben sie außer ihr! Das von Mordlust und Raubgier gezeichnete Gesicht, das die Lüge ihnen verklärt hatte, die Totenmaske dieses Zeitalters, hält durch!