Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

Glossen. Von Karl Kraus

29. April 2013 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel"

DIE FACKEL

Nr. 338 6. DEZEMBER 1911 XIII. JAHR S. 1- 6


Glossen

Von Karl Kraus

Ein weitverbreitetes Missverständnis

ist der Glaube an meine Feindseligkeit. »Sie zu überzeugen, versuche ich nicht. Aber ich darf trotzdem sagen, dass Sie mir in meinen Motiven und Absichten Unrecht tun.« Oder: »Ich gestehe, dass es mich kränkt, dass Sie mir mit solchem Übelwollen, ja mit solcher Feindseligkeit gegenüberstehen.« Welches Vorurteil! Ich stehe niemand in der Welt gegenüber und bin das Wohlwollen selbst. Ohne Ansehen der Person reagiere ich auf Geräusche, und interessiere mich nicht für die Richtung, aus der sie kommen. Wäre der Inhalt meiner Glossen Polemik, so müsste mich der Glaube, die Menge der Kleinen dezimieren zu können, ins Irrenhaus bringen. »Sie haben mich kürzlich zum Objekt Ihrer Satire genommen«, schreibt einer, streicht »genommen« und setzt dafür »gewählt«. Ich aber kann mit ruhigem Gewissen sagen, dass ich mir noch nie einen zum Objekt meiner Satire genommen oder gar gewählt habe. Hätte ich da etwas dreinzureden, so wäre ich nicht Satiriker und würde eine bessere Wahl treffen. Denn die Satire wählt, nimmt und kennt keine Objekte. Sie entsteht so, dass sie vor ihnen flieht und sie sich ihr aufdrängen. Die Würdigkeit der Objekte mag den Wert der Polemik bestimmen; aber Name oder Andeutung eines Kleinen, oder was irgend von ihm in einer Satire steht, ist Kunstelement. Wie ein Schnäuzen, wie die Trompete eines Beiwagenkondukteurs oder wie sonst etwas, das ich mir nicht wähle; wie sonst ein Stoffliches, von dem ich den Stoff nicht wähle, sondern abziehe. Kann ich dafür, dass die Halluzinationen und Visionen leben und Namen haben und zuständig sind? Kann ich dafür,
dass es den Münz wirklich gibt? Habe ich ihn nicht trotzdem erfunden? Wäre er Objekt, ich wählte anders. Erhebt er Anspruch, von der Satire beleidigt zu sein, beleidigt er die Satire. Außerhalb dieser mag er ein Dasein haben, aber keine Berechtigung. Der Leumund mag in Ordnung sein, kommt aber für die Satire nicht in Betracht. Motive und Absichten prüfe ich nicht. Die sind unbesehen gut oder schlecht. Nichts ist der Satire egaler. Die Polemik
kann es als Einmischung in ihr Amt empfinden, wenn das Objekt sie zu überzeugen versucht, oder sie mag mit sich reden lassen wie ein Amt. Der Satire Vorstellungen machen, heißt die Verdienste des Holzes gegen die Rücksichtslosigkeit des Feuers ins Treffen führen. Nun muss ja freilich der Brennstoff kein Verständnis für die Wärme haben und der Anlass mag sich so weit überschätzen, dass er sich durch die Kunst beleidigt fühle. Aber das Verhältnis der Satire zur Gerechtigkeit ist so: Von wem man sagen kann, dass er einem Einfall eine Einsicht geopfert habe, dessen Gesinnung war so schlecht wie der Witz. Der Publizist ist ein Lump, wenn er über den Sachverhalt hinaus witzig ist. Er steht einem Objekt gegenüber, und wenn dieses der polemischen Behandlung noch so unwürdig war, er ist des Objektes unwürdiger. Der Satiriker kann nie etwas Höheres einem Witz opfern; denn sein Witz ist immer höher als das was er opfert. Auf die Meinung reduziert, kann sein Witz Unrecht tun; der Gedanke hat immer Recht. Er stellt schon die Dinge und Menschen so ein, dass keinem ein Unrecht geschieht. Er richtet die Welt ein, wie der Bittere den verdorbenen Magen: er hat nichts gegen das Organ. So ist die Satire fern aller Feindseligkeit und bedeutet ein Wohlwollen für eine ideale Gesamtheit, zu der sie nicht gegen, aber durch die realen Einzelnen durchdringt. Das Lamentieren ist unnütz und ungerecht. Die sich beleidigt fühlen, unterschätzen mich; sie halten sich für meine Objekte, und da fühle ich mich beleidigt.

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Sie können nichts dafür

Mache ich die Reporter verantwortlich? Das konnte man nie glauben. Die Institution? Das tat ich vor zehn Jahren. Das Bedürfnis des Publikums? Auch nicht mehr. Wen oder was mache ich verantwortlich? Immer den, der fragt.

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Aber die Presse macht die Reporter und die Abonnenten verantwortlich. Alle Schande wälzt der Leitartikel auf die Kleine Chronik. Immer entledigt sich vorn einer des Drecks, der hinten gesammelt wird. Sie verleugnen einander. Als die hinten Orgien der Neugier in einem Totenzimmer feierten, rang vorn ein Ahnungsloser die Hände, einer, der glaubt, dass der Storch die Kinder bringt, und nicht weiß, dass sie längst der Reporter bringt:

»Zwei alte Leute feiern ihre silberne Hochzeit. Kein großes Fest, nichts, was in die Öffentlichkeit dringt oder, wie jetzt so üblich, an die große Glocke gehängt wird …«

Die große Glocke beschwert sich darüber, dass man es an sie hängt! Ja muss es sich denn die große Glocke gefallen lassen? Wenn sie die Glöckner unterscheiden kann, kann sie sie nicht wählen? Oder unbildlich gesprochen: Ist es nicht widerwärtig, wenn eine alte Kupplerin sich darüber beschwert, dass, wie jetzt so üblich, viele Klienten kommen, und gar der Zeit nachweint, wo sie selbst ein unbeschriebenes Blatt war?

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Wenn ich die Verlorenheit der Welt an ihren Symptomen beweise, so kommt immer ein Verlorener, der mir sagt: Ja, aber was können die Symptome dafür? Die müssen doch und tun’s selbst nicht gern! — Ach, ich tu’s auch nicht gern und muss doch.

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Was wir hoffen

»Eine merkwürdige Verfügung. Den Volksschullehrern im Großherzogtum Sachsen-Weimar ist durch eine Verfügung des Großherzoglichen Staatsministeriums verboten worden, für die Tagespresse irgendwie journalistisch tätig zu sein.«

Die Verfügung ist merkwürdig, und zumal in Österreich sollte man sie sich merken. Hier, wo nicht einmal die Volksschullehrer die Macht haben, das Staatsministerium von der Mitarbeit an der Tagespresse zurückzuhalten! Die Verhinderung der Volksschullehrer — das ist nur ein bescheidener Anfang. Die Hochschulprofessoren zu zügeln, das ist die schöne Aufgabe, die der sogenannten Reaktion — dem Kinderschreck erwachsener Idioten — vorbehalten bleibt. Wenn wir aber erst so weit sind und die Kompagnie der bebrillten und der bezwickerten Intelligenz getrennt haben, dann lasset uns auch daran gehen, die Hochschulprofessoren von der Hochschule zu entfernen, und dann verbieten wir der Tagespresse, irgendwie journalistisch tätig zu sein! Überhaupt bin ich dafür, dass alles was jetzt besteht, bei Todesstrafe verboten und diese auch im Falle der Befolgung vorläufig vollstreckt wird.

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Was man im Traum aufsagen kann

… »Dass dieser Ruf besonders lebhaft aus Deutschböhmen
erscholl —« »Es gibt kein Deutschböhmen!« … Dieser Zwischenruf entfesselt eine ungeheure Lärmszene … Die Deutschen protestieren in lauten Rufen … während die Tschechen … Abzug Hochenburger! … Auf die Abzugrufe der Tschechen antworten die Deutschen mit demonstrativem Händeklatschen … Heil Hochenburger! …bemüht sich vergeblich, Ordnung zu schaffen … Deutsche und Tschechen stehen dicht gedrängt vor der Ministerbank … Über lebhafte Zurufe der Deutschen versucht der Justizminister … es gelingt ihm auch tatsächlich … welche jedoch kaum den dicht neben ihm stehenden Stenographen verständlich sind … Die Tschechen zeigen die deutliche Absicht …drängen mit Macht gegen den Platz … Von deutscher Seite eilen einige mit großer Körperkraft ausgestattete Abgeordnete … Wedra … Da hört man plötzlich einen schrillen Pfiff … Fresl … Die Deutschen sind im ersten Moment verblüfft … antworten aber bald mit ironischem Händeklatschen … großes Gedränge, aus welchem man die Hünengestalt … vergeblich bemüht … Die Situation droht in Tätlichkeiten auszuarten … Da erhebt sich … erklärt die Sitzung für unterbrochen … nimmt sein Portefeuille … verlässt, von den »Abzug!« – und »Pfui!«-Rufen der Tschechen begleitet, den Saal … kommt es zu einem drohenden Wortwechsel … getrennt … Fast eine halbe Stunde
tobt … Mittlerweile finden im Präsidialbüro Besprechungen … Um 3 Uhr 20 Minuten wird die Sitzung … unter lautloser Stille … erklärt, mit dem Ausdruck »Deutschböhmen« habe er nur jene Gebiete Böhmens bezeichnen wollen, die vorwiegend von Deutschen bewohnt sind …

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Der Historiker

» … Diese Anschauung ungefähr liegt folgender Äußerung des berühmten Historikers Dr. Heinrich Friedjung zugrunde, die er in liebenswürdiger Weise vor einem unserer Mitarbeiter abgab: Friedensaussichten ergeben sich in einem Kriege erst, wenn einer der beiden Teile zur Erkenntnis kommt, der Kampf sei aussichtslos….Dann erst kann in Konstantinopel die Friedenspartei ihr Haupt erheben…. So traurig es auch ist, so muss Europa dem Blutvergießen vorerst mit verschränkten Armen zusehen…. Die Waffen werden die Entscheidung darüber bringen, ob …«

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Der Psychiater

» … Njegus ist wiederholt abgestraft, er hat sich immer als gewalttätig erwiesen und man kann ihm schon von diesem Standpunkte aus ein derartiges Delikt zutrauen. Er hat sich auch keineswegs als solcher Held, als Altruist gezeigt, wie dies hier behauptet worden ist. Er hat sein Vermögen in kurzer Zeit verprasst, er hat sich infiziert …«

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Ohne Ansehen der Person

Einen vollgültigen Beweis für richterliche Unabhängigkeit hat einer im Prozess gegen den Parlamentsattentäter geliefert. Der Fall dieses Njegusch, der zuerst in der »Lustigen Witwe« und hierauf in der nach einer Idee von Viktor Leon verfassten österreichischen Politik vorkam, ist abgedroschen wie eine achthundertste Aufführung. Pikant wird die Chose nur durch die Einlagen. Der Justizminister leibhaftig tritt als Zeuge auf, und die Justiz, die in ihrer Unabhängigkeit es bisher nie glauben wollte, überzeugt sich endlich davon, dass es so etwas gibt. Das ist aber noch gar nichts.

»Es tritt hierauf Ministerpräsident Dr. Karl Graf Stürgkh vor die Zeugenbarre. Präs.: Exzellenz werden als Zeuge geführt, und ich brauche wohl nicht erst die Wahrheitserinnerung zu machen. Sie haben selbstverständlich die volle und reine Wahrheit auszusagen.«

Das ist kolossal. Der Präsident heißt Wach. Nicht: Sie werden selbstverständlich, sondern: Sie haben selbstverständlich. Es macht Eindruck. Auch der Präsident kann sich diesem Eindruck nicht entziehen. Er hat die Wahrheitserinnerung ohne Ansehen der Person gemacht. Aber jetzt sieht er die Person an. Ein ausgewachsener Ministerpräsident steht vor ihm. Was tut man da?

»Präs.: Darf ich Eure Exzellenz bitten, über die tatsächlichen
Eindrücke gelegentlich des Attentats Mitteilung zu machen?«

Der Zeuge erfüllt die Bitte. Gegen eine unabhängige Justiz ist eine Regierung immer entgegenkommend.

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Sieben Gentlemen und eine Zugereiste

»Gestern fand beim Bezirksgericht Margareten (Strafrichter Dr. G.) die Verhandlung statt, in welcher die 19jährige, aus London zugereiste Konservatoristin Gertrude Wright der wörtlichen und tätlichen Amtsehrenbeleidigung angeklagt war. Miss Wright fuhr nämlich am 23. Oktober in einem Wagen der Straßenbahn über die Favoritenstraße. Da sie dem Kondukteur damals einen Fahrschein vorwies, der keine Gültigkeit mehr besaß, wurde sie von ihm aufgefordert, eine neue Karte zu lösen oder den Wagen zu verlassen. Sie tat keines von beiden und der Kondukteur sah sich genötigt, am Rainerplatz den Sicherheitswachmann S. um Intervention zu ersuchen. Nach längerem vergeblichen Zureden, der Aufforderung des Kondukteurs nachzukommen, erklärte sie der Wachmann für arretiert, worauf sie ihm zwei Ohrfeigen versetzte und mit ihrem Geigenkasten den Kondukteur traf …. Kondukteur G. bestätigte die Klagedarstellung. Wachmann S. behauptete überdies als Zeuge, sie habe mit dem Geigenkasten auf den Kondukteur losgeschlagen. Er sei genötigt gewesen, einen zweiten Wachmann herbeizurufen, weil die Angeklagte sich weigerte, mitzugehen. Auf dem Wege zum
Kommissariat habe die Angeklagte dann zweimal versucht, davonzulaufen. Am Kommissariat selbst habe sie derartig geschrien, dass niemand mit ihr reden konnte. Der Möbelpacker E., ein Fahrgast, sagte aus, sie habe im Wagen gesagt: ‚Eine derartige Wirtschaft wie in Wien gibt es im Ausland nicht.‘ Als die Dame den Wagen verließ, sei sie halb vom Wachmann gezogen, halb vom Kondukteur geschoben worden. Der Zeuge Wemola, ein Hilfsarbeiter, erklärte auf Befragen des staatsanwaltschaftlichen Funktionärs, ob die Angeklagte den Wachmann geohrfeigt oder nur Abwehrbewegungen gemacht habe: ‚Das waren schon Ohrfeigen; ich werd’ doch die Ohrfeigen kennen.‘ (Heiterkeit.) Die Angeklagte erklärt, sie sei erst am 1. Oktober d. J. nach Wien gekommen; der Sprache nicht mächtig, habe sie die Worte des Kondukteurs und des Wachmannes nicht verstanden. Sie habe bereits zweimal Fahrscheine gelöst und dass sie nun noch einen dritten lösen solle, sei ihr nicht eingegangen. In der Aufregung habe sie wohl herumgefuchtelt, doch geohrfeigt und geschlagen habe sie niemanden. Auf Antrag des staatsanwaltschaftlichen Funktionärs Dr. v. K. trat der Richter schließlich den Akt an das Landesgericht ab, da das Verbrechen der öffentlichen Gewalttätigkeit vorzuliegen scheine.«

Der Hebung des Zugereistenverkehrs wird es nicht nützen. Ein besserer Gerichtsbeschluss wäre gewesen, die Wiener Einrichtungen zu ändern, wenn sie so sind, dass sie zu Ohrfeigen und einem Hieb mit dem Geigenkasten führen können. Man muss kein Zugereister sein, um bis zum Wunsche solcher Abwehr zu gelangen, und man muss nicht aus England kommen, um der Sprache dieses Landes nicht mächtig zu sein. Eine Miss, die mit ruhigen Nerven durch dieses Gedränge von Möbelpackern, Strafrichtern, Kondukteuren und Funktionären durchkommt, kann von Glück sagen. Der Hilfsarbeiter Wemola trägt auch nicht zur Hebung des Lebensmutes bei. Und dieses Verkehrsleben, bei dem man nur vorwärts kommt, wenn man halb vom Wachmann gezogen, halb vom Kondukteur geschoben wird, ist eine Katastrophe. Und kurzum, der Kulturmensch, dem dreimal etwas abgezwickt werden soll, wird grob. Wenn das Vaterland das nicht verträgt, so ist Zuzug fernzuhalten. Aber Fremde mit dem Wald- und Wiesengürtel anlocken und dann durch die Elektrische schuldig werden lassen, ist gemein.

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Notizen zur Zeit. Die Rente ist sicher bei der Versicherung. Von W.K. Nordenham

08. April 2013 | Kategorie: Artikel, Notizen zur Zeit

Politiker rechnen nicht wirklich, außer ständig mit dem Schlimmsten,am Liebsten dann, wenn damit auf keinen Fall zu rechnen ist. Tritt das Schlimmste tatsächlich ein, findet man nicht nur scheinbar eine vollkommen überraschte Handlungselite, sie ist es tatsächlich. So geschieht es regelmäßig, und so wird es auch der Riesterrente ergehen. Jenseits jeder Polemik  darf ein ind diesem Falle sogar Betrug am Bürger formuliert werden. Man muss nämlich kein mathematischer Überflieger sein, um den Nonsens der Rentenpolitk zu erkennen, einfaches Zusammenzählen reicht. Das beginnt mit dem Abschluss des Riester-Vertrages, der kein Rentenvertrag sondern in erster Linie ein Versicherungsvertrag ist.  Fragte man den Versicherungs a g e n t e n – nie passte der Name besser – nach den anfallenden Gebühren und der Provision, gesellte sich zum Fehlen jeder Transparenz die Abwesenheit der einfachsten Grundrechenarten hinzu. Man erfährt auf Nachfrage nichts Präzises, weil er vielleicht auch nicht weiß, was die Versicherung genau weiß, und beide nicht sagen, dass Provisionen und in der Folge Gebühren in namhafter Größe anfallen. Provision ist etwas, wie der Name sagt, wovon jede Versicherung eine V i s i o n hat, nämlich die des zu optimierenden Gewinns. Nach Einschätzung von externen Fachleuten zahlt der Bürger allein für den Abschluss des Vertrages zwischen 3000 € und 5000 € an Gebühren. Nicht auf einmal verlangt man die Summe ab, denn das wäre auffällig, sondern versteckt und verteilt über Jahre, damit kein Versicherungsnehmer etwas merkt und was deshalb kein Verkäufer auch genau zu beziffern sich in der Lage sehen will. Der Betrag muss in den folgenden Jahren mit den Beiträgen erst einmal „angespart“ werden, und er geht direkt an die Versicherung und ihre Agenten, bevor nach langer Zeit überhaupt ein Guthaben für den Versicherten selbst entstehen kann. Für den Verwaltungsaufwand der Kontoführung des Riesterkontos werden nämlich pro anno noch einmal gut 100 € berechnet. Das ist das Vielfache der Kosten eines Bankkontos, aber niemand scheint sich daran zu stören, weil man es nicht offenbart.  Es fällt halt viel Arbeit an, wenn der Computer alles ganz allein addiert. Aber man braucht ja auch nicht darüber sprechen, wenn man ebenso ungestraft davon schweigen darf. Was kann nach Jahrzehnten noch übrig bleiben? In jedem Fall zu wenig, um  sich nach den Grundsätzen eines ehrlichen Kaufmanns als Kunde gewürdigt zu sehen.

Zudem rechnen die Versicherungen inzwischen mit Lebenszeiten bei Männlein und Weiblein von sage und schreibe 100 Jahren bzw. 110 Jahren. Nicht dass die Menschen tatsächlich so alt würden, nein! Sie sehen nur so alt aus, weil die Rente durch Streckung auf 40 und mehr Jahre deutlich niedriger ausfällt, damit die Gewinne bei den Versicherungen verbleiben können. 15 Millionen Verträge seit 2002 mit Riester mal 3000 € bis 5000 €, das macht zwischen 45 und 75 Milliarden allein an Gebühren nur für den Abschluss. Mit 100 € als Verwaltungsgebühr multipliziert mit 15 Millionen lassen sich alljährlich weitere 1,5 Milliarden jährlich „erwirtschaften“. Man stelle sich vor, man hätte das Geld samt den Einlagen der Bürger in einen staatlichen Rentenfonds gesteckt, anstatt zuerst in die Taschen der Versicherungen, und der Staat hätte das Seine dazugetan und das seit zwölf Jahren. Da wäre bis heute eine Summe von einigen hundert Milliarden zusammen gekommen mit steigender Tendenz. Doch was liegt stattdessen vor? Viele unzureichende Riesterrenten, wobei durch weitere Maßnahmen, etwa die Senkung des Rentenniveaus und Hebung des Rentenalters auf 67 Jahre, sich das Problem weiter verschärfen wird. Schon werden weitere Gesetze für notwendig gehalten, damit es später reicht. Vielleicht noch eineVersicherung“? Man muss also unterscheiden zwischen den Riesterlosen, den „R i e l o s“ und den „R i e v e r a s“, den Riesterverarschten. Wenn je ein Versagen der Politik in den Grundrechenarten einfach darzulegen war, dann bei der Riesterrente. Aber da dieselbe Politik, die die Misere verursacht hat, gleichzeitig in den Aufsichtsräten der Versicherungen die Sitzkissen bedampft, herrscht zu dem Thema Schweigen. Ich warte auf ein Angebot, das mich gegen Politiker versicherte, aber die Gebühr wäre vermutlich unbezahlbar.


Randnotizen. Kein Diebstahl ohne Genehmigung. Von W.K. Nordenham

24. März 2013 | Kategorie: Justiz, Randnotizen

Aus Neue Juristische Wochenschrift  (NJW) – Entscheidung der Woche

Waidmanns Fahndungspech

Verwaltungsgericht Arnsberg, Urt. v. 18. 2. 2013 – 8 K 1999/12

Wer mit seinem Jagdgewehr Diebe auf frischer Tat stellt, muss damit rechnen, dass ihn ein solcher Einsatz die waffenrechtliche Erlaubnis kostet. Zwar honorierte das  Gericht  die ehren­volle Absicht des Klägers; diese wiege aber nicht den Umstand auf, dass er jemanden mit seinem Jagd­gewehr bedroht und die Waffe missbräuchlich eingesetzt habe.

Der Kläger war passionierter Jäger und ein Mann der Tat: Nach wiederholten Raubzügen von Schrottdieben legte er sich profes­sionell ausgerüstet mit Tarnanzug, Gesichtsmaske und einem mit Platzpatronen geladenen Jagdgewehr auf einem Schrottplatz auf die Lauer. Das Jagdglück war ihm hold: An einen von drei Tätern pirschte sich der Kläger heran und forderte ihn mit der Waffe im Anschlag auf, sich mit ausgestreckten Armen und Beinen auf die Straße zu legen. Sodann verständigte er die örtliche Polizei, die den weiteren Einsatz und den Schrottdieb übernahm. Wenig später wurden sein Jagdschein und seine Waffen­besitzkarte eingezogen. Zwar stellte man ihm die Wiedererteilung der jagdrechtlichen Erlaubnis in Aussicht – jedoch nicht vor Ablauf von zehn Jahren. Für den Kläger war das nicht wirklich eine Perspektive. Die Justiz sollte es deshalb in seinem Sinne richten, was sie aber nicht tat.

Da staunte selbst die NJW. Es sei zur Vervollständigung  der Geschichte  hinzugefügt, dass  der  Waidmann der Polizei  schon vorher den  Tatzeitpunkt und sogar die  Personen  genannt  hatte, die die Tat begehen würden. Die Beamten sahen sich aber außerstande, am fraglichen Abend, nämlich  mangels offizieller Genehmigung, eine Überwachungsaktion mit Festnahme durchzuführen. So hatte der Bürger also einen erneuten Diebstahl zu erwarten und ggf. zu dulden. Das  wäre offenbar rechtens gewesen, während die Verhinderung  des Diebstahls und damit Schutz des Eigentums auf eigene Faust bzw. Schrotflinte mit Platzpatronen das eigentliche Unrecht darstellten.  Nun muss ja beileibe nicht jeder wie in Amerika eine Waffe zu Hause haben und  gar  noch Platzpatronen und direkt von Diebstahl bedroht sein, aber in diesem Fall  hätte die Justiz auch laut NJW  in ihrem Urteil einfühlsamer sein sollen und  können, wie sie es gewöhnlich gegenüber Tätern ist, die tatsächlich Gewalt gegen Personen ausgeübt haben,  wegen des Erziehungsgedankens versteht sich.  Aber dieser hier hatte ja nur gedroht, und gut erzogen war er auch schon mit seinen Platzpatronen. Der Erziehungsgedanke kam dem Gericht daher nicht in den Sinn,  weshalb ihn die volle Strenge des Gesetzes traf.

Fazit: Wenn die Polizei den Bürger nicht schützen kann, dann darf der sein Eigentum noch lange nicht selbst schützen, es sei denn, er forderte den Dieb unbewaffnet und daher höflich auf, das Eintreffen der behördlichen Genehmigung samt Ordnungshütern doch bitte abzuwarten.


Randnotizen. Anmerkung zur Staatsgewalt. Von W.K. Nordenham

24. März 2013 | Kategorie: Nazis, Notizen zur Zeit, Randnotizen

In Dortmund wurden kürzlich zwei Rechtsradikale wegen schwerer Körperverletzung verurteilt, die einen  fremd Aussehenden erst angepöbelt und dann zusammen geschlagen hatten. Sie waren im Gerichtssaal  gutgelaunt erschienen und nach Mode der Rechtsszene gekleidet. Im Zuschauerraum befanden sich etliche  Sympathisanten derselben Couleur. Dennoch oder deswegen fand der Richter in wegweisender Genialität heraus, dass man im Augenblick der  Tat  nicht sicher sein könne, ob wirklich rechte Gründe der Anlass waren oder ob es nicht etwa die Worte des Angegriffenen waren, die zur Tatvollendung führten,  dass es  a l s o   i n  e b e n   d i e s e n  M o m e n t e n   k e i n e n  rechten  Hintergrund gegeben haben könne, also eine Tat etwa aus  politischen Motiven deshalb v e r n e i n t  werden müsse und nur wegen Körperverletzung zu verurteilen sei. Man würde es gern für ein Märchen halten, aber so geschah es.

In Dortmund war es auch,  wo  Ende 2011 als Weihnachtsmänner verkleidete Nazis im Dezember die Frau des Dortmunder Oberbürgermeisters Ullrich Sierau (SPD)  z u   H a u s e   b e s u c h t e n , die Aktion filmten und das Video stolz im Internet  präsentierten. S e i t d e m  gibt es dort eine Taskforce, und der Polizeipräsident greift durch, aber der Richter hatte davon wohl noch nichts erfahren.  Muss man sich wundern, wenn rechte Straftaten zunehmen?

Warum verbietet man eine Partei wie die NPD nicht, die sich vorwiegend aus Steuermitteln der Bürger finanziert, nur weil  sie in Karlsruhe verbal verfassungstreu tut ? Wenn etwas aussieht wie eine Ente, watschelt wie eine Ente, wenn es quakt wie eine Ente, dann ist es eine Ente. Nur Karlsruhe und eine ängstliche Politik erkennen auf Huhn. Weimar lässt grüßen.

Warum gibt sich der Rechtsstaat so wehrlos und vor allem ratlos gegen die, die ihn de facto abschaffen?  Vielleicht, weil  die Machtträger bislang  verschont sind – anders als bei Baader-Meinhoff. Man muss von jedem, der hier  Bürger sein will,  den Respekt vor dem Grundgesetz und dessen Einhaltung uneingeschränkt einfordern. Mit einem Kompromiss in dieser Sache  kompromittierte sich die staatliche Gewalt. Sie ist auf dem besten Wege dies zu tun.

P. S.  In Berlin leben laut Presseberichten übrigens inzwischen einige Tausend Menschen aus Großfamilien,  mutmaßlich aus den türkischen Kurdengebieten, nach mehr oder weniger eigenen Gesetzen.  Eine Mutter, die ihren Sohn nach Straftaten für ein paar Jahre im Gefängnis wusste, hielt dies für eine gute Schule, um – so  wörtlich –  „zum Manne“ zu reifen. Wenn das subjektiv erlitten werden muss und objektiv staatlicherseits ungerührt hingenommen wird, kann eben gerade von Integration nicht die Rede sein.  Lassen wir es also laufen und Los Angeles, South Central entsteht  bald auch bei uns?

 

 


Apokalypse. Von Karl Kraus

16. März 2013 | Kategorie: Apokalypse, Artikel, Aus "Die Fackel", Zeitzeugnisse/Zeitzeugen

Das sind die wahren Wunder der Technik, dass sie das, wofür sie entschädigt, auch wirklich kaputt macht.  Karl Kraus

Die Fackel


Nr. 261—62 WIEN, 13. OKTOBER 1908 X. JAHR S. 1- 14

Apokalypse

(Offener Brief an das Publikum.)

»Den Überwinder will ich genießen lassen von dem Lebensholze, das in meines Gottes Paradiese steht.«

Am 1. April 1909 wird aller menschlichen Voraussicht nach die ‚Fackel‘ ihr Erscheinen einstellenden Weltuntergang aber datiere ich von der Eröffnung der Luftschiffahrt.

Eine Verzögerung beider Ereignisse aus äußeren Gründen könnte an meiner Berechtigung nichts ändern, sie vorherzusagen, und nichts an der Erkenntnis, dass beide ihre Wurzel in demselben phänomenalen Übel haben: in dem fieberhaften Fortschritt der menschlichen Dummheit.

Es ist meine Religion, zu glauben, dass Manometer auf 99 steht. An allen Enden dringen die Gase aus der Welthirnjauche, kein Atemholen bleibt der Kultur und am Ende liegt eine tote Menschheit neben ihren Werken, die zu erfinden ihr so viel Geist gekostet hat, dass ihr keiner mehr übrig blieb, sie zu nützen.

Wir waren kompliziert genug, die Maschine zu bauen, und wir sind zu primitiv, uns von ihr bedienen zu lassen. Wir treiben einen Weltverkehr auf schmalspurigen Gehirnbahnen.

Aber siehe, die Natur hat sich gegen die Versuche, eine weitere Dimension für die Zwecke der zivilisatorischen Niedertracht zu missbrauchen, aufgelehnt und den Pionieren der Unkultur zu verstehen gegeben, dass es nicht nur Maschinen gibt, sondern auch Stürme! »Hinausgeworfen ward der große Drache, der alle Welt verführt, geworfen ward er auf die Erde … Er war nicht mächtig genug, einen Platz im Himmel zu behaupten.« Die Luft wollte sich verpesten, aber nicht »erobern« lassen. Michael stritt mit dem Drachen, und Michel sah zu. Vorläufig hat die Natur gesiegt. Aber sie wird als die Klügere nachgeben und einer ausgehöhlten Menschheit den Triumph gönnen, an der Erfüllung ihres Lieblingswunsches zugrundezugehen. Bis zum Betrieb der Luftschiffahrt geduldet sich das Chaos, dann kehrt es wieder! Dass Montgolfieren vor hundert Jahren aufstiegen, war durch die dichterische Verklärung, die ein Jean Paul davon gab, gerechtfertigt für alle Zeiten; aber kein Gehirn mehr, das Eindrücke zu Bildern formen könnte, wird in den Tagen leben, da eine höhenstaplerische Gesellschaft zu ihrem Ziel gelangen und der Parvenü ein Maßbegriff sein wird. Es ist ein metaphysisches Bubenspiel, aber der Drache, den sie steigen lassen, wird lebendig. Man wird auf die Gesellschaftsordnung spucken können, und davon würde sie unfehlbar Schaden nehmen, wenn ihr nicht schlimmere Sendung zugedacht wäre …

Die Natur mahnt zur Besinnung über ein Leben, das auf Äußerlichkeiten gestellt ist. Eine kosmische Unzufriedenheit gibt sich allenthalben kund, Sommerschnee und Winterhitze demonstrieren gegen den Materialismus, der das Dasein zum Prokrustesbett macht, Krankheiten der Seele als Bauchweh behandelt und das Antlitz der Natur entstellen möchte, wo immer er ihrer Züge gewahr wird:
an der Natur, am Weibe und am Künstler. Einer Welt, die ihren Untergang ertrüge, wenn ihr nur seine kinematographische Vorführung nicht versagt bleibt, kann man mit dem Unbegreiflichen nicht bange machen. Aber unsereins nimmt ein Erdbeben als Protest gegen die Einrichtungen der Demokratie ohne weiteres hin und zweifelt keinen Augenblick an der Möglichkeit, dass ein Übermaß menschlicher Dummheit die Elemente empören könnte.

Die Tragik einer gefallenen Menschheit, die für das Leben in der Zivilisation viel schlechter taugt als eine Jungfer fürs Bordellwesen, und die sich mit der Moral über die Syphilis trösten möchte, ist verschärft durch den unaufhörlichen Verzicht auf alle seelische Erneuerung. Ihr Leib ist ethisch geschmiert und ihr Hirn ist eine camera obscura, die mit Druckerschwärze ausgepicht ist. Sie möchte vor der Presse, die ihr das Mark vergiftet hat, in die Wälder fliehen, und findet keine Wälder mehr. Wo einst ragende Bäume den Dank der Erde zum Himmel hoben, türmen sich Sonntagsauflagen. Hat man nicht ausgerechnet, dass eine amerikanische Zeitung für eine einzige Ausgabe eine Papiermasse braucht, für deren Herstellung zehntausend Bäume von zwanzig Metern Höhe gefällt werden müssen? Es ist schneller nachgedruckt als nachgeforstet. Wehe, wenn es so weit kommt, dass die Bäume bloß täglich zweimal, aber sonst keine Blätter tragen! »Und aus dem Rauche kamen Heuschrecken über die Erde, welchen Macht gegeben wurde, wie die Skorpionen Macht haben … Menschen ähnlich waren ihre Gesichter … Und es wurde ihnen geboten, weder das Gras auf der Erde, noch etwas Grünes, noch irgend einen Baum zu beschädigen, sondern bloß die Menschen, die nicht haben das Siegel Gottes an ihren Stirnen.« Aber sie beschädigten die Menschen, und schonten die Bäume nicht.

Da besinnt sich die Menschheit, dass ihr der Sauerstoff vom Liberalismus entzogen wurde und rennt in den Sport. Aber der Sport ist ein Adoptivkind des Liberalismus, er trägt schon auf eigene Faust zur Verdummung der Familie bei. Kein Entrinnen! Auch wenn sie auf dem Misthaufen des Lebens Tennis spielen, die Schmutzflut kommt immer näher und das Sausen aller Fabriken übertönt so wenig ihr Geräusch wie die Klänge der Symphoniekonzerte, zu denen die ganz Verlassenen ihre Zuflucht nehmen.

Inzwischen tun die Politiker ihre Pflicht. Es sind Märtyrer ihres Berufs. Ich habe gehört, dass Österreich Bosnien annektiert hat. Warum auch nicht? Man will alles beisammen haben, wenn alles aufhören soll. Immerhin ist solch ein einigend Band eine gewagte Unternehmung, — in Amerika, wo man uns so oft verwechselt hat, heißt es dann wieder, Bosnien habe Österreich annektiert. Erst die Auflösung unseres Staates, von der in der letzten Zeit so viel die Rede war und die sich separat vollziehen wird, weil die anderen Weltgegenden nicht in solcher Gesellschaft zugrundegehen wollen, dürfte allem müßigen Gerede ein Ende machen. Aber es ist eine weitblickende Politik, den Balkan durcheinanderzubringen. Dort sind die Reserven zur Herstellung des allgemeinen Chaos. Die Wanzen mobilisieren schon gegen die europäische Kultur.

Die Aufgabe der Religion, die Menschheit zu trösten, die zum Galgen geht, die Aufgabe der Politik, sie lebensüberdrüssig zu machen, die Aufgabe der Humanität, ihr die Galgenfrist abzukürzen und gleich die Henkermahlzeit zu vergiften.

Durch Deutschland zieht ein apokalyptischer Reiter, der für viere ausgibt. Er ist Volldampf voraus in allen Gassen. Sein Schnurrbart reicht von Aufgang bis Niedergang und von Süden gen Norden. »Und dem Reiter ward Macht gegeben, den Frieden von der Erde zu nehmen, und dass sie sich einander erwürgten.« Und alles das ohne Absicht und nur aus Lust am Fabulieren.

Dann aber sehe ich ihn wieder als das Tier mit den zehn Hörnern und den sieben Köpfen und einem Maul gleich dem Rachen eines Löwen. »Man betete das Tier an und sprach: Wer ist dem Tiere gleich? Und wer vermag mit ihm zu streiten? Ein Maul ward ihm zugelassen, große Dinge zu reden.«

Neben diesem aber steht die große Hure, »die mit ihrer Hurerei die Welt verdarb«. Indem sie sich allen, die da wollten, täglich zweimal hingab. »Von dem Wollustwein ihrer Unzucht haben alle Völker getrunken, und die Könige der Erde buhlten mit ihr.«

Wie werden die Leute aussehen, deren Großväter Zeitgenossen des Max Nordau gewesen sind? Bei Tage Börsengeschäfte abgewickelt und am Abend Feuilletons gelesen haben? Werden sie aussehen?! Weh dir, dass du der Enkel eines alten Lesers der ‚Neuen Freien Presse‘ bist! Aber so weit lässt es die Natur nicht kommen, die ihre Beziehungen zur Presse streng nach deren Verhalten gegen die Kultur eingerichtet hat. Einer journalisierten Welt wird die Schmach eines lebensunfähigen Nachwuchses erspart sein: das Geschlecht, dessen Fortsetzung der Leser mit Spannung entgegensieht, bleibt im Übersatz. Die Schöpfung versagt das Imprimatur. Der intellektuelle Wechselbalg, den eine Ratze an innerer Kultur beschämen müsste, wird abgelegt. Der Jammer ist so groß, dass er gleich den Trost mitbringt, es komme nicht so weit. Nein, der Bankert aus Journalismus und Hysterie pflanzt sich nicht fort! Über die Vorstellung, dass es ein Verbrechen sein soll, der heute vorrätigen Menschensorte die Frucht abzutreiben, lacht ein Totengräber ihrer Mitgeboten. Aber die Natur arbeitet schon darauf hin, den Hebammen jede Versuchung zu ersparen! Die Vereinfachung der Gehirnwindungen, die ein Triumph der liberalen Bildung ist, wird die Menschen selbst zu jener geringfügigen Arbeit unfähig machen, deren Leistung die Natur ihnen eigens schmackhaft gemacht hat. So könnte die Aufführungsserie des »Walzertraums« einen jähen Abbruch erfahren!

Aber glaubt man, dass die Erfolgsziffern der neuen Tonwerke ohne Einfluss auf die Gestaltung dieser Verhältnisse bleiben werden? Dass sie noch vor zwanzig Jahren möglich gewesen wären? Eine Welt von Wohllaut ist versunken, und ein krähender Hahn bleibt auf dem Repertoire; der Geist liegt auf dem Schindanger, und jeder Dreckhaufen ist ein Kristallpalast … Hat man den Parallelismus bemerkt, mit dem jedesmal ein neuer Triumph der »Lustigen Witwe« und ein Erdbeben gemeldet werden? Wir halten bei der apokalyptischen 666 … Die misshandelte Urnatur grollt; sie empört sich dagegen, dass sie die Elektrizität zum Betrieb der Dummheit geliefert haben soll. Habt ihr die Unregelmäßigkeiten der Jahreszeiten wahrgenommen? Kein Frühling kommt mehr, seitdem die Saison mit solcher Schmach erfüllt ist!

Unsere Kultur besteht aus drei Schubfächern, von denen zwei sich schließen, wenn eines offen ist, nämlich aus Arbeit, Unterhaltung und Belehrung. Die chinesischen Jongleure bewältigen das ganze Leben mit einem Finger. Sie werden also leichtes Spiel haben. Die gelbe Hoffnung! … Unseren Ansprüchen auf Zivilisation würden allerdings die Schwarzen genügen. Nur, dass wir ihnen in der Sittlichkeit über sind. In Illinois hat es eine weiße Frau mit einem Neger gehalten. Das Verhältnis blieb nicht ohne Folgen. »Nachdem eine Menge Weißer zahlreiche Häuser im Negerviertel in Brand gesteckt und verschiedene Geschäfte erbrochen hatten, ergriffen sie einen Neger, schossen zahlreiche Kugeln auf ihn ab und knüpften die Leiche an einem Baum auf. Die Menge tanzte dann unter ungeheurem Jubelgeschrei um die Leiche herum.« In der Sittlichkeit sind wir ihnen über.

Humanität, Bildung und Freiheit sind kostbare Güter, die mit Blut, Verstand und  Menschenwürde nicht teuer genug erkauft sind. Nun, bis zu dem Chinesentraum versteige ich mich nicht: aber einem gelegentlichen Barbarenangriff auf die Bollwerke unserer Kultur, Parlamente, Redaktionen und Universitäten, könnte man zujauchzen, wenn er nicht selbst eine politische Sache wäre, also eine Gemeinheit. Als die Bauern eine Hochschule stürmten, wars nur der andere Pöbel, der seines Geistes Losung durchsetzen wollte. Die Dringlichkeit, die Universitäten in Bordelle zu verwandeln, damit die Wissenschaft wieder frei werde, sieht keine politische Partei ein. Aber die Professoren würden als Portiers eine Anstellung finden, weil die Vollbärte ausgenützt werden können und die Würde nun einmal da ist, und die Kollegiengelder wären reichlich hereingebracht.

»Den Verzagten aber, und Ungläubigen, und Verruchten, und Totschlägern, und Götzendienern, und allen Lügnern, deren Teil wird sein in dem Pfuhl, der mit Feuer und Schwefel brennt«.

—  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —

Was vermag nun ein Satirenschreiber vor einem Getriebe, dem ohnedies in jeder Stunde ein Hohngelächter der Hölle antwortet? Er vermag es zu hören, dieweil die anderen taub sind. Aber wenn er nicht gehört wird? Und wenn ihm selbst bange wird?

Er versinkt im Heute und hat von einem Morgen nichts zu erwarten, weil es kein Morgen mehr gibt, und am wenigsten eines für die Werke des Geistes. Wer heute noch eine Welt hat, mit dem muss sie untergehen.

Umso sicherer, je länger die äußere Welt Stand hält. Der wahre Weltuntergang ist die Vernichtung des Geistes, der andere hängt von dem gleichgültigen Versuch ab, ob nach Vernichtung des Geistes noch eine Welt bestehen kann.

Darum glaube ich einige Berechtigung zu dem Wahnwitz zu haben, dass die Fortdauer der ‚Fackel‘ ein Problem bedeute, während die Fortdauer der Welt bloß ein Experiment sei.

Die tiefste Bescheidenheit, die vor der Welt zurücktritt, ist in ihr als Größenwahn verrufen. Wer von sich selbst spricht, weil kein anderer von ihm spricht, ist lästig. Wer niemand mit seiner Sache zu belasten wagt und sie selbst führt, damit sie nur einmal geführt sei, ist anmaßend. Und dennoch weiß niemand besser als ich, dass mir alles Talent fehlt, mitzutun, dass mich auf jedem Schritt der absolute Mangel dessen hemmt, was unentbehrlich ist, um sich wenigstens im Gedächtnis der Mitlebenden zu erhalten, der Mangel an Konkurrenzfähigkeit. Aber ich weiß auch, dass der Größenwahn vor der Bescheidenheit den Vorzug der Ehrlichkeit hat und dass es eine untrügliche Probe auf seine Berechtigung gibt: seinen künstlerischen Ausdruck. Darüber zu entscheiden, sind freilich die wenigsten Leser sachverständig, und man ist auch hier wieder auf den Größenwahn angewiesen. Er sprach: Selbstbespiegelung ist erlaubt, wenn das Selbst schön ist; aber sie erwächst zur Pflicht, wenn der Spiegel gut ist. Und jedenfalls ist es sogar ehrlicher, zum dionysischen Praterausrufer seiner selbst zu werden, als sich von dem Urteil der zahlenden Kundschaft abhängig zu machen. Die Journalisten sind so bescheiden, die Keime geistiger Saat für alle Zeiten totzutreten. Ich bin größenwahnsinnig: ich weiß, dass meine Zeit nicht kommen wird.

Meine Leser! Wir gehen jetzt ins zehnte Jahr zusammen, wir wollen nicht nebeneinander älter werden, ohne uns über die wichtigsten Missverständnisse geeinigt zu haben.

Die falsche Verteilung der Respekte, die die Demokratie durchführte, hat auch das Publikum zu einer verehrungswürdigen Standesperson gemacht. Das ist es nicht. Oder ist es bloß für den Sprecher, dem es die unmittelbare Wirkung des Worts bestätigt, nicht für den Schreibenden; für den Redner und Theatermann, nicht für den Künstler der Sprache. Der Journalismus, der auch das geschriebene Wort an die Pflicht unmittelbarer Wirkung band, hat die Gerechtsame des Publikums erweitert und ihm zu einer geistigen Tyrannis Mut gemacht, der sich jeder Künstler selbst dann entziehen muss, wenn er sie nur in den Nerven hat. Die Theaterkunst ist die einzige, vor der die Menge eine sachverständige Meinung hat und gegen jedes literarische Urteil behauptet. Aber das Eintrittsgeld, das sie bezahlt, um der Gaben des geschriebenen Wortes teilhaft zu werden, berechtigt sie nicht zu Beifalls- oder Missfallsbezeigungen. Es ist bloß eine lächerliche Vergünstigung, die es dem einzelnen ermöglicht, um den Preis eines Schinkenbrots ein Werk des Geistes zu beziehen. Dass die Masse der zahlenden Leser den Gegenwert der schriftstellerischen Leistung bietet, so wie die
Masse der zahlenden Hörer den des Theatergenusses, wäre mir schon eine unerträgliche Fiktion. Aber gerade sie schlösse ein Zensurrecht des einzelnen Lesers aus und ließe bloß Kundgebungen der gesamten Leserschar zu. Der vereinzelte Zischer wird im Theater überstimmt, aber der Briefschreiber kann ohne akustischen Widerhall seine Dummheit betätigen. Worunter ein Schriftsteller, der mit allen Nerven bei seiner Kunst ist, am tiefsten leidet, das ist die Anmaßung der Banalität, die sich ihm mit individuellem Anspruch auf Beachtung aufdrängt. Sie schafft ihm das furchtbare Gefühl, dass es Menschen gibt, die sich für den Erlag zweier Nickelmünzen an seiner Freiheit vergreifen wollen, und seine Phantasie öffnet ihm den Prospekt einer Welt, in der es nichts gibt als solche Menschen. Dagegen empfände er tatsächlich den organisierten Einspruch der Masse als eine logische Beruhigung, als die Ausübung eines wohlerworbenen Rechtes, als die kontraktliche Erfüllung einer Möglichkeit, auf die er vorbereitet sein musste und die demnach weder seinem Stolz noch seinem Frieden ein Feindliches zumutet. Wenn sich die Enttäuschungen, die meine Leser in den letzten Jahren an mir erleben, eines Tages in einem Volksgemurmel Luft machten, ich würde mich in diesem eingerosteten Leben an der Bereicherung der Verkehrsformen freuen. Aber dass ein Chorist der öffentlichen Meinung sich vorschieben darf, meine Arie stört und dass ich die Nuancen einer Stupidität kennen lernen muss, die doch nur in der Einheit imposant wirkt, ist wahrhaft grässlich. Es ist eine demokratische Wohlfahrtsinstitution, dass der Leser seine Freiheit gegen den Autor hat und dass seine Privilegien über das Naturrecht hinausreichen, den Bezug einer unangenehmen Zeitschrift aufzugeben; dass Menschen, mit denen ich wirklich nicht mehr als Essen und Verdauen und auch dies nur ungern gemeinsam habe, es wagen dürfen, mir ihr Missfallen an meiner »Richtung« kundzutun oder gar zu motivieren. Es schafft bloß augenblickliche Erleichterung, wenn ich in solchem Fall sofort das Abonnement auf die ‚Fackel‘ aufgebe und die Entziehung, so weit sie möglich ist, durchführen lasse. Deprimierend bleibt die Zähigkeit, mit der diese Leute auf ihrem Recht bestehen, meine Feder als die Dienerin ihrer Lebensauffassung und nicht als die Freundin meiner eigenen zu betrachten; vernichtend wirkt die Hoffnung, die sie noch am Grabe ihrer Wünsche aufpflanzen, das lästige Zureden ihrer stofflichen Erwartungen. Wie weit es erst, wie unermesslich weit es mich all den Sachen  entrückt, die zu vertreten oder zu zertreten einst mir inneres Gebot war, ahnt keiner. Dem Publikum gilt die Sache. Ob ich mich über oder unter die Sache gestellt habe, das zu beurteilen, ist kein Publikum der Erde fähig, aber wenn es verurteilt, dass ich außerhalb der Sache stehe, so ist es berechtigt, schweigend seine Konsequenz zu ziehen.

Dass ich die publizistische Daseinsberechtigung verloren habe, ist hoffentlich der Fall; die Form periodischen Erscheinens dient bloß meiner Produktivität, die mir in jedem Monat ein Buch schenkt. Zieht mir der redaktionelle Schein dauernd Missverständnisse zu, bringt er mir Querulanten ins Haus und die unerträglichen Scharen jener, denen Unrecht geschieht und denen ich nicht helfen kann, und jener, die mir Unrecht tun und denen ich nicht helfen will, so mache ich ihm ein Ende. Jetzt ist die Zeit zur Aussprache gekommen, aber ich bin immer noch nachgiebig genug, den Lesern die Entscheidung zu überlassen. Ich betrüge ihren Appetit, indem ich ihre Erwartung, Pikantes für den Nachtisch zu kriegen, enttäusche und ihnen Gedanken serviere, die der Nachtruhe gefährlich sind. Mich selbst bedrückt ihr Alp; denn es ist nicht meine Art, ahnungslose Gäste zu misshandeln. Aber sie sollen im zehnten Jahre nicht sagen, dass sie ungewarnt hereingefallen sind. Wer dann noch mit dem Vorurteil zu mir kommt, dass ich ein Enthüller stofflicher Sensationen sei, dass ich berufsmäßig die Decken von den Häusern hebe, um lichtscheue Wahrheiten oder gar nur versteckte Peinlichkeiten emporzuziehen, der hat das Kopfweh seiner eigenen Unvorsichtigkeit zuzuschreiben. Ein Teil dieser Leser will die Wahrheit hören um ihrer selbst willen, der andere will Opfer bluten sehen. Das Instinktleben beider Gruppen ist plebejisch. Aber ich täusche sie, weil meine Farbe rot ist und mit der Verheißung lockt, zu erzählen, wie sichs ereignet hat. Dass ich heimlich in eine Betrachtungsweise abgeglitten bin, die als das einzige Ereignis gelten lässt: wie ichs erzähle, — das ist die letzte Enthüllung, die ich meinen Lesern schuldig bin. Ich täuschte, und war allemal tief betroffen, allemal wusste ich, dass ich mir dergleichen nicht zugetraut hätte, aber ich blieb dabei, Aphorismen zu sagen, wo ich Zustände enthüllen sollte. So schmarotze ich nur mehr an einem alten Renommee.

Glaubt einer, dass es auf die Dauer ein angenehmes Bewusstsein ist? Nun, ich wollte den Lesern helfen und ihnen den Weg zeigen, der zur Entschädigung für den Ausfall an Sensationen führt. Ich wollte sie zu einem Verständnis für die Angelegenheiten der deutschen Sprache erziehen, zu jener Höhe, auf der man das geschriebene Wort als die naturnotwendige Verkörperung des Gedankens und nicht bloß als die gesellschaftspflichtige Hülle der Meinung begreift. Ich wollte sie entjournalisieren. Ich riet ihnen, meine Arbeiten zweimal zu lesen, damit sie auch etwas davon haben. Sie waren entrüstet und sahen im nächsten Heft nur nach, ob nicht doch etwas gegen die Zustände bei der Länderbank darin stände … Nun wollen wir sehen, wie lange das noch weiter geht. Ich sage, dass der einzige öffentliche Übelstand, den noch aufzudecken sich lohnt, die Dummheit ist. Das Publikum wünscht so allgemeine Themen nicht und schickt mir Affären ins Haus. Aber wie selten ist es, dass das Interesse der Skandalsucht mit meinen separatistischen Bestrebungen zusammentrifft! Wenns einen Fall Riehl gibt, verzeiht mir das Publikum die Gedanken, die ich mir dazu mache, und freut sich, dass es einen Fall Riehl gibt. Es ist ein schmerzliches Gefühl, eine Wohltat nicht zu erdienen; aber es ist geradezu tragisch, sein eigener Parasit zu sein.

Denn das ist es ja eben, dass von meinem Wachstum, welches die Reihen meiner Anhänger so stark gelichtet hat, die Zahl meiner Leser im Durchschnitt nicht berührt wurde, und dass ich zwar kein guter Geschäftsmann bin, solange ich die ‚Fackel‘ bewahre, aber gewiss ein schlechter, wenn ich sie im Überdruss hinwerfe. Und weil es toll ist, auf die Flucht aus der Aktualität Wiener Zeitungsleser mitzunehmen, so ist es anständig, sie zeitweise vor die Frage zu stellen, ob sie sich die Sache auch gründlich überlegt haben.

In Tabakgeschäften neben dem Kleinen Witzblatt liegen zu müssen und neben all dem tristen Pack, das mit talentlosen Enthüllergebärden auf den Kunden wartet, es wird immer härter und es ist eine Schmach unseres Geisteslebens, an der ich nicht allzu lange mehr Teil haben möchte. Um den wenigen, die es angeht, zugänglich zu sein, lohnt es nicht, sich den vielen Suchern der Sensation hinzugeben. Im besten Falle dünke ich diesen ein Ästhet. Denn in den allgemeinen, gleichen und direkten Schafsköpfen ist jeder ein Ästhet, der nur durch staatlichen Zwang zur Ausübung des Wahlrechts sich herbeilässt. Der Ästhet lebt fern von der Realität, sie aber haben den Schlüssel zum wahren Leben; denn das wahre Leben besteht im Interesse für Landtagswahlreform, Streikbewegung und Handelsvertrag. So sprechen vorzüglich jene Geister, die in der Politik die Viehtreiber von St. Marx vorstellen. Der Unterschied: dem Ästheten löst sich alles in eine Linie auf, und dem Politiker in eine Fläche. Ich glaube, dass das nichtige Spiel, welches beide treiben, beide gleich weit vom Leben führt, in eine Ferne, in der sie überhaupt nicht mehr in Betracht kommen, der Herr Hugo von Hofmannsthal und der Herr Abgeordnete Doleschal. Es ist tragisch, für jene Partei reklamiert zu werden, wenn man von dieser nichts wissen will, und zu dieser gehören zu müssen, weil man jene verachtet. Aus der Höhe wahrer Geistigkeit aber sieht man die Politik nur mehr als ästhetischen Tand und die Orchidee als eine Parteiblume. Es ist derselbe Mangel an Persönlichkeit, der die einen treibt, das Leben im Stoffe, und die anderen, das Leben in der Form zu suchen. Ich meine es anders als beide, wenn ich, fern den Tagen, da ich in äußeren Kämpfen lebte, fern aber auch den schönen Künsten des Friedens, mir heute den Gegner nach meinem Pfeil zurecht schnitze.

Die Realität nicht suchen und nicht fliehen, sondern erschaffen und im Zerstören erst recht erschaffen: wie sollte man damit Gehirne beglücken, durch deren Windungen zweimal im Tag der Mist der Welt gekehrt wird? Über nichts fühlt sich das Publikum erhabener als über einen Autor, den es nicht versteht, aber Kommis, die sich hinter einer Budel nicht bewährt hätten oder nicht haben, sind seine Heiligen. Den Journalisten nahm ein Gott, zu leiden, was sie sagen. Mir aber wird das Recht bestritten werden, meiner tiefsten Verbitterung Worte zu geben, denn nur den Stimmungen des Lesers darf eine Feder dienen, die für Leser schreibt. Meine Leser sind jene Weißen, die einen Neger lynchen, wenn er etwas Natürliches getan hat. Ich leiste feierlichen Verzicht auf die Rasse und will lieber überhaupt nicht gelesen sein, als von Leuten, die mich für ihre Rückständigkeit verantwortlich machen.  Sie ist im Fortschritt begriffen: wie wird es mir ergehen? Die intellektuelle Presse macht dem
Schwachsinn des Philisters Mut und erhebt die Plattheit zum Ideale: so sind die Folgen  meiner Tätigkeit unabsehbar. Der letzte Tropf, der sich am sausenden Webstuhl der Zeit zu schaffen macht, wird mich als Müßiggänger verachten. Ich wollte nach Deutschland gehen, denn wenn man unter Österreichern lebt, lernt man die Deutschen nicht genügend hassen. Ich wollte meine Angstrufe in Deutschland ausstoßen, denn in Österreich bezieht man sie am Ende auf die Kappen und nicht auf die Köpfe. Aber ein satanischer Trieb verlockt mich, die Entwicklung der Dinge hier abzuwarten und auszuharren, bis der große Tag des Zornes kommt und die tausend Jahre vollendet sind. Bis der Drache losgelassen ist und mir eine Stimme aus den Wolken ruft: »Flieg’n m’r, Euer Gnaden?«

Karl Kraus.

 


Kinder als Zeitungsleser. Von Karl Kraus

11. März 2013 | Kategorie: Artikel

In eigener Sache:

Seit Kurzem bemerke ich, dass irgendein Internet-Lumpenpack bei Aufruf von “ www.das-rote-heft.de“ , Werbung auf meine Seite geschaltet hat, und zwar durch von mir nicht gewollte Hervorhebung von Wörtern.  Ich werde mich dagegen zu wehren, damit zumindest auf dieser Seite die Unkultur ein Ende habe.   W.K.Nordenham.

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Im Jahre 1931 konstatiert Karl Kraus, „dass die Gehirnmasse der Menschheit sich in fünfzig Jahren in Brei und Jauche verwandelt haben wird.“ Die Verlogenheitspostillen von „Neue Freie Presse“ bis zum unsäglichen Naziblatt “ Völkischer Beobachter“ lag ausreichend Beweismaterial vor, um eine solche Prognose zu stellen, deren Schlüssigkeit sich täglich in der Bild-Zeitung manifestiert. Unzählige Ferseh-Formate, die den Begriff vor allen dadurch erfüllen, dass sie bar jeden vernünftigen Inhalts sind, haben sich munter hinzugesellt, rühren die Hirnbrühe um, und wer am besten gerührt hat,  gewinnt.  Worauf Karl Kraus in der Glosse abhebt, ist jene Art von Umfragen, die seither wie eine aufdringliche Krankheit die Menschen ohne jede Distanz der Höflichkeit oder des Anstandes  belästigen. Ungefragt wird umgefragt zu allem und jedem, damit Dummheit ihre Begründung habe. Nichts Neues seit 1931 also.  W.K.Nordenham

 

DIE FACKEL


Nr. 852—856 MITTE MAI 1931 XXXIII. JAHRS. 1 – 4

Glossen

Kinder als Zeitungsleser

Unter dieser Spitzmarke, die den höchsten Triumph bekennt, dessen der Fortschritt habhaft werden konnte, stellt das zufriedene Zentralorgan der Sozialdemokratie fest, dass man die nachteiligen Wirkungen der Sensationsberichterstattung auf den »gesunden Jugendlichen« — welches Wort nach Bonzenfrohsinn schmeckt —, überschätzt habe. Denn er

f r i s s t   z w a r   s e h r   v i e l   i n   s i c h   h i n e i n , verarbeitet es aber doch n u r  in seiner Phantasie, nicht in seiner Moral.

Es werden also weniger Mörder als Schmöcke gezüchtet. Nun wolle jedoch »eine großzügige und objektive Rundfrage des Deutschen Instituts für Zeitungskunde« — denn das gibt es und es ist nicht bloß eine Abteilung des Instituts für kriminalistische Forschung — »noch tiefer schürfen« und festzustellen versuchen,

wie es um die Zeitungslektüre des werdenden Menschen steht, dessen G e i s t  sich erst bildet….

Hunderttausend Fragebogen wurden ausgesandt, indem es sich ja doch von selbst versteht, dass die Jugendlichen statt des Wintermärchens die Generalanzeiger, Vorwärtse und sonstigen Papiere fressen, deren andere Bestimmung, nämlich erfrorene Füße einzuwickeln, mir  kürzlich eine gutmütige Toilettenfrau auf dem Prager Flugplatz vermittelt hat, die es an Menschlichkeit und Sinn für Lebensdinge mit sämtlichen Staatsmännern, Publizisten und sonstigen Missbrauchen des technischen Fortschritts aufnehmen dürfte. Die »Jugendlichen von zwölf bis zwanzig Jahren«  wurden also ausgefragt, ob sie eine Tageszeitung und welche sie lesen, ob sie gar mehrere lesen, »welche Teile der Zeitung interessieren dich am meisten und warum«, ob die Tageszeitung im Schulunterricht herangezogen werde — denn das kommt auch schon vor — und »was hältst du persönlich von der Zeitung?«. Der Zweck dieser Fragen sei leicht ersichtlich, meint das Zentralorgan. Nicht etwa, um schon jetzt zu erkennen, dass die Gehirnmasse der Menschheit sich in fünfzig Jahren in Brei und Jauche verwandelt haben wird, sondern es sollte im Gegenteil einmal

d e r   o f f i z i e l l e n   E i n f ü h r u n g   d e r   Z e i t u n g s l e k t ü r e   i n   d e n  U n t e r r i c h t  v o r g e a r b e i t e t werden, wie von der sozialdemo-  kratischen Pädagogin Dr. Wegscheide- Ziegler m i t   g u t e n   G r ü n d e n   propagiert wird.

Für die Dame, die da offenbar einen Herkulesentschluss gefasst hat — und Vorkämpferinnen führen zumeist einen Doppelnamen — wäre ich ausnahmsweise zu sprechen. Vor allem aber soll sich »ein Bild von dem Verhältnis der Jugend unserer Zeit zur Presse« ergeben, so etwas wie ein »Querschnitt« — das liebt man jetzt — »durch die gesamte geistige Situation der jungen Generation«. Ohne Zweifel muss es doch interessant sein, zu erfahren, wie viel junge Gemüter sich noch für Kerr ( einer à la Reich-Ranicki. Amn. d. Red.) , wie viele sich schon für Hildenbrandt erwärmen, ob sie in der Politik mehr dem Wolff  oder dem Hussong folgen, wie sie gierig aufnehmen, was unser O. K. am Radio erlauscht hat, und ob sie mehr von den täglichen Bulletins über Reinhardt, Jannings, Zuckmayer in Spannung gehalten werden oder durch das, was die sozialdemokratische Presse der Bourgeoisie an Schlafwagenabenteuern abzugewinnen vermochte; wie sie die Sittlichkeit von den Gerichtssaalberichterstattern und die Sprache von den Analphabeten im allgemeinen erlernt haben. Das erfreuliche Ergebnis der Rundfrage zeigt die Tatsache,

dass es unter den Jungen und Mädchen    von  heute f a s t     ü b e r h a u p t      k e i n e    » N i c h t z e i t u n g s l e s e r « gibt.

Aber nicht etwa, dass sie bloß das »Tagerl«, die herzige Filiale des ‚Tag‘, goutieren, nein, solche Kindereien überlassen sie jenen Jugendlichen, die vom Alphabet noch den ersten Buchstaben wiederholen müssen — sie fressen vielmehr alles in sich hinein, was die Erwachsenen fressen.

Von 1854 höheren Schülern zwischen zwölf und achtzehn Jahren teilen nur 27 mit, dass sie keine Zeitung lesen; 1356 sind regelmäßige, 471 unregelmäßige Leser, 437 lesen mehrere Blätter. Und  mehr als 200 lesen nicht die in ihrer Familie gehaltene Zeitung, sondern ein andres Blatt, e i n e   b e m e r k e n s –  w e r t e   g e i s t i g e   S e l b s t ä n d i g k e i t .

Wobei es das zufriedene Zentralorgan gar nicht interessiert, ob diese Revolutionäre nicht vielleicht dem ‚Vorwärts‘, an dem sich die Eltern weiden, schon den ‚Völkischen Beobachter‘ vorziehen oder die schwerindustrielle ‚Börsenzeitung‘, was freilich durch die fesselnde Mitarbeit eines Wiener Genossen entschuldigt wäre.

Besonders interessant sind die Zahlen bei den V o l k s s c h ü l e r n. Von 435 Jungen einer Berliner Gemeindeschule lesen n u r  d r e i  k e i n e  Z e i t u n g,  274 lesen regelmäßig und 158 gelegentlich,

offenbar im Fall des Lustmordes,

62 lesen nicht das Blatt ihrer Eltern, 56 interessieren sich ständig auch für andre Blätter.

Man muss doch auf dem Laufenden sein. Es folgt die Statistik  der Volksschülerinnen, dann noch die der Berufsschüler.

Warum Zeitung gelesen wird, ist oft recht hübsch begründet….. Die politischen Argumente finden sich am meisten.

Es ergebe sich das Bild einer »Generation von werdenden Staatsbürgern«. Die Unfallchronik wird hauptsächlich von Mädchen gelesen:

Sie lesen m e r k w ü r d i g   g e r n  die Berichte über die Katastrophen, Straßenunfälle, Selbstmorde, Morde und ähnliches.

Auf die Frage, warum dieses Thema sie besonders interessiert, erfolgte — nebst Mitleid und anderen Motiven — die Antwort:

»W e i l   e s   s o   s c h ö n   s c h a u r i g   i s t .«

Die Herren vom Institut hatten erwartet, dass Romane und Heiratsanzeigen besonders interessieren würden, aber nein, die stehen erst an neunter, respektive an vierzehnter Stelle. »Der moderne Lehrer weiß«, resümiert das Zentralorgan mit Genugtuung,

d a s s   d i e   Z e i t u n g   e i n   u n e n t b e h r l i c h e s   H i l f s m i t t e l    f ü r   j e d e   E r z i e h u n g s a r b e i t   d a r s t e l l t ….

Ganz abgesehen von der optimistischen Dummheit, die hier stillschweigend auch die Lektüre der kapitalistischen Zeitung als proletarischen Erziehungsfaktor einsetzt, wird doch bei solcher Gelegenheit die volle Hoffnungslosigkeit einer Kulturbetrachtung plastisch, die die Verbreitung des giftigsten aller Bürgergifte, der Druckerschwärze, für einen Fortschritt erachtet und den »Jugendlichen« als eine Kreuzung von Fußballer und Schmock präparieren möchte. Unter ihnen allen aber, die dem Institut für Zeitungskunde antworten mussten, tönt nur den wenigen, die schon in früher Jugend stolz bekennen, »Nichtzeitungsleser« zu sein, glaubhaft die Parole von den Lippen, die ihnen ergraute Bonzen beigebracht haben: »Wir sind jung und das ist schön!« Denen könnte man vielleicht noch das Wintermärchen vorlesen.


Hüben und Drüben . Von Karl Kraus .

15. Februar 2013 | Kategorie: Aus "Die Fackel", Zeitzeugnisse/Zeitzeugen

Als im Herbst 1932 bei den Reichstagswahlen über 100 Sitze an die Nationalsozialisten fielen, deren Wahnwitzigkeit Karl Kraus immer wieder in der Fackel  aufgezeigt hatte, waren die Politiker in Österreich  und Deutschland, insbesondere die Sozialdemokratie als bedeutendstes Gegengewicht nicht in der Lage, der braunen Gefahr wirksam  zu trotzen, zumal die Kommunisten sich seit 1928 abgewandt hatten. Spätestens Potempa hätte sie aufwecken müssen. Aber die notwendige „Einheitsfront“ gegen Hitler kam nicht zustande. Karl  Kraus war kein Politiker und vertrat gerade  deshalb durchaus politisch und unbedingt  die Sache einer Menschheit, deren  Bedrohung durch die braune Flut immer deutlicher Gestalt annahm, die Gestalt  eines von ihm befürchteten  neuen Walpurgisnacht und eines großen  Krieges. Man  darf zu dem Wirken der Sozialdemokratie gewiss Meinung anderer sein. Fakt bleibt für mich, dass sie  Hitler nicht ernst genug nahm, wäre sie ansonsten doch  jeden Pakt auch mit  bürgerlichen Parteien eingegangen, um Hitler zu verhindern. In seiner berühmten Rede „Hüben und Drüben“  spiegelt sich die Enttäuschung über den fehlenden Widerstand und wirkt wie ein Abgesang auf eine Sozialdemokratie, die nur ein halbes Jahr später in Deutschland aufhören wird zu existieren.  Karl Kraus  hellsichtige  Analyse mit unverblümten Worten zu den Nazis verdient auch heute noch größte Aufmerksamkeit.  Als ihm 1933 nach der Machtergreifung, wie er schrieb, zu Hitler nichts mehr einfiel, war es das Eingeständnis, dass alle seine Warnungen, das Wort also, den Verderber nicht hatten aufhalten können,  dass es nun zu spät war. ( W.K.Nordenham)

DIE FACKEL

Nr. 876—884 MITTE OKTOBER 1932 XXXIV. JAHR

Hüben und Drüben

Gesprochen am 29. September 1932

… da fühlte sich das deutsche Volk hüben und drüben eins.

… da obsiegte hüben und drüben das Gefühl,  daß Österreich ein Teil Deutschlands ist.

… Nie gelockerte Schicksalsgemeinschaft hat die deutsche Arbeiterklasse drüben und hüben vereint.

… treu dem Gedanken der Schicksalsgemeinschaft der deutschen Arbeiterklasse drüben und hüben ….

Und wenn die Welt voll Hakenkreuzler wär’ — an  deren Erschaffung ja der Sozialdemokratie, hüben und drüben, das Hauptverdienst gebührt —:  wir müssen uns endlich klar werden, daß es, seitdem sich Menschheit von Politik betrügen läßt, nie ein größeres Mißlingen gegeben hat als das Tun dieser Partei, und daß die Entehrung sämtlicher Ideale, die sie benützt haben, um mit der Bürgerwelt teilen zu können, vollendet ist. Ohne den geringsten Anspruch der Möglichkeit, solche Klarstellung an ein Forum heranzubringen, worin etwas von den beklagenswerten Massen Platz hätte (ohne es zu wünschen, weil ja an den Fristgedanken des Bonzendaseins leider auch der letzte sozialpolitische Bettel geknüpft ist, den das Bürgertum gewährt) — wird es doch nachgerade unabweislich, an eine kleine Schar wohlmeinender und gutgläubiger Jugend eine Frage zu stellen. Sie betrifft nicht solche, die der Zugehörigkeit zu dieser Partei lediglich den Sinn erteilen, einen Rest sozialer Errungenschaft außerhalb ihrer nicht  verteidigen oder nicht beanspruchen zu können. Sie betrifft nur solche, die sich darüber hinaus noch immer mit einer seelischen Hoffnung gebunden fühlen. Diese Jugend ist es, der die Frage gilt: ob sie es noch immer für vorstellbar erachtet, die Zugehörigkeit zu dieser Partei und die Anhänglichkeit an den Namen eines bekannten »Einzelgängers« in veritabler Vereinigung zu umschließen. Ob sie nicht endlich merkt, daß sich zwischen ihm und dem, was er als getünchten und umso scheußlicheren Schmutz der Bürgerwelt erkennt, eine Unvereinbarkeit ergeben hat: anstoßend wider ein sittliches Fühlen und Denken, welches in der Sphäre geistiger Unerbittlichkeit etwas Widerstandskraft gegen Entmannung erworben haben muß und gegen Versuche, sich das logische Einmaleins hinwegdisziplinieren und hinwegpharisäern zu lassen. Erkennt sie nicht doch einmal, daß die politische Jammergestalt, der sie ihr Ideal anvertraut hat, ganz und gar, nein voll und ganz der abgetakelten Welt zugehört, der es widerstrebt? Wie es an jedem Tag zur Phrase entehrt wird von einem Macht- und Würdepopanz, der aus Urväterhausrat politischen Lugs und Trugs die Mittel schöpft, sich durch die Generation zu fristen; dem Disziplin als Schutzvorrichtung dient gegen die Erkenntnis seiner Hinfälligkeit; der den Glauben einem System der Zucht unterworfen hat, mit dem verglichen alle Satzung und Dienstvorschrift, aller Komment der Generalstäbe, Burschenschaften und Bürgerklubs eine Revolution der Geister bedeutet! Sieht sie es nicht, wie diese Obmänner eines Menschheitsvereins im Zwiespalt von Tat und Bekenntnis wohnen, lebend von dem, was sie verleugnen, Heuchler bis zum letzten Hauch! Wie ihre Taktik ganz die ist jener Selbstgerechtigkeit, die als oberste Instanz die deutsche Sache im Weltkrieg vertrat; ganz das beruhigte Gewissen: tue unrecht und scheue niemand; die Haltung der verfolgenden Unschuld; die Fähigkeit, Niederlagen zu erringen, die Wahrheit »umzugruppieren« für beide Berichte, beide Lügen: um hinter der Anklage, oft hinter der Fiktion feindlichen Tuns es selbst zu verüben! Hört sie nicht diesen Tonfall eines Zurechtlegertums für jede Halbschlächtigkeit und jede ganze Lumperei, von keinem andern Fonds bezogen als von der Phraseologie altliberaler Burschenherrlichkeit, ohne doch eine Faser von deren moralischem Inhalt zu bewähren? Spürt Jugend nicht die Vertröstung in dem Schwall von Sonnensängen, nicht den Verschub in der Parole »Wir sind jung, und das ist schön!«, die der leibhaftige Marasmus ungeduldigen Erben gewährt? Biedermanns Trug, ob derlei in der Region der Turniere leben möchte, wo man »mit offenem Visier« leitartikelt und »Ihr Herren!« sagt, oder ob’s »Hooruck — nach links« geht und statt des Kampfs die Beziehung zu einem Handwerk vorgetäuscht wird, bei dem sich die Proleten anstrengen und die Komptoiristen schmunzeln. Doch welches Geschäft immer zur Abgabe dürftiger Metaphern hilft — das einzig Wirkliche und Wahre: die Lüge, quillt dieser Geistigkeit aus allen Poren. Und die vorrätigste aller Metaphern, die von altersher verderblichste: die Fahne — die Fahne, die alle Farben spielt, mit jeder die Gesamtheit blendend, deren Einzelne unbewegt blieben oder abgewendet dem tödlichen Ziel, dem sie winkt — welcher Verein von Kriegern, Bürgern, Turnern hätte jemals den Plunder toller entfaltet als der der Weltumstürzer, wenn er der Jugend Sehnsucht und Ungeduld abgewöhnen möchte, den Drang zur Idee oder den Wunsch nach Kontrolle, damit sie nur ja nicht erfahre, daß mancherlei nicht so schön ist, als jung zu sein! Ganz Hohenzollern hat nicht so viel Verbrauch von Hurrah und Feindschaft in der Welt gehabt, wie die österreichische Sozialdemokratie von einer »Freundschaft«: daß deren erklügelte Harmonie durch keinen Mißton getrübt sei.

Alles Talmi, alles Mumpitz wie eh und je, Urväter Unrat, circenses für panem und vor allem für das geistige Brot. Surrogat und ältestes, um der Neugier etwas zu bieten; eingestandener Neid auf andere politische Firmen, die mit so etwas wie einem Ideal arbeiten. Altösterreichische Generale, die ausnahmsweise nicht giftig sind auf solche, die »halt a Urganisation hab’n«, sondern die sie selber haben, aber halt a Romantik braucheten. Das Hakenkreuz hat die der Entmenschtheit, jegliche Art von Gesundbetern hat eine, selbst ein so niedriges Geschäft wie die Psychoanalyse beruht auf etwas Seelischem: dem hysterischen Defekt, der zwar nicht geheilt, aber behandelt werden kann, das Heilgewerbe ermöglicht, Beschäftigung
und Unterhalt gewährt; denn jeder Patient kann Arzt sein, jeder Betrogene Betrüger: jeder Geführte Führer; ist es auch Wahnsinn, hat es doch Methode, entspricht als Neuro-Mantik einem Trieb, beschäftigt eine schäbige Phantasie und nährt seinen Mann. Bei der Sozialdemokratie frommt’s nur der herrschen den Klasse (der Bourgeoisie innerhalb und außerhalb der Partei); und den Geführten wird, im Leerlauf der Organisation, vor der ewigen Taktikerfrage: »Also was tan mr jetzt?« — bald die Antwort einfallen: »Jetzt tan uns die Füß’ weh«. Denn viele, nicht alle können, ganz wie im Bürgerstaat, Beamte sein; die andern haben nur den Glauben, aber keine Hoffnung auf einen Fortschritt, der sich von der katholischen Springprozession, wo es drei Schritt vorwärts und zwei zurück geht, dadurch unterscheidet, daß es zwei vorwärts geht und drei zurück — eine Strapaz’, die schier unbegreiflich wäre, wenn sie nicht doch die Chance böte, einmal am Ausgangspunkt angelangt zu sein. Und erfolgt abwechselnd der animierende Zuruf: Hoo—ruck!, oder jener taktische Zuspruch, der den Rückschritt als die Bedingung des Fortschritts klarmacht, so wird man noch müder. Aber die Visage dieser Anführung — welch unabsetzbare Posse eines Optimismus: »Morgen gehts uns gut«! Uns kann nix gschehn: denn wir würden es uns gefallen lassen. Dem wackern Horatio vergleichbar, dem nachgerühmt wird, er sei der Mann, der nichts erlitt, indem er alles litt; wiewohl man von der Sozialdemokratie doch wieder nicht sagen könnte, sie habe keine Rente als den muntern Geist, um sich zu nähren und zu kleiden. In einem Erpresserblatt — und diese Partei war, wie es Stützen der Gesellschaft ziemt, Erpressern ausgeliefert, publizistischen und bureaukratischen — erschien durch lange Zeit immer dasselbe Cliché, das ein frohgemutes Bonzenantlitz zeigte; so verdächtig der Pranger, so richtig die Ansicht und so witzig die Beharrlichkeit der Reproduktion: Ausdruck des steten Würdebewußtseins mit vergnügten Sinnen, das von den Zinnen der Partei wie von einem Lug- und Truginsland auf alles Untertänige hinabschaut. Schmunzelnd wie jene ständige Aufschrift Arbeitersang, deren Frakturbuchstaben ausgewechselt werden mußten, weil man das s für ein f gehalten hatte. Charakterologisch taugt unsere Sozialdemokratie gewiß zur Vertretung dessen, was sie so gern deutsch-österreichische Schicksalsgemeinschaft nennt, indem sie nicht nur Disziplin mit Schlamperei vereinigt, sondern auch jene materialistische Geschichtsauffassung, die in dem Trost beruht: »Da kann man nix machen«, mit der Technik der Herrichtung auf den Glanz. Ihr kann wirklich nicht mehr viel geschehn, selbst wenn die Begleithandlung zu jedem Hooruck sich umgekehrt vollzieht — macht nichts, wir Pharisäer sind Schriftgelehrte und können von rechts nach links lesen. Und entschädigt denn nicht jeder Rückschritt durch die Pünktlichkeit, mit der er ein-trifft, wenn man ihn, die Uhr in der Hand, tiktaktisch auskalkuliert hat? Daß der Zeiger rückwärts geht, liegt an der Zeit, nicht an der Uhr, denn die ist ein Präzisionsapparat! So mag es wahr sein: diese Partei von Republikanern, welche auf den Trümmern einer Monarchie die Methode jenes Fortwurstelns erbeutet hat, das die Wartezeit bis zum Untergang ausfüllt — sie kann, vermöge programmatisch festgelegter Weitsichtigkeit (Rückschläge inbegriffen), länger bis zur Machtergreifung durchhalten als der Nationalsozialis-
mus, der sich durch Kompromisse erledigt und der die Gewalt, die er nicht ergreift und nicht einmal anwendet, verliert. Gleichwohl: der Zeitvertreib, den die Sozialdemokratie ihren Anhängern, bis zum Ziel, bis zum Ende garantiert, ist der tödlichste ihrer Rückschläge; solches wieder nach deutschem Kriegsmuster: Taktik der Zermürbung unser selbst! Die geistige Welt des Kommunismus — in einem kürzeren Moratorium, vor dessen Ablauf das Machtmittel den Zweck verzehren könnte — sie organisiert sich doch aus dem Gedanken jener letzten Hoffnung, die die Verzweiflung bildet, und der Mut seiner Bekenner, der volle Einsatz auf einer Barrikade, die die Sozialdemokratie vor der Stirn hat, verbindet ihn wie mit dem Tod auch mit dem Leben. So widermenschlich alles Parteiische sein mag, an jeglichem hat die Natur, noch mit Blut oder Schlamm, ihren Anteil. In welcher Fabrik der Atem hergestellt wird, der die Sozialdemokratie am Leben erhält, ist ihr Parteigeheimnis. Sie ist die lebendig gewordene Langeweile, der organisierte Aufschub, unterbrochen von Inseraten der Bourgeoisie und den, meinem Sprachschatz entnommenen Witzen über dieselbe. Ich verleugne mein Blut! Nicht fremder Spott, mit dem sie ihrer selbst spottet, nicht die Zutat der optimistischen Phrase, nicht Kampf noch Hoffnung ziemt Lemuren, die ihr eigenes Grab schaufeln. Sie ist in keinem Geist zu Hause — sie geht uns nichts mehran! Sie wirkt fort als die staatlich konzessionierte Anstalt für Verbrauch revolutionärer Energien: seit sie aus dem Weltbrand hervorging als der Treuhänder bürgerlicher Zuversicht, daß »alles gerettet« ist bis auf zwölf Millionen und ein großer Aufwand schmählich vertan. Nichts wöge der verlorne Krieg, hätte die Sozialdemokratie nicht den Frieden verloren! Sie hat ihr Verdienst überlebt — ihre Schuld wird sie überleben. Denn sie ist schuldig, daß alles, was wert war, daß es zugrundegeht, fortbesteht und in Phönixfarben prangt. Schuld ist sie an einem Umsturz, der so beschaffen war, daß ihn die Schieber mit der Formel quittierten: »geht in Ordnung«. Schuld ist sie — und der die »Letzten Tage der Menschheit« schrieb, sagt es —, daß gegenüber einer Demokratie, die jeglichen Aussatz der Vorkriegswelt zu tropischem Gedeihen fördert, das Leben in der Staatsform, die den Fluch entfesselt hat, rehabilitiert erscheint; daß uns ein kulturelles Heimweh ergreift nach dem verjährten Übel, und daß die politische Freiheit, vergewaltigt und verhöhnt von ihren Lippenbekennern, aufgehört hat, ein geistiges Problem zu sein! Alles ist geblieben, wie es war, alles ist schlechter geworden, als es war, doch so identisch links und rechts, daß es der Sozialdemokratie gewährt ist, durch den geringern Grad an bürgerlicher Korruption aufzufallen!

Aber der höhere an bürgerlicher Heuchelei ist beträchtlicher. Ihre Taten oder Nichttaten mögen sie gesellschaftsfähig gemacht haben — ihre Sprache entlarvt sie und bekehrt den Freund ihres Wollens zum Feind ihres Seins. Das ist der Gestus, der nicht wahr haben will, was er tut, und den Beweis als Lüge ächtet. Das ist die Taktik jenes Generalstabs, der gewußt hat, daß man am besten lügt, wenn man den, der die Wahrheit sagt, verdächtigt, und was mit Augen zu sehen und mit Ohren zu hören ist, so bestreitet, daß einem Hören und Sehen vergeht. Das ist der Tonfall, der eszurechtbringt, das, was man schwarz auf weiß besitzt, als Phantom wirken zu lassen. Von einer Kriegsschuld, die sich zur Not durch Ultimaten nachweisen ließe, durchhaltend bis zur Entrüstung über eine »Kriegsschuldlüge«, scheint er zu sagen: ich habe es zwar getan, aber ihr dürft es nicht  glauben, denn die andern haben es getan; wohl dem, der lügt und rein ist von Schuld und Fehle!  Das ist der speiwürdige Biedermannston, der für alle politische Witterung vorgesorgt hat; zu jeder Niederlage die Attitude bereit hat und, wenn es neunzig tote Proletarier zu vergessen gilt, die Einteilung in »Gefühlssozialisten« und »geschulte Marxisten«. Das ist die  unwiderrufbare Selbstgerechtigkeit, die anders denkt als handelt, anders politisiert als agitiert; Umzüge für den »Anschluß« veranstaltet, während sie bei anschlußfeindlichem Ausland um Schutz gegen die Heimwehr bittlich wird, und wieder mit dem Anschluß im Herzen, mit der Nation im Munde, Lausanne in Ordnung bringt. Das ist die Überzeugtheit, die doppelt besser hält, so daß die bürgerlichen Kostgänger einer Creditanstalt Lumpen sind und die Annoncen ihrer Generalversammlungen in einem Organ Lassalles die plausibelste Sache von der Welt; die vorne »den Kampf gegen die Krupniks« führt, wenn hinten »Krupnik voran« schreitet; die einem bußfertigen Lippowitz, seit er sich die Unzucht abkaufen ließ, das »Massageblatt« vorwirft, während der Redaktionsetat eines Schwesterorgans von eben den achtzig Wohltäterinnen bestritten wird, die jener dem Heimatgedanken zum Opfer brachte; die so schamfrei ist, einen »Kraus-Jargon« zu verwerfen, den sie durch ein Lustrum als die Sprache unantastbarer Wahrhaftigkeit verherrlicht hat und noch heute bestiehlt; die die »Sieghart-Husaren« höhnt, wiewohl ein General der Eigenen nach Siegharts Pfeife Shimmy tanzte; die den Mordbestien des Hakenkreuzes flucht, sie aber auch als »faszistische Söldner« brandmarkt, von deren Berliner Publizistik ein Redakteur der Arbeiter-Zeitung Sold bezog. (Und ihr Chef hatte, wie ich weiß, die Stirn,einem ehrlichen Sozialisten, der diese Schande   unerträglich fand, die Ehre abzusprechen! Aber ob er es nun noch wagen wird, einen Ton in dieser Richtung von sich zu geben oder das Nichtmucksen, auf das er verwiesen würde, vorzieht — der stärkste Fall von sozialdemokratischem Doppelverdienertum an Bürgerehre wird nicht unerörtert bleiben. Meinetwegen auch vor der bürgerlichen Justiz, für welche die  Hörer ihre Aufmerksamkeit schärfen mögen, damit ja nicht wieder einer bezeuge, ich hätte auch nur um ein Jota anders gesprochen als gedruckt! Es handelt sich, wie man erkannt haben dürfte, nomina sunt odiosa, um jenen Musikfachmann, der etwas von Mozart hat, nämlich einen Vornamen, und dessen Fähigkeit, aus revolutionärer Marschmusik für die Leserschaft Viktor Adlers den ehernen Tritt der Arbeiterbataillone herauszuhören, für die Leserschaft Hitlers aber nicht — dessen musikalisches Taktgefühl in so verschiedenen Lagen also von der bürgerlichen Justiz keineswegs als Beweis für »Schlieferlpraktiken«, von der Parteijustiz jedoch als honorig erkannt ward. Und es handelt sich um jene »Berliner Börsenzeitung«, deren nach jüdischem Kapital, also ganz unverdächtig klingender Name noch zu einer Zeit die Mitarbeit eines Sozialisten harmlos machen sollte, als ihr Chefredakteur schon als Wirtschaftsberater und Ressortminister des Hakenkreuzes ausersehen war. Der Tonfall hätte zu erwidern: Wie, ihr könnt glauben, daß sie ein Hakenkreuzlerblatt ist und daß ein Sozialdemokrat an so einem mitarbeitet? Erstens ist sie bloß ein Blatt des Finanzkapitals, zweitens arbeitet er nicht mit, denn drittens hat er soeben die Mitarbeit aufgegeben, weil es ein Hakenkreuzlerblatt ist und ein Sozialdemokrat so etwas nicht tut, ihr Herren, wenn man ihm draufkommt!) Die Fähigkeit zu allem, was dem andern verübelt wird, und die unanfechtbare Selbstverständlichkeit einer doppelten moralischen Buchhaltung —solcher Wesenszug könnte vielleicht die sonderbarste Erscheinung erklären helfen, die das klinische Bild dieses Staatslebens aufweist: des deutschnationalen Hangs unserer Sozialdemokratie, ihrer Zuneigung zu jenem folkloristisch interessanten Typus, der weder im Weltkrieg noch  später die Welt dahinbringen konnte, an seinem Wesen zu genesen. Rassenmäßig besteht keine Verbindung. Auffällig ist der Unterschied, daß es sich drüben um die neudeutsche Form einer Entartung handelt, die ursprünglicher Wert durch den zivilisatorischen Betrieb erleiden mußte, den er »letzten Endes« nicht verträgt; während hüben aus dem Fonds jener altfränkischen Vorstellungen geschöpft wird, die das einstige Deutschtum hinterlassen hat. Der Biedermannston unserer Sozialdemokratie, im Gaudeamus ältester Burschenherrlichkeit verankert, bedient sich für seinen Bedarf an Phrasen der Anregungen, die ein völkisches Leben bietet, das in dieser Fasson in Deutschland gar nicht mehr vorhanden ist. Aber weil es  auch eine Lage der Deutschen in Österreich insofern nicht mehr gibt, als sie sich nur noch in dieser befinden, so hat unsere Sozialdemokratie, die die Überlieferungen der weiland  Deutschen Fortschrittspartei hochhält sowie die Ideale, zu deren Vertretung die Großdeutschen zu schwach waren, einen Ersatz im »Anschluß« gefunden, der bekanntlich zugleich ein  Gedanke und eine Herzenssache ist, wenn er nicht eine handelspolitische Maßnahme bedeutet, vor deren Zwang auch jeden, der kein Österreicher von Beruf ist, das Schicksal behüten möge. Es mag wahr sein, daß Österreich von den Siegermächten über die Schuld hinaus verkürzt wurde, die sein Rest an dem Verbrechen der Monarchie trägt; aber sie haben es doch einigermaßen durch das Verbot, sich an Deutschlandanzuschließen, entschädigt. Unsere Sozialdemokratie, deren Gefühlsleben anders tendiert und deren Gedankenleere auf weite Sicht abgesteckt ist, muß dieses Verbot als Fessel einer Entwicklung empfinden, die sie andauernd im Auge hat. Und bei allem Geschick, mit dem sie sich im Bereich sozialer Tatsachen den »Gegebenheiten« anzupassen pflegt, die sie herbeigeführt hat, bedeutet eine außenpolitische Unmöglichkeit für sie kein Hindernis, von einer vorrätigen Phraseologie den Gebrauch zu machen, der eine romantische Ablenkung der enttäuschten Gefolgschaft ermöglicht. Darauf eben hat sie es abgesehen, weil man doch in einer Zeit, wo es mit dem Sozialen so schwer vorwärtsgeht und für ein primitiver gewordenes Geistesleben der Nation das Nationale seine Zugkraft hat, auch etwas von der Art bieten muß. Es gibt — und dies ist leider Gottes die stärkste aller Gegebenheiten, die wir herbeigeführt haben — es gibt Nationalsozialisten: da bleibt uns nichts übrig, als Sozialnationalisten zu werden, und uns zu gebärden, als wären wir die echten. Wäre in der Politik etwas wie eine Wirklichkeit vorhanden, so müßte man glauben, daß unser Sozialnationalismus, dessen Geistigkeit tief im Frankfurter Parlament wurzelt, einem nicht mehr zu bezähmenden Drang der proletarischen Seele gehorche. Aber es ist ein bis auf Widerruf freiwillig eröffneter Vulkan. Alles Sache der Zurechtlegung, die die Chancen der Konkurrenz abschätzt; und die Juden können nach Bedarf noch altfränkischer sein. Hat die Freiheit den Schillerkragen, so trägt die Brüderlichkeit den Kalabreser. Mehr als das: Marx nimmt Turnunterricht bei Vater Jahn, eine Spezialität, wie sie die Kulturgeschichte bisher kaum aufzuweisen hatte. Und nicht zu sagen, wieviel Elan unsere Taktiker entwickeln! So nüchtern sie im Sozialen Wellenberge als die Vorläufer von Wellentälern und viceersa abzuschätzen wissen, im Nationalen schwelgen sie, können nachempfinden, was in den Gemütern einer Trautenauer Stammtischrunde vor sich geht, und haben jedenfalls schon den Anschluß an die Sudeten vollzogen. Da kehren denn die Termini wieder und immer wieder, mit denen der Protest gegen die Zumutung, »Vasallen Frankreichs« zu werden, der Abscheu vor den »Französlingen« bekundet wird, und dergleichen treue Ladenhüter mehr, wahre Eckarts politischer Mythologie. Natürlich unbeschadet des Umstandes, daß wir die Nationalsozialisten wegen der gleichen, aber glaubhafteren Aversion gegen den »Erbfeind« verhöhnen (denn wir wollen lieber freie Pharisäer sein, als »eine Kolonie von Frankreich«!). Ich, der sich einbildet, zur deutschen Sprache annähernd so gute Beziehungen zu unterhalten wie ein Leitartikler der Arbeiter-Zeitung, ja sogar der schlechthin Deutschösterreichischen, habe nie ein Hehl daraus gemacht, daß ich eben im Hinblick auf das Sprachgut einem Anschluß an schießende Koofmichs die Aussicht vorzöge, von Frankreich kolonisiert zu werden (von den »französischen Kapitalisten«, die wenigstens das sind, was sie scheinen, und trotzdem oder eben deshalb vielleicht menschenähnlicher sind als deutsche Arbeiterführer; mögen sie auch als Kapitalisten einer Internationale angehören, die leider Gottes besser zusammenhält als die andere). Der richtige Anschluß, den ich den deutschen Brudervölkern mein Lebtag gewünscht habe, wäre der an die Sprache, die sie im Munde führen. Deutsches Fühlen, sich selbst-berufend bis zum Nichts der Redensart — hätte es denn nicht in der Wiedereroberung des wahren »Bodens«, in dem es wurzelt, die einzige Politik zu suchen, die Kampf und Opfer aller Parteiung lohnt? Wenn es ein überirdisches Wesen gibt, das einer Nation das Geheimnis der tiefsten Sprache anvertraut hat, so muß es sich doch sterblich lachen über die tägliche Preisgabe durch sie und durch den üblen Haufen der Wortführer, die da sagen und vielleicht glauben, ihr Wollen wäre deutsch. Denn es ist ein Greuel und ein Spott vor dem Herrn, wie diese Sprache, deutlicher als jede andere, zu dem Nachteil wurde, den die Menschen vor den Tieren voraushaben!

Können aber die Kopfjäger, die seit dem Irrsinn des Weltkriegs auf die Reste von Menschheit losgelassen sind und es Politik nennen — können sie uns denn nicht umbringen, ohne uns vorher blöd zu machen? Soll es uns nicht mehr gewährt sein, die Unvereinbarkeit von Nationalismus und Menschenwürde zu erkennen? Und wenn ich es mir gewähre, weil ich mich weder von berufenen noch von unberufenen Agenten der dementia nationalis blöd machen lasse, so frage ich: Was hat ein Konsumverein mit Pathos zu schaffen?  Und wäre es nicht    der menschlichen Vegetation  zuträglicher,  daß wir ökonomisch von Frankreich versorgt werden, als dieses kulturell von Newyork, Budapest und Berlin? S. P. D., K. P. D., D. N. P.,         N. S. D. A. P. — all diese Verschwörerformeln, die Gut und Blut kosten, all dies W. E. H. E. wollte ich freien Herzens, offenbachschen Sinnes, vom Hohn einer zeitlosen Musik  herabgewürdigt hören auf jenes A. B. C. der Natürlichkeit! Vaterlandsfrei bekennen, daß mir, wiewohl auch dort die Zeit das ihre getan hat, das Lebensklima unter der Formel s. v. p. begehrenswerter erscheint: dem s’il vous plait, das es noch gibt und das selbst den Ämtern im Verkehr mit den Menschen vorgeschrieben ist, der Redensart, die im Gegensatz zu unseren Phrasen eine Lebensart bedeutet! Und diese Formel, deren Äußerlichkeit doch auf den Inbegriff der Freiheit weist: vom Nebenmenschen zu verlangen, was ihm gefällt; dies Gebot, nach welchem sich jegliche Politik zu orientieren hätte — es hat durch allen zeitlichen Verfall die dortige Volksnatur widerstandsfähig erhalten: gegen die Freiheit nicht minder als gegen die Sklaverei. Solche Bewahrung vollzieht sich durch einen Nationalismus, den der deutsche Widerpart nicht nur falsch sieht, sondern auch zum falschen machen könnte, der sich aber immer noch in dem Bewußtsein sprachlichen Besitzes erfüllt und in der Verantwortung vor einer Sprache, zu der es freilich die Nation nicht so weit hat wie wir zu der unsern, mit der sie jedoch umso vertrauter ist, in der Schrift wie im täglichen Umgang, welchen sie gleichsam mit ihr selbst pflegt. Deshalb wird der, dem Politik nicht die letzte Beziehung zur  Menschheit kompromittieren könnte, die Harmonie zwischen dieser und dem Begriff eines »Patriotismus« am ehesten dort gegeben finden. Mein Drüben — wenn’s schon nicht mein Hüben sein kann — ist dort! Heimat ist, wo man sich heimisch fühlt; wo man zu Hause ist, ist man es nicht immer; und bestimmt nicht dort, wo der Tod drauf steht, solches zu bekennen! Es ist die erbärmlichste aller Verlogenheiten, die das parteijournalistische Lager vorrätig hat, wenn Intelligenzler, deren einziger Vorzug bisher darin bestand, vaterlandslose Gesellen zu sein, bei dem Klang des Namens »Deutschland« zu bibbern beginnen, Verengung des Wamses durch Herzerweiterung vortäuschen und Gefühlstöne, die bodenständigen Höhlenbewohnern ziemen, mit Auskennerschaft praktizieren. Gewiß wäre eine Geistesbildung, die zur politischen Praxis als solcher taugt, im Grunde keiner Enttäuschung wert; aber daß Leute, die immerhin ein paar nationalökonomische Bücher gelesen und vielleicht sogar Marx verstanden haben, sich auf ein Gedankenleben reduzieren können, das in der Inschrift  eines Bierkrügels, eines Gablonzer Wandtellers, einer Schlummerrolle Platz hat; daß Sozialisten rot werden wie erhitzte Kegelbrüder ob der »Nichtswürdigkeit« einer Nation, die nicht ihr alles freudig setzt an ihre Ehre, während doch der einzige Sinn jeglichen Fortschritts, der einzigewahre Gewinn des Weltkriegs in der Ausrottung dieses unseligsten aller Ehrbegriffe  gelegen sein müßte — das wäre tragisch, wenn es wahr wäre, es ist aber nur zum Speien, weil es gelogen ist! Denn man vergegenwärtige sich bloß die Schmach, die Vasallen Bauer und Pollack als die Vertreter der besiegten deutschen Nation, womöglich durch ein Spalier spottlustiger Französlinge (worunter ich), im Triumph aufgeführt und dem Genossen Blum vorgeführt zu sehen. (Während die Anbiederung ans Völkische nur das bekannte Erlebnis nach sich ziehen könnte, das jenem Großstädter widerfuhr, der sich in der Tiroler Tracht wohl fühlte, einem ihm begegnenden Landmann frohgemut »Grüaß Gott!« zurief und die loyale Antwort bekam: »Grüaß Gott, Herr Jud!«) Was die Wortführer der österreichischen Sozialdemokratie immer wieder antreibt, uns mit diesem Gejodel zu überraschen und mit ihrer Sehnsucht nach »deutscher Freiheit«, »deutscher Demokratie« und sonstigen Herzenssachen zu amüsieren, mag vielleicht einer Erkenntnis des Freiheitskämpfers Heine entsprechen, der freilich zu französischen Kapitalisten ganz gute Beziehungen unterhielt: »Denn man baut aus deutschen Eichen keine Galgen für die Reichen«. Sicher aber ist es Ersatz durch eine Ideologie, die den Anhängern die Wartezeit bis zur Verwirklichung des programmgemäßeren Ideals erträglich machen könnte: aus dem kümmerlichen Drang, es mit der Attraktion des echten Nationalsozialismus aufzunehmen. Manche sozialdemokratische Bestrebung hat ja ihr Motiv nicht an der Oberfläche, wo ihr Gedanke liegt; selbst die programmatische des Antiklerikalismus wurde mir einmal von Frank Wedekind auf eine ungeahnte Triebkraft zurückgeführt: die des moralbürgerlichen Anstoßes an der freiheitlichen Institution der Pfarrersköchin. Eine keinesfalls abzuweisende Erklärung, wenn man die Hypokrisie bedenkt, die die Partei durch Jahrzehntevor Problemen des Menschendaseins bewährt hat, die noch vitaler sind als die Brotfrage, bis endlich jüngere Kräfte und talentierte Lehrlinge der Fackel für etwas sexuelle Aufklärung der sozialdemokratischen Väter sorgten. Aber noch nachdem ich selbst meine Schriften vor Arbeiterauditorien vertreten hatte (immer möchte ich solches Publikum, nie wieder solche Veranstalter!), konnte ich von dem Ärgernis hören, das der Gebrauch des Wortes »Hure« bei den Familien von Parteifunktionären erregt hatte. Leichter haben sie sich mit der Einführung des bürgerlichen Sexualtratsches in die Gerichtssaalrubrik befreundet.

Eine weit populärere Tendenz jedoch als die Freiheit der Geschlechter dürfte bei ihnen noch heute die Vermittlung zwischen Stämmen sein, die Anschluß suchen. Die Christlichsozialen  — und mögen sie hinter der Abneigung gegen ein Hitlerdeutschland ihr eigenes Österreich verteidigen, ihre eigene politische Ambition verfolgen — haben natürlich ganz recht, jetzt gegen solchen Anschluß rühriger zu werden und aus ihrem Herzen nicht die Mördergrube zu machen, in die wir längst hineingefallen wären, wenn eben Frankreich dem  außenpolitischen Drang unserer Sudetensozialisten  (wie zuletzt der Zollvereinsmeierei) nicht Kandare angelegt hätte. Anstatt nun das Wort »Anschluß«, das ja im Annoncenteil des Zentralorgans vorläufig noch keine Sehnsucht befriedigt, im redaktionellen Teil höchstens für Bahnfahrten innerhalb des Bundes zu verwenden, unternehmen es jene, mit dem gewissen »Nun erst recht!« — mit der Zuversicht aller Bankrotteure, die, vom Weltkrieg bis zur Zollunion, eine Dummheit zum zweiten Male machen würden —, die  Herzenssache, die keine Gehirnsache ist, ausgerechnet jetzt aufs Tapet zu bringen. Nicht was die Christlichsozialen da in Versammlungen geäußert, sondern was ihnen die Sozialdemokraten zum deutschen Wahltag geantwortet haben — der ja inkeinem Fall der Entscheidung eine für den »Anschluß« sein konnte —: es ist aufhebenswert, wie jeder dieser Leitartikel, die der ausgeliehenen und ausgeleierten Walze einer deutschen Gemeinbürgschaft Kopftöne des Gemütes entlocken. Da ist jedes Wort unerlebter als der Handgriff des Setzers, den doch ein Gefühl des Grausens angeht, wenn sein Parteischreiber sich in Gefilden gütlich tut, die so weit von der Welt proletarischer Sorgen liegen. Verarbeitet wird die endlich unabwendbare Erkenntnis, daß der »Anschluß« an ein faszistisches Deutschland unmöglich wäre. Aber freilich, dort wo der Hund begraben ist, dort hat der Taktiker noch lange nicht die Hoffnung begraben, die er eben an diesem Grabe aufpflanzt. Heute also fällt die Entscheidung: entweder nämlich siegen die faszistischen Söldner (in welchem Fall einer unserer Redaktionsgenossen deutscher Offiziosus werden könnte, wenn ihn jene nicht von dem Gesinnungskonflikt befreien — was aber soeben wir getan haben, lange nachdem die Berliner Börsenzeitung als eine der drei nominiert war, die im dritten Reich zensurfrei erscheinen dürfen); entweder siegen sie also — was ihnen nach langjähriger Vorarbeit der deutschen Sozialdemokratie ja gelingen könnte — oder, man hat es erraten: sie unterliegen. Dieses Entweder — Oder enthält nicht nur alle Prophetie des Zurechtlegers, sondern auch einen Trost:

Was immer aber dieser Tag bringe —                                                                                                                                                                                                                                                                                                            es wird eine Entscheidung von geschichtlicher Größe sein.

Das ist wahr; eine Entscheidung nicht nur »für unser großes deutsches Volk«, sondern auch eine, die das Gesicht Europas usw. Und nun kommt, aus Wellenbergen und Wellentälern zusammengeballt, der ganze Gefühlsozean, der Hüben und Drüben verbindet. Aber nicht daß eine Barbarei einbrechen würde, die mit dem zu entbehrenden Pofel einer Prominentenkulturauch allen Wert, ja das werteschaffende Leben selbst begrübe; nicht daß dann der Untergang einer Freiheit, deren Begriff die Sozialdemokratie bloß zum Hohn gemacht hat, besiegelt wäre — nicht solches wird nun erörtert. Sondern was? Die dann noch bleibenden und die immer bleibenden Chancen des »Anschlusses«.

Als im Novembersturm von 1918 die republikanische Demokratie in
Deutschland und in Österreich obsiegte,

um mit den von ihr besiegten Mächten zu packeln und deren Erholung vorzubereiten,

da fühlte sich das deutsche Volk hüben und drüben eins. Da
erlebte am 12. November 1918 — — da obsiegte hüben und
drüben das Gefühl — —

»Selbst die Klerikalsten der Klerikalen«, was taten sie da? Sie

haben es seither nie gewagt, ihre innere Gegnerschaft gegen den
Anschluß offen zu bekennen. Sie haben es nicht gewagt,
bis — — Sie haben es nicht gewagt, bis — — Sie haben
es nicht gewagt, bis — — Jetzt aber wittern unsere
Schwarzgelben wieder —

na was läßt man den Gegner in solchem Fall wittern?

Morgenluft.

Seitdem nämlich die Phraseure sämtlicher Parteien sich des Leitartikels bedienen, werden die Gespenster, die selbstverständlich immer nur im feindlichen Lager umgehen, am Morgen aktiv, während es doch zu den verbrieften Lebensgewohnheiten von Gespenstern gehört, sich zur Ruhe zu begeben, sobald sie Morgenluft wittern. Diese verkehrte Lebensweise haben sie mit mir gemeinsam, der aber noch rasch den Leitartikel durchfliegt und, sooft er das mißverstandene Zitat findet, mit einem beruhigten »Schon faul!« sich schlafen legt. Auf diese  Art nehme ich Kenntnis davon, daß abwechselnd die »Marxisten« und die »Antimarxisten« Morgenluft wittern und einander wittern lassen. Aber die klerikalen Gespenstersind eben »jetzt« aktiv, und wenn sie es bisher viermal nicht gewagt haben, so müssen sie jetzt doch mindestens fünfmal etwas unternehmen. Da wären also zuerst die Unbilden jener Witterung (oder vielmehr die Unbildung jenes Witterns); und dann gehts los:

Jetzt fühlen sie: ein Deutschland, das seine Bürger wieder zu Untertanen der ostpreußischen Barone erniedrigt, verliert seine Anziehungskraft. Jetzt jubelt das christlichsoziale Hauptorgan — —   Jetzt spielt Herr Kunschak — — Jetzt erklärt Herr Dr. Aigner — —

Aber ganz mit Recht, da eben jetzt die ostpreußischen Barone gefährlicher sind als die französischen Kapitalisten, geschieht das alles jetzt, während die Sozialdemokraten sich mit ihrer Anschlußdummheit schon immer hervorgewagt haben. Ist es nicht, als ob sie »jetzt« dem Gegner die eigene Einsicht ankreiden wollten? Nein, pharisäischer, ihm die eigene Blamage vorwürfen?

Oh, wir wissen sehr genau, welch erbärmliche Heuchelei darin steckt,

nämlich immer in dem, was der Gegner tut. Nun wird diesem noch ein fehlender »Trennungsstrich« entgegengehalten, und dann heißt es nur dreimal:

die Partei der Herren Vaugoin und Rintelen, die Partei, die — —
die Partei, die — —

»Aber so erbärmlich die Heuchelei sein mag«, die solcher Tonfall überzeugend dartut — das Zentralorgan muß gestehen, und zwar bloß zweimal: daß diese »Wendung«, die der Sozialdemokratie offenbar unverhofft kommt, »doch eine eindringliche Lehre« ist. Immerhin hat nämlich »die Partei, die« recht, daß sie sich klerikal, wie sie ist, jetzt vor dem Anschluß zu bekreuzigen wagt. Die Begründung der Aversion mag den Sozialdemokraten verdächtig sein — daß diese endlich laut wird, ist ersprießlich.  Die eindringliche Lehre, die selbst jene  empfangen, besteht also in der Erkenntnis:

wie jeder Sieg der Reaktion in Deutschland die Anziehungskraft   Deutschlands dermaßen schwächt,  daß die, die ihre innere Feindschaft gegen die deutsche Einheit aus Furcht vor der öffentlichen Meinung ein Jahrzehnt lang zähneknirschend verbergen mußten, sie jetzt offen zu bekennen wagen können!

Das immerhin beträchtliche Fazit wäre, daß eine durch Leitartikel nicht nur blöd, sondern auch feig gemachte Öffentlichkeit aufgerüttelt wurde, nachdem sie des kompletten Ausbruchs eines allzeit drohenden nationalen Irrsinns bedurft hat, um dessen Anziehungskraft geschwächt zu finden. Die Nibelungentreue, mit der sie sich aushelfen, hat sich ja öfter in einem  gegenseitigen Opfer des Intellekts bewährt, vorbildlich im Jahre des Unheils 1914, als der große Blutsbruder in schimmernder Wehr einem Kadaver sekundierte. Dieser mußte nur den entsprechenden Gehorsam leisten und durchhalten, solange jenem beliebte, auf verlorenem Posten auszuharren. Man erinnert sich noch der grausigen Metapher von dem »Irrsinnigen auf dem Einspännergaul«, den er als Schlachtroß antrieb. Nach solcher Tour, in solchem Zustand sollen wir uns nun »anschließen«, der ärmste aller Klepper sucht seinen Herrn,  nachdem der imperialistische Wahnwitz dem weit tolleren Platz gemacht hat — diesem Produkt eines faulen Friedens nach einem verpfuschten Krieg, der mit Emblemen begonnen und mit Reparationen beendet wurde: statt mit einem Strafgericht an den Schuldigen mit einer Pfändung ihrer Opfer. Zwischen solchen Siegern und solchen Sozialdemokraten gewann die  unbesiegliche Denkart, die sich nie für besiegt halten könnte, Nahrung. Während hüben ein gutartiges Volk das Übermaß der Buße trägt für die Ergebung, mit der es sich von den verbrecherischen Halbkretins einer Doppelmonarchie auf den Kriegspfad führen ließ, hat man drüben — wo man im Stechschritt durchs Leben geht und lieber tot ist als nicht Sklave! — nichts und alles vergessen, verlangt man die Legionen zurück, um sie noch einmal zu verlieren, schwoll der Drang, durch Schaden dümmer zu werden, empor zu der größten nationalen Bewegung, die diese blutige Erde erlebt hat. Vor einer Entscheidung, die der Ausgang der Wahlen bestenfalls verzögern konnte, muß selbst die österreichische Sozialdemokratie eine Chimäre aufs Eis legen.

Aber was drüben zum Blutrausch wird, bleibt hüben ein Hirngespinst; gläubiger als »die Klerikalsten der Klerikalen«, die sich schließlich mit dem, was Gott gegeben und Gott genommen hat, abfinden, faßt man die »Gegebenheiten«, die Genommenheiten, als Unterpfand des Schicksals auf und weiß noch hier einem fatalistischen »Obzwar« ein optimistisches »Und wenn schon« entgegenzusetzen. Gewiß, die Anziehungskraft Deutschlands ist ausnahmsweise derzeit geschwächt:

Wir aber denken anders.

Nicht sehr tief, aber anders. Denn was bedeutet drüben ein Jahrzehnt Bürgerkrieg gegenüber den Äonen der Entwicklung, in denen wir hüben denken? Die »deutschösterreichische« Sozialdemokratie (welche sich so nennt) hat sich »immer als ein abgesondertes Korps der großen Armee des deutschen Sozialismus gefühlt«. Das ist aber nicht etwa eine Anspielung darauf, daß diese Armee 1914 den Fahnen Wilhelms, des Eroberers, sondern daß sie »Lassalles großen Worten« gefolgt ist, die »auch die österreichischen Arbeiter geweckt« haben. Zwar nicht so sehr, daß sie den Widerspruch zwischen Lassalles großen Worten über die Annoncenpresse und den großen Annoncen Krupniks bemerkt hätten. Doch als Krieg zwischen Preußen und Österreich war, »haben die Wiener Arbeiter Wilhelm Liebknecht zugejubelt«.  Nicht mehr später, als er in der Fackel die Wahrheit über die falschen Freiheitskämpfer schrieb. Aber 

nie gelockerte Schicksalsgemeinschaft hat die deutsche Arbeiterklasse drüben und hüben vereint.

Drüben und hüben ist eine Abwechslung; doch Schicksalsgemeinschaft ist eine nationale Phrase, denn als sozialer Gedanke müßte sie ganz ebenso die österreichische und die  französische Arbeiterklasse vereinen. Und welche Wendung durch Gottes Fügung läßt uns Materialisten an ein Geschick glauben, das wir doch bisher nur von der Seite des Ungeschicks kennen gelernt haben? Nun kommt die abgetakelte Redensart, daß der Sozialismus nur »werden« kann »in größerer, durch Volkszahl und Wirtschaftskraft und räumliche Ausdehnung selbständigerer Gemeinschaft«. Das wäre ja sogar bis zu der Erfüllung des Wunsches richtig, daß sich die Proletarier aller Länder vereinigen mögen. Aber auf dem Weg zu diesem Ziel dürfte der nationale Vorspann eher hinderlich sein, indem er die Nationalisierung der anderen Proletarier, welche der Anschluß nicht umfaßt, fördern könnte. Doch da wir ja anders  denken, bedarf es nur noch eines Wellenberges der Entwicklung, damit »unser Boden« ein Teil »des großen, freien Deutschland« sei, »des Deutschland der Arbeiter«, welches das  »Deutschland von morgen oder übermorgen« sein wird. (Sagen wir vorsichtshalber von übermorgen.)

Denn wir kennen die deutsche Arbeiterklasse. Sie war noch jung und schwach, als Bismarck sie vor einem halben Jahrhundert mit dem Sozialistengesetz zerschmettern wollte —

und wie steht es heute? Bitte:

Bismarck ist tot, und die Deutsche Sozialdemokratie lebt!

Wir denken wirklich anders. Denn anderen könnte etwa einfallen: Lassalle ist tot und die Deutsche Reaktion lebt! Es könnte ihnen sogar einfallen, daß eben das, was Bismarck mit dem Sozialistengesetz mißlungen ist, einem preußischen Leutnant mit drei Mann Reichswehr gelang, von denen die Machthaberder deutschen Arbeiterklasse sich widerstandslos jeder weitern amtlichen Strapaze entheben ließen. Aber uns Volksgenossen ficht dergleichen nicht an; und wir denken auch insofern anders, als wir gleich darauf den Hitler wegen des  Arguments verhöhnen, daß er Hindenburg überleben werde. »Eine politische Konzeption von erstaunlicher Genialität«, spotten wir da. Denn wir meinen es doch metaphysisch. Und mag es offenbar sein, daß die Sozialdemokratie älter als Bismarck wurde, wir können sie auch anders  messen:

Sie war noch ungleich schwächer als heute, als Wilhelm Hohenzollern sie vernichten wollte —

und wie steht es heute? Bitte:

Wilhelm ist in Verbannung und die Deutsche Sozialdemokratie lebt und kämpft!

Ob man das ein Leben und gar ein Kämpfen nennen kann, mag dahingestellt bleiben; es möchte kein Hund so länger leben und kämpfen. Aber der ‚Vorwärts‘, der ja nicht immer lügt, meldet beharrlich, daß Wilhelm demnächst aus der Verbannung heimkehren werde. (Um Pate zu stehn, wenn der Sohn Reichspräsident wird.) Sei’s drum, ihr Herren — »was immer der heutige Tag bringe und was immer die nächsten Jahre bringen mögen« (Morgen- oder Übermorgenluft wittern wir also nicht): die Deutsche Sozialdemokratie wird »schließlich doch sieghaft die Fesseln brechen!« Wie wird das geschehen? Sehr einfach, durch Unwiderstehlichkeit:

Man löse ihre Organisationen auf — morgen muß doch die Fabriksirene die Arbeiter wieder versammeln.

Das nennt man Fesseln brechen! Da lachen die Rebhühner der ostpreußischen Barone, und diese sagen, es sei zum Schießen. Welch ein Anders-Gedanke! Welche Vorstellung von der Gottgewolltheit einer politischen Macht, die sogar noch mit dem Verzicht auf den Generalstreik imponiert! Als ob es Hindenburg oder Hitler verdrießen würde, daß die Arbeiter in die Fabrik gehen und daß man keine Streikbrecher brauchen wird. Als ob es nicht ihr Triumph wäre, daß nur noch solche Sirene und nicht mehr die parteiamtliche die Arbeiter versammelt. Das ist ja noch größer als der Stolz auf die Abbruchsparole von 1927!  Man erinnert sich vielleicht, wie exakt damals alles ging: Ein Ruck — schon war die Arbeit nieder gelegt; wieder ein Ruck — und schon war sie wieder aufgenommen! Wohlan! Wie klaglos der Apparat der Niederlagen funktioniert — ein Griff ein Gfrett —; und wie wir, beneidet von Bruderparteien, im Rückschritt vorangehen, das rechtfertigt schon ein erhöhtes Selbstbewußtsein, vollends wenn es unmöglich erscheint, noch mehr abzuwirtschaften. Und nichts ist dieser Genügsamkeit
unerschwinglich, die generalstäblerisch Pech in pures Gold verwandelt und aus dem unerschöpflichen Born der Selbstgerechtigkeit Beruhigung spendet; je größer die Verluste, umso klingender das Kleingeld, das ihr herauskommt; es fehlt nur noch, daß man bei erklärter Pleite »heißa« sagt. Wahrlich ein Seelenleben, das den Hang zum Anschluß beglaubigen könnte! Die Gewißheit, daß die Fabriksirene die Arbeiter wieder versammeln wird, nachdem man sie entrechtet hat, als Raumgewinn zu imaginieren: solche Verzückung taktischer Nüchternheit ist selten. Man denke, hier wird nicht etwa das Wellental als Gewähr des Wellenberges, sondern dieser selbst zum Greifen vorgestellt. Denn nun folgt Konkretes. Verheißung — heißa — des gelobten Landes, das, wenn erst die Arbeiter zu Paaren und in die Fabrik getrieben sind, endlich betreten sein wird. Nun reißt es den Seher der Entwicklung zu einer Vision hin, die wohl das Stärksteist, was entsagende Größe einer dennoch ungebeugten Parteimacht bisher über sich gebracht hat.
Wortwörtlich:

Man unterdrücke ihre Presse — im Fabriksaal raunt doch ein Arbeiter dem andern die Botschaft des Sozialismus zu.

Ja! Und sogar die Verachtung der Presse, die sie dann nicht mehr haben! Und ihrer pensionierten Anführer, denen es gelungen ist, den Sozialismus auf mündliche Überlieferung anzuweisen, nein auf Raunen, und die, wenn selbst dieses verboten wäre, allerletzten Endes stolz darauf sein werden, daß sie im Kampf gegen die Reaktion die Zollfreiheit der
Gedanken erobert haben! Denn, wortwörtlich:

Das Erbe eines halben Jahrhunderts sozialistischer Erziehung ist nicht auszurotten. Das gebildetste Volk Europas wird nicht ein Volk von Untertanen sein.

Daß es ein solches ist, daran hat leider das Maß der Bildung (falls es eben so sicher nachweisbar wäre) nicht das geringste ändern können. Aber weil selbst wir Andersdenkenden den Zustand hinnehmen müssen, dem wir mit deutschen Redensarten nicht abzuhelfen vermögen, so werden wir beherzt, indem wir zwar weichen, aber nicht wanken:

Ja, wir wollen dieses unser Österreich abriegeln gegen die braune Pest, die in Deutschland so verhängnisvoll die Köpfe verseucht.

(Des gebildetsten Volkes Europas!)

Ja, wir wollen alles daran setzen — —

(Nur zweimal.)

Aber deshalb bleiben wir trotzdem, was wir immer gewesen
sind — —:

nicht das, was man glaubt, sondern:

treu dem Gedanken der Schicksalsgemeinschaft der deutschen Arbeiterklasse drüben und hüben — —                                                                                                                                                                    für das sozialistische Großdeutschland der Zukunft! Darum schlagen unsere Herzen so stürmisch mit an diesem Kampftag — —

Mit einem Wort, die Großdeutschen müßten vor Neid vergehen, wenn sie nicht eben darum schon vergangen wären, weil sie ihr Lebtag nicht über so viel deutsche Gesinnung mit so schlechtem Deutsch zu verfügen hatten.

Was nun soll man zu Sozialisten sagen, die diese Sprache sprechen können? Zu den Auffrischern einer Ideologie und Phraseologie, deren Verlust wir als die kulturelle Entschädigung in all dem Unheil zu erlangen hofften, das eben dieser Geistestypus über uns verhängt hat! Zu den Vertretern einer Internationale, die jenen Anschluß ans Vaterland propagieren, dessen Verbot wir als die einzige Wohltat einem schonungslosen Siegerwillen danken! Drüben, wo eine Menschenart haust, die die Freiheit nur als das Recht erfaßt hat, einander aufzufressen, und deren Wesen eher die Welt anstecken wird, bevor sich ihr Wahn, daß diese an ihm genesen werde, erfüllt — drüben ist die Hölle ausgespien; hüben, wo das Dasein auf das Problem herabgesetzt ist, wie es zu fristen sei, betrügt man das Volk mit der Erwartung des nationalen Paradieses.Aber eine Hemmung wird doch bemerkbar: aus der schwelgerischen Vorstellung von einer Schicksalsgemeinschaft, die für alle Zukunft zum Gedeih auch den Verderb garantiert, wird mit taktischer Klugheit, ja sogar mit Takt, die des Weltkriegs ausgeschaltet. Denn  da hat Hüben denn doch etwas vor Drüben voraus: vor der Region, wo man noch heute mit Pathos dem Vorwurf begegnet, nicht treu pariert zu haben, als Wilhelm, der in Verbannung  ist, das Schwert zog; wo dem leisesten Verdacht defaitistischen Denkens von anno dazumal der Veteranenstolz antwortet; und wo noch heute die Gesinnung vorrätig ist, der 1914 für alle Zeiten der Stempel aufgedrückt ward: jener Max Stempel, mit dem Bekenntnis einer Parteilyrik, die den Begriff »Vorwärts« als Parole für Gott und Vaterland ausgab. Und weil sich  damals Bebel auf Säbel reimte, so ist es kein Wunder, daß heute Hindenburg den Severing nicht brauchen kann. Aber die Tragik der Zeitläufte ist es dafür, daß solche Gestalten wie dieser noch zu Märtyrern werden können, und daß man vor der Gefahr, die allem Bessern droht, den Angriff gegen sie so »relativ« halten muß, wie sie sich selbst zeitlebens hielten, die um des Verrats an der eigenen Sache vom Feind gefällt wurden. Doch in seinem Angesicht noch darf es nicht ungesagt bleiben, daß gemeinsame Feindschaft nicht gemeinsame Sache bedeutet; daß man, vor dem Übel neben dem Üblen stehend, nicht die Gesinnung teilt, die er nicht hat. Nie könnte Kampfnot Zorn und Hohn entwaffnen gegen die Erbärmlichkeit, die sie bewirkt  hat. Es bleibe Raum für den Abstand vom Genossen! Braucht er ihn nicht, um auf die Knie zu fallen? Verrät er uns nicht im Augenblick der Entscheidung? Jener Severing, in  privatisiertem Zustand, hat — wenn ich dem Hakenkreuzlerblatt glauben darf, das mit unserer Sozialdemokratie den Beiträger teilte — er hat als Wahlkandidat vor deutschen Rundfunkhörern Klage geführt, daß die Sozialdemokratie als Partei, als Gesamtheit, nicht die Rechtswohltat jedes einzelnen Staatsbürgers genieße — sonst hätte sie längst den Schutz der  Justiz gegen den schimpflichsten aller Vorwürfe, der noch heute gegen sie von politischen Gegnern erhoben werde, gesucht und gefunden: 1914 nicht mit Begeisterung ihre Pflicht fürs Vaterland erfüllt zu haben! Heißt das nicht Leben und Kämpfen, seit Wilhelm in Verbannung ist? Aber dieser Severing, an den wir uns anschließen möchten, hatte recht: noch nie  hat Verleumdung die Wahrheit schmählicher entstellt. Die Bruderpartei, mit der wir Schicksalsgemeinschaft pflegen, sie kann ihre vaterländische Ehre durch den Beweis der Gefühle rehabilitieren, die sie 1914 beseelt haben. Er ist gedruckt und lautet:

Und besonders unser Kaiser —
Ede, stier’ mich nicht so an,
Deshalb sag’ ich’s doch nicht leiser —
Ist ein echter deutscher Mann!

Hörte täglich August Bebel
Jetzt den Jubel in Berlin:
Mensch, er zöge gleich den Säbel,
Und so forsch, wie ich, für ihn.
—  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —

Quatscht mir nicht vom Zukunftsstaate!
Republike her und hin!
Schöner ist’s, daß ich Soldate,
Und ein kaiserlicher, bin.

Und genügt nicht drüben noch heute der Ruf nach Waffen, der einem einzigen Zivilisten einfiel: ein Volk zu begeistern und die Führer einer Arbeiterpartei in das Lager der  ostpreußischen Barone zu treiben? Sie könnten wieder Landstürmer sein — und man wagt es, ihren Veteranenstolz zu kränken? Der Appell an deutsche Herzen, der Hinweis auf das Kriegsverdienst, der Anspruch einer Bürgerehre, die es sich nicht schmälern läßt, war das, was die deutsche Sozialdemokratie in die Wagschale zu werfen hatte, war die ultima ratio der  stärksten Abwirtschaftspartei am Kampftag — und unsere Herzen schlugen stürmisch mit.

Aber es ist nicht wahr! Ihr Schlag gehorcht nicht der Parole des papiernen Hirns, und der Ramsch nationalliberaler Geistigkeit wird dort nicht zu brauchen sein, wo Bestialität und Technik über Leben und Tod entscheiden. Hüben würde man das eigene Verdienst gegen den  Weltkrieg entehren, wollte man stürmisch mitmachen, wie drüben heute der Schlachtruhm reklamiert wird. Hüben hat doch immer hin vor Drüben ein Stück der antibürgerlichen Ehre voraus, nach dem Kopfsturz in die Raserei der Welt die sozialistische Besinnung gewonnen zu haben und den Mut zum Abscheu, wie er in den Angriffen gegen die Helfer der  Schlachtbank, gegen Militärrichter und Generalstäbler, sich bekundet hat: in der Tat eines Verstorbenen, dessen Gedenken dem schlechten Gewissen der Nachlebenden in den Ohren gellt, des Mannes, dessen Ausgang — und hier ist Schicksalsgemeinschaft — ähnlich, jedoch tragischer war als der jenes Wilhelm Liebknecht. (Denn hüben wurde Wahrheitsliebe von  dem Augenblick an, wo sie in Konflikt zu kommen drohte mit der Liebe zur Partei, davor bewahrt: ent-mündigt im eigentlichen Sinn des Wortes, entmannt und von der Übermacht in  jenen heillosen Wirbel getrieben einer Haßliebe gegen den, der mit um die Wahrheit wußte, und den er als Richtmaß der Wahrhaftigkeit eingesetzt hatte. Hüben wurde Festigkeit zerbrochen, Gradheit dazu gebracht, Krummes zu dulden, das sich nun für Existenz und Fortbestehn auf Pietät beruft. Dann und wann von der Stimme des Toten geweckt, an Gedenktagen, gibt das Schuldgefühl so stark sie wieder, als wäre sein Wirken bis zum Ende selbstherrlich gewesen. Doch dann und wann gedenkt auch Frechheit eines Erpressers, der nicht mehr da ist, als wäre es immer erlaubt gewesen, die Wahrheit über ihn auszusprechen, und nicht eben das Verbot die Ursache jenes seelischen Zusammenbruchs. Wenn die Wahrheit über eine Partei, der sich einer geopfert hat und der er sich opfern ließ, auch keinem letzten Willen zu entnehmen ist, wie er so tragischem Erlebnis gemäß wäre, so weiß ich doch um den letzten Willen, dessen er fähig war, als er im Begriffe stand, sich gegen die Partei und für die Wahrheit zu entscheiden: bevor ihn der Zwang ergriff und der Mut verließ, den er gegen Generalstäbler zu bewähren pflegte.)

Die Haltung im Krieg gegen den Krieg — seither, und insbesondere seit jenem Hingang, hundertmal wettgemacht durch Feigheit vor dem innern Feind, durch eine Haltung im Frieden, deren jeder Atemzug Kriegslüge ist —; das damals weithin sichtbare Verdienst war das Zeichen, in dem ich, in den Tagen trügerischer Hoffnung, hunderte junger Herzen einer Partei zugeführt habe, der ich nicht angehörte, die ich im Verhängnis politischer Übel für das kleinere nahm und die heute nichts ist als die zur Not und durch Not erhaltene Organisation einer Alterserscheinung. Solches hat damals mein Wort vermocht. Sollte es heute nicht mehr vermögen, jene der Sache, zu der sie als der Sache von damals stehen wollen, abzuwenden; sollte der Glaube an mich schwächer sein als der Glaube, den er geweckt hat, so würde es mir nicht über mich zu denken geben. Denn meiner Ohnmacht, auch vor dem wenigen, das ich vermocht habe, bin ich mir bewußt; ihr stolzes Gefühl ist in mein Wirken einbezogen, dem keine Wirkung zugehört. Diejenige, auf die ich stets am schnellsten verzichtet habe, ist die Verehrung solcher, deren Zwiespalt in ihr sich offenbart. Dagegen darf ich sagen, daß die Aussicht, von der Sozialdemokratie nicht mehr verehrt zu werden, etwas ist, was meinen Lebensabend verschönert, während der ihre vergällt wird durch den Zwang, noch hin und wieder von meinem Dasein Notiz zu nehmen, und durch den Krampf des Bestrebens, sich von der Bürgerwelt, die mich totschweigt, in meinen Augen vorteilhaft zu unterscheiden. Da ich den Unterschied gleichwohl nicht bemerke und zufrieden bin, in der sozialdemokratischen Presse ungenannt fortzuleben, so wäre vollends alles in Ordnung, wenn ich ihr auch noch diese Sorge abnehmen könnte. Nichts freilich, was immer die Sozialdemokratie mit mir vor hat, könnte sie, solange mir die Greuel des gesellschaftlichen Daseins noch Anreiz gewähren, davor schützen, von mir beachtet zu werden! Nichts mich verhindern, gegen sie wie gegen eine lästige Regierung, die kein Mißlingen vom Ruder bringt, zu Haß und Verachtung aufzureizen— ob sie nun als Partei, als Gesamtheit, mit Sack und Pack, den Schutz der bürgerlichen Justiz gegen Kränkung anrufen könnte oder stumm leiden müßte, wie sie stumm gelitten hat vor jenem, der die Macht hatte, von ihren Übeln zu schweigen. Was aber die betrifft, über  die sie selbst Macht hat, diejenigen, denen ich zum Anschluß an sie verholfen habe, so gehöre ich keineswegs zu der Sorte, die, stolz auf eine Dummheit, sie zum zweiten Male machen würde, und halte für eine solche auch die Bejahung des Hoffens, gegen die Übel einer Partei, die aus nichts anderm mehr besteht als Übeln, innerhalb ihrer wirken zu können. Trage ich  Schuld noch an solcher Betörung Gläubiger, so bin ich ihrer ledig, wenn ich ihnen gesagt habe, daß der Glaube nur durch die Abkehr von einer Kirche zu retten ist, die die Priester  entweiht haben. Wie sich die Treue zu diesen fortan mit der zu mir verbinden könnte, wäre ein Problem, das mir so lange Unbehagen schafft, als nicht da oder dort die Lösung erfolgt.  Nie würde es mir in den Sinn kommen, den reinlichen Austritt aus meiner schwachen Organisation, die nichts zu bieten hat als etwas geistige Nahrung und keine soziale oder gar  nationale Hoffnung, mit dem Wunsch zu belohnen, die, die ihn vollziehen, möge der Teufel holen — einer von denen, deren die Welt nun voll ist und an deren Erschaffung der Sozialdemokratie das Hauptverdienst gebührt. Drüben und hüben!


Nr. 876—884 MITTE OKTOBER 1932 XXXIV. JAHR


Pro domo et mundo. Von Karl Kraus

03. Januar 2013 | Kategorie: Artikel

Journalisten schreiben, weil sie nichts zu sagen haben, und haben etwas zu sagen, weil sie schreiben.

Die Fackel Nr. 300   1910   S. 17 -32

Pro domo et mundo

Die meisten Schreiber sind so unbescheiden, dass sie immer von der Sache sprechen, wenn sie von sich sprechen sollten.

*

Ich habe es so oft erlebt, dass einer, der meine Meinung teilte, die größere Hälfte für sich behielt, dass ich jetzt gewitzt bin und den Leuten nur noch Gedanken anbiete.

*

Die Sprache Mutter des Gedankens? Dieser kein Verdienst des Denkenden? O doch, er muss jene schwängern.

*

Ein Werk der Sprache in eine andere Sprache übersetzt, heißt, dass einer ohne seine Haut über die Grenze kommt und drüben die Tracht des Landes anzieht.

*

Man kann einen Leitartikel, aber kein Gedicht übersetzen. Denn man kann zwar nackt über die Grenze kommen, aber nicht ohne Haut, weil die im Gegensatz zum Kleid nicht nachwächst.

*

Ein Edelmann deutscher Prosa erlässt ein Manifest demokratischen Denkens. In einem Almanach, den ein sozialpolitisches Komitee in Lausanne herausgibt, ist es erschienen, und Voltaire behält darin wieder einmal Recht gegen Goethe. Dieser ohne Menschlichkeit, sieht »aus der gespensterhaften Höhe, wo die deutschen Genien einander vielleicht verstehen, unbewegt auf sein unbewegtes Land hinab«.  Voltaires Stimme, noch in Zola lebendig, befeuert das Tempo der Freiheit und Wahrheit. Fanatiker singen auf dem Hügel von Valmy die Marseillaise, Goethe »wendet sich ab und verachtet«. Mit seinem Namen »decken faule Vergnüglinge ihr leeres Dasein«, es gibt keine Kultur ohne Menschlichkeit … Der Bekenner ist Heinrich Mann. Also hat Goethe selbst dem Börne die Hand geführt, als er sie gegen Goethe erhob. — Ich aber glaube, dass im Kunstwerk aufgespart ist, was die Unmittelbarkeit geistiger Energien vergeudet. Nicht die erste, sondern die letzte Wirkung der Kunst ist Menschlichkeit. Goethes Menschlichkeit ist eine Fernwirkung. Sterne gibt es, die nicht gesehen werden, solange sie sind. Ihr Licht hat einen weiten Weg, und längst erloschen leuchten sie der Erde. Sie sind den Nachtbummlern vertraut: was kann Goethe für die Ästheten? Es ist ihr Vorurteil, dass sie ohne sein Licht nicht nach Hause finden. Denn sie sind nirgend zu Hause und für sie ist die Kunst so wenig da, wie der Kampf für die Maulhelden. Auch der Ästhet ist zu feig zum Leben; aber der Künstler geht aus der Flucht vor dem Leben siegreich hervor. Der Ästhet ist ein Maulheld der Niederlagen; der Künstler steht ohne Anteil am Kampf. Er ist kein Mitgeher. Aber seine Sache ist es nicht, mit der Gegenwart zu gehen, da es doch Sache der Zukunft ist, mit ihm zu gehen. Und soll Heinrich Manns Prosa eine Marseillaise entfesseln, damit man Heinrich Manns Prosa nicht mehr hört?

*

Es ist aber immer noch besser, dass die Künstler für die gute Sache, als dass die Journalisten für die schöne Linie eintreten.

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Wenn den Ästheten die Gebärde freut, mit der einer aus der Staatskasse fünf Millionen stiehlt, und er es öffentlich ausspricht, dass die Belustigung, die der Skandal den »paar Genießern« bringt, mehr wert sei als die Schadenssumme, so muss ihm gesagt werden: Wenn die Gebärde dieser Belustigung ein Kunstwerk ist, so sind wir nobel und es kommt uns auf eine Million mehr oder weniger, die der Staat verliert, nicht an. Wenn aber ein Leitartikel daraus wird, so erwacht unser soziales Gefühl und wir bewilligen nicht fünf Groschen für das Gaudium. Wird nämlich aus dem Staatsbankerott ein Kunstwerk, so macht die Welt ein Geschäft dabei. Im andern Fall spüren wirs im Haushalt und verdammen die populäre Ästhetik, welche die Diebe entschuldigt, ohne die Bestohlenen zu entschädigen.

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Die Idee, die unmittelbar übernommen und zur populären Meinung reduziert wird, ist eine Gefahr. Erst wenn die Revolutionäre hinter Schloss und Riegel sitzen, hat die Reaktion Gelegenheit, an der Entstofflichung der Idee zu arbeiten.

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Journalisten schreiben, weil sie nichts zu sagen haben, und haben etwas zu sagen, weil sie schreiben.

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Es gibt ebenso Journalisten der Stimmung wie es Journalisten der Meinung gibt. Jene sind die Lyriker, die heute dem Publikum ins Ohr gehen. Sie möchten sich unserer Verachtung dadurch entziehen, dass sie schützend den Reim vorhalten. Aber da fassen wir sie erst. Denn sie wehren sich gegen den Verdacht, Diebe zu sein, durch den Beweis, dass sie Betrüger sind.

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Ein Original, dessen Nachahmer besser sind, ist keines.

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Ein Reichtum, der aus hundert Hintergründen fließt, erlaubt es der Presse, sich an hohen Feiertagen den Luxus der Literatur zu leisten. Wie fühlt sich diese, wenn sie als goldene Kette auf dem Annoncenbauch eines Protzen glänzen darf?

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Die Politik betrügt uns mit deutsch-österreichischen Sympathiewerten. Aber außer Trinksprüchen und Libretti gibt es nichts, was ein geistiges Einverständnis zwischen den Völkern bewiese. Diplomaten und Theateragenten sind um die Annäherung bemüht. Die draußen wissen denn auch von einem geheimnisvollen Reich, wo Itzig und Janosch den Ton angeben, und lieben uns für den Zuschuss von Husarenblut und Zigeunerliebe, den der Berliner Arbeitstag empfängt. Ein zwischen der Ringstraße und den Linden fluktuierendes Theaterjudentum bezeugt und vertritt unser Geistesleben vor Deutschland. Was sagt die Politik dazu, dass kein österreichisches Buch hinauskommt, wenn es nicht in Musik gesetzt ist? Die Wiener Provenienz ist so odios, dass man sie nur den Erzeugnissen des Schwachsinns und der Lumperei verzeiht. An diesen erkennt man wenigstens den Ursprung und gibt die Echtheit zu. Aber welch übermenschliche Anstrengung kostet es, einem Kolporteur österreichische Literatur als Geschenk aufzudrängen! Was sagt die Politik dazu, dass die ‚Fackel‘, die längst danach ringt, in Österreich nicht mehr notorisch zu sein, nach elf Jahren erst das zu werden beginnt, was sie ist: eine deutsche Tatsache?

*

Die Zwischenaktsmusik verlangt nicht, dass man schweige, sie verlangt nicht, dass man höre, aber sie erlaubt, nicht zu hören, was gesprochen wird. Dummköpfe wollen sie abschaffen. Und sie ahnen nicht, wie sehr gerade sie ihrer bedürfen. Denn die einzige Kunst, vor der die Masse ein Urteil hat, ist die Kunst des Theaters. Aber eben nur die Masse. Wehe, wenn die Urteilssplitter im Zwischenakt gesammelt würden: sie ergäben kein Ganzes. Ohne die Zwischenaktsmusik könnten sich die einzelnen Dummköpfe vernehmlich machen, deren Meinung sich während des Spiels zum maßgebenden Eindruck und nach dem Spiel zum Applaus zusammenschließt. Die Zersplitterung zu verhindern, ist die Zwischenaktsmusik da, die im rechten Moment mit Tusch in die Dummheit einfällt. Auf die Qualität dieser Musik kommt es nicht an, nur auf das Geräusch. Die Zwischenaktsmusik dient dazu, das Lampenfieber des Publikums zu vertreiben. Ihre Gegner wollen sich selbst preisgeben.

*

Wie ungemäß die Literatur dem Theater ist, zeigt die Inkongruenz von szenischem Apparat und der geistigen Geringfügigkeit seiner Anweisung:  — »im Hintergrund stürzt der Kampanile ein.« An den stärksten Leistungen der Bühne hat der Autor das kleinste Verdienst: ein Federzug von dieser Hand, und neu erschaffen wird die Erde! (Wäre der Satz keine Dialogstelle, sondern eine szenische Bemerkung im Don Carlos, so würde man seine Richtigkeit erst erkennen.) Nun sind solche Taten dem Theater selbst nicht organisch. Aber hat der Autor vielleicht an der schauspielerischen Leistung höheren Anteil? Hundert Seiten Psychologie und Witz können verpuffen, bis endlich unter Applaus geschieht, was jener mit   den Worten vorgeschrieben hat: »geht rechts ab und bricht an der Tür schluchzend zusammen«.

*

Wenn in einem Satz ein Druckfehler stehen geblieben ist und er gibt doch einen Sinn, so war der Satz kein Gedanke.

*

Das Wort hat einen Feind, und das ist der Druck. Dass ein Gedanke dem Leser der Gegenwart
nicht verständlich ist, ist dem Gedanken organisch. Wenn er aber auch dem ferneren Leser nicht verständlich ist, so trägt eine falsche Lesart die Schuld. Ich glaube unbedingt, dass die Schwierigkeiten der großen Schriftsteller Druckfehler sind, die wir nicht mehr zu finden vermögen. Weil man bisher im Bann der journalistischen Kunstauffassung gemeint hat, die Sprache diene dazu, irgend etwas »auszudrücken«, so musste man auch glauben, dass Druckfehler nebensächliche Störungen seien, welche die Information des Lesers nicht verhindern können. Den Stoff könnten sie nicht durchlöchern, die Tendenz nicht durchbrechen, der Leser erfahre, was der Autor gemeint hat, und dieser sei ein Pedant oder ein auf die äußere Form bedachter Ästhet, wenn er mehr verlange. Sie wissen nichts von dem, was der Autor erlebt, ehe er zum Schreiben kommt; sie verstehen nichts von dem, was er im Schreiben erlebt: wie sollten sie etwas von dem ahnen, was sich zwischen Geschriebenem und Gelesenem ereignet? Dies Gebiet romantischer Gefahren, wo alle Beute des Gedankens wieder vom Zufall oder dem lauernden Intellekt der Mittelsperson abgenommen wird, ist unerforscht. Der Journalismus, dem dort aus einer freiwilligen Plattheit wenigstens eine unfreiwillige Drolligkeit entstehen mag, für die er dankbar sein sollte, spricht mit  scherzendem Vorwurf von einem Druckfehlerteufel. Aber solche Seelen fängt er nicht. Sie leisten ihm ihren Tribut, es kommt ihnen nicht drauf an, denn ihr Reichtum ist unverlierbar. Arm ist der Gedanke. Er hat oft nur ein Wort, nur einen Buchstaben, nur einen Beistrich. Eine Tendenz lebt, auch wenn der Teufel ihr ganzes Gehäuse davontrüge. Wenn er aber an eine Perspektive nur anstreift, dann hat er sie auch geholt.

*

Das Zeichen der Künstlerschaft: Für sich aus dem Selbstverständlichen ein Problem machen und die Probleme der andern entscheiden; für andere wissen und sich selbst in die Hölle zweifeln; einen Diener fragen und einem Herrn antworten.

*

Vom Künstler und dem Gedanken gelte das Nestroy’sche Wort: Ich hab’ einen Gefangenen gemacht und er lässt mich nicht mehr los.

*

Es gibt eine Originalität aus Mangel, die nicht imstande ist, sich zur Banalität emporzuschwingen.

*

Wer nicht Temperament hat, muss Ornament haben. Ich kenne einen Schriftsteller, der es sich nicht zutraut, das Wort »Skandal« hinzuschreiben, und der deshalb »Skandalum« sagen Muss. Denn es gehört mehr Kraft dazu, als er hat, um im gegebenen Augenblick das Wort »Skandal« zu sagen.

*

Der längste Athem gehört zum Aphorismus.

*

Er meint nicht mich. Aber seine Unfähigkeit, sich so auszudrücken, dass er mich nicht gemeint hat, ist doch ein Angriff gegen mich.

*

Die Dorfbarbiere haben einen Apfel, den stecken sie allen Bauern ins Maul, wenns ans Balbieren geht. Die Zeitungen haben das Feuilleton.

*

Auch hängt noch über mancher Bauerntafel ein Klumpen Zucker, an dem sie gemeinsam lecken. Ich möchte lieber dort eingeladen sein, als ein Konzert besuchen.

*

Moderne Architektur ist das aus der richtigen Erkenntnis einer fehlenden Notwendigkeit erschaffene Überflüssige.

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Kultur kommt von Kolo, aber nicht auch von Moser.

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Die anderen sind Reißbrettkünstler. Loos ist der Architekt der tabula rasa.

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Kokoschka hat ein Porträt von mir gemacht. Schon möglich, dass mich die nicht erkennen werden, die mich kennen. Aber sicher werden mich die erkennen, die mich nicht kennen.

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Der rechte Porträtmaler benützt sein Modell nicht anders als der schlechte Porträtmaler die Photographie seines Modells. Eine kleine Hilfe braucht man.

*

Der Dummkopf, der an keinem Welträtsel vorübergehen kann, ohne entschuldigend zu bemerken, dass es seine unmaßgebliche Meinung sei, heimst das Lob der Bescheidenheit ein. Der Künstler, der seine Gedanken an einem Kanalgitter weidet, überhebt sich.

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Die Wissenschaft könnte sich nützlich machen. Der Schriftsteller braucht jedes ihrer Fächer, um daraus den Rohstoff seiner Bilder zu beziehen, und oft fehlt ihm ein Terminus, den er ahnt, aber nicht weiß. Nachschlagen ist umständlich, langweilig und lässt einen zu viel erfahren. Da müssten denn, wenn einer beim Schreiben ist, in den andern Zimmern der Wohnung solche Kerle sitzen, die auf ein Signal herbeieilen, wenn jener sie etwas fragen will. Man läutet einmal nach dem Historiker, zweimal nach dem Nationalökonomen, dreimal nach dem Hausknecht, der Medizin studiert hat, und etwa noch nach dem Talmudschüler, der auch das philosophische Rotwelsch beherrscht. Doch dürften sie alle nicht mehr sprechen als wonach sie gefragt werden, und hätten sich nach der Antwort sogleich wieder zu entfernen, weil ihre Nähe über die Leistung hinaus nicht anregt. Natürlich könnte man auf solche Hilfen überhaupt verzichten, und ein künstlerischer Vergleich behielte seinen Wert, auch wenn in seiner Bildung die Lücke der Bildung offen bliebe und einem Fachmann zu nachträglicher Rekrimination Anlass gäbe. Aber es wäre eine Möglichkeit, die Fachmänner des Verdrusses zu überheben und sie schon vorher einer ebenso nützlichen wie bravourösen Beschäftigung zuzuführen.

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Nach der Entdeckung des Nordpols und nachdem sich wieder einmal gezeigt hat, wie leichtfertig die Menschheit wissenschaftliche Verpflichtungen eingeht, hat sie es wohl verdient, wegen weltgerichtlich erhobenen Schwachsinns unter die Kuratel der Kirche gestellt zu werden.

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Und wenn die Erde erst ahnte, wie sich der Komet vor der Berührung mit ihr fürchtet!

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Die christliche Moral hat es am liebsten, dass die Trauer der Wollust vorangeht und diese ihr dann nicht folgt.

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Der Unterschied zwischen der alten und der neuen Seelenkunde ist der, dass die alte über jede Abweichung von der Norm sittlich entrüstet war und die neue der Minderwertigkeit zu einem Standesbewusstsein verholfen hat.

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Eine gewisse Psychoanalyse ist die Beschäftigung geiler Rationalisten, die alles in der Welt auf sexuelle Ursachen zurückführen mit Ausnahme ihrer Beschäftigung.

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Kinder psychoanalytischer Eltern welken früh. Als Säugling muss es zugeben, dass es beim Stuhlgang Wollustempfindungen habe. Später wird es gefragt, was ihm dazu einfällt, wenn es auf dem Weg zur Schule der Defäkation eines Pferdes beigewohnt hat. Man kann von Glück sagen, wenn so eins noch das Alter erreicht, wo der Jüngling einen Traum beichten kann, in dem er seine Mutter geschändet hat.

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Sie haben die Presse, sie haben die Börse, jetzt haben sie auch das Unterbewusstsein!

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Medizinischer Sinnspruch: Was den Vätern alte Hosen, sind den Söhnen die Neurosen.

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Die neue Seelenkunde hat es gewagt, in das Mysterium des Genies zu spucken. Wenn es bei Kleist und Lenau nicht sein Bewenden haben sollte, so werde ich Torwache halten und die medizinischen Hausierer, die neuestens überall ihr »Nichts zu behandeln?« vernehmen lassen, in die Niederungen weisen. Ihre Lehre möchte die Persönlichkeit verengen, nachdem sie die Grenzen der Unverantwortlichkeit erweitert hat. Solange das Geschäft private Praxis bleibt, mögen sich die Betroffenen wehren. Aber Kleist und Lenau werden wir aus der Ordination zurückziehen!

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Das wissen weder Mediziner noch Juristen: Dass es in der Erotik weder ein erweislich Wahres gibt, noch einen objektiven Befund. Dass uns kein Gutachten von dem Wert des Gegenstands überzeugen und keine Diagnose uns enttäuschen kann. Dass man gegen alle tatsächlichen Voraussetzungen liebt und gegen den eigentlichen Sachverhalt sich selbstbefriedigt. Kurzum, dass es die höchste Zeit ist, aus einer Welt, die den Denkern und den Dichtern gehört, die Juristen und Mediziner hinauszujagen.

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In der erotischen Sprache gibts auch Metaphern. Der Analphabet nennt sie Perversitäten. Er verabscheut den Dichter.

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Der Voyeur besteht die Kraftprobe des natürlichen Empfindens: er setzt die Lust, das Weib mit dem Mann zu sehen, gegen den Ekel durch, den Mann mit dem Weib zu sehen.

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Wer wird denn einen Irrtum verstoßen, den man zur Welt gebracht hat, und ihn durch eine adoptierte Wahrheit ersetzen?

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Um einen Irrtum gutzumachen, genügt es nicht, ihn mit einer Wahrheit zu vertauschen. Sonst lügt man.

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Wenn sich ein Schneider in den Wind begibt, muss er das Bügeleisen in die Tasche stecken. Wer nicht Persönlichkeit hat, muss Gewicht haben. Es ist aber von geringem Vorteil, dass sich der Schneider den Bauch wattiert und der Journalist sich mit fremden Ideen ausstopft. Zu jenem gehört ein Bügeleisen, und dieser muss sich des Philisteriums nicht schämen, das ihn allein noch auf zwei Beinen erhält. Sie glauben aber, dem Wind zu begegnen, indem sie Wind machen.

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Wann wird diese arg verkannte Stadt das Lob endlich verdienen, das sie erntet? Sie hat sich nie zu einem flotten Müßiggang aufgerafft. Sie müsste mit der Unsitte brechen, dass ihre Leute den ganzen lieben Tag spazieren stehen.

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Gegen das Buch gegen Berlin: Ein Kulturmensch wird lieber in einer Stadt leben, in der keine Individualitäten sind, als in einer Stadt, in der jeder Trottel eine Individualität ist.

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Es gibt ein Zeitgefühl, das sich nicht betrügen lässt. Man kann auf Robinsons Insel gemütlicher leben als in Berlin; aber nur, solange es Berlin nicht gibt. 1910 wirds auf Robinsons Insel ungemütlich. Automobildroschke, Warmwasserleitung und ein Automat für eingeschriebene Briefe beginnen zu fehlen, auch wenn man bis dahin keine Ahnung hatte, dass sie erfunden sind. Es ist der Zeit eigentümlich, dass sie die Bedürfnisse schafft, die irgendwo in der Welt schon befriedigt sind. Um das Jahr 1830 wars ja schöner, und darum sind wir Feinschmecker dabei geblieben. Aber indem wir uns bei der Schönheit beruhigen, macht uns das Vacuum von achtzig Jahren unruhig.

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Ein Knockabout warf einen Zahnstocher hinter die Kulisse. Da gab es einen Krach. Dann warf er eine Stecknadel hinter die Kulisse. Da gab es einen Krach. Dann warf er ein Stückchen Papier hinter die Kulisse. Da gab es wieder einen Krach. Da nahm er eine Flaumfeder, hob die Hand auf und — da gab es abermals einen Krach. Aber er hatte noch gar nicht geworfen. Da machte er Ätsch! und freute sich, wie er die Kausalität gefoppt hatte. Das Wesen dieses Humors ist, dass das Echo menschlicher Dinge stärker ist als ihr Ruf, und dass man dem Echo seine Vorlautheit am besten beweist, wenn man ihm mit keinem Ruf antwortet.

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Es gibt Menschen, die ganz genau so aussehen, wie unser aller Gymnasialkollege aus der letzten Bank.

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Einer, der mir Erinnerungen zu erzählen anfieng, hatte dabei eine Stimme, die knarrte wie das Tor der Vergangenheit.

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Wie ungeschickt das böse Gewissen ist! Wenn nicht mancher den Hut vor mir zöge, wüsste ich nicht, dass er Butter auf dem Kopf hat.

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Welche Plage, dieses Leben in Gesellschaft! Oft ist einer so entgegenkommend, mir ein Feuer anzubieten, und ich muss, um ihm entgegenzukommen, mir eine Zigarette aus der Tasche holen.

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Fürs Kind. Man spielt auch Mann und Weib fürs Kind. Das ist noch immer der wohltätige Zweck, zu dessen Gunsten die Unterhaltung stattfindet und vor dem selbst die Zensur ein Auge zudrückt.

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Wenn Lieben nur zum Zeugen dient, dient Lernen nur zum Lehren. Das ist die zweifache teleologische Rechtfertigung für das Dasein der Professoren.

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Wenn die Moral nicht anstieße, würde sie nicht verletzt werden.

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Die Gesetzlichkeit spricht sowohl die Verantwortlichen schuldig als die, die nichts dafür können.

Die Humanität spricht die Verantwortlichen schuldig und die Unverantwortlichen frei.

Die Anarchie spricht beide frei.

Die Kultur spricht die Unverantwortlichen schuldig und die frei, die etwas dafür können.

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Vor Erschaffung der Welt wird das letzte Menschenpaar aus dem Spitalsgarten vertrieben werden.

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Wer die Gesichte und Geräusche des Tages sich nicht nahe kommen lässt, dem lauern sie auf, wenn er zu Bette geht. Es ist die Rache der Banalität, die sich in meinen Halbschlaf drängt und weil ich mich mit ihr nicht einlassen wollte, mir die Rechnung zur Unzeit präsentiert. Schon hockt sie auf den Stufen des Traumes, dreht mir eine Shylocknase und raunt mir eine Redensart, von so irdischer Leere, dass in ihr der Schall einer ganzen Stadt enthalten scheint. Wer mischt sich da in mein Innerstes? Wen traf ich mit diesem Gesicht, wen, der solche Stimme hatte? Sie sägt den Himmel entzwei, ich falle durch die Ritze und wie ich so unten daliege, finde ich das Wort: »Jetzt bin ich aus dem Himmel gefallen«, ganz so als ob es keine der Redensarten wäre, die längst zum irdischen Schall verloren sind.

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Zwei Läufer laufen zeitentlang,
der eine dreist, der andre bang:
Der von Nirgendher sein Ziel erwirbt;
der vom Ursprung kommt und am Wege stirbt.
Der von Nirgendher das Ziel erwarb,
macht Platz dem, der am Wege starb.
Und dieser, den es ewig bangt,
ist stets am Ursprung angelangt.

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Weh der Zeit, in welcher Kunst die Erde nicht unsicher macht und vor dem Abgrund, der den
Künstler vom Menschen trennt, dem Künstler schwindlig wird und nicht dem Menschen!

 


Geselligkeit. Von Karl Kraus

05. Dezember 2012 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Tagebuch, Verdichtetes

Die Fackel Nr. 279 – 280  13. Mai 1909   XI. Jahr aus Tagebuch

Geselligkeit. Was mich zum Fluch der Gesellschaft macht, an deren Rain ich lebe, ist die Plötzlichkeit, mit der sich Renommeen, Charaktere, Gehirne vor mir enthüllen, ohne dass ich sie entlarven müsse. Jahrelang trägt einer an seiner Bedeutung, bis ich ihn in einem unvorhergesehenen Augenblick entlaste. Ich lasse mich täuschen, solange ich will. Menschen zu »durchschauen« ist nicht meine Sache, und ich stelle mich gar nicht darauf ein. Aber eines Tages greift sich ein Schwachkopf an die Stirn, weiß, wer er ist, und hasst mich. Die Schwäche flieht vor mir und sagt, ich sei unbeständig. Ich lasse die Gemütlichkeit gewähren, weil sie mir nicht schaden kann; einmal, wenn’s um ein ja oder nein geht, wird sie von selbst kaputt.  Ich brauche nur irgendwann Recht zu haben, etwas zu tun, was nach Charakter riecht, oder mich sonst wie verdächtig zu machen, und automatisch offenbart sich die Gesinnung. Wenn es wahr ist, dass schlechte Beispiele gute Sitten verderben, so gilt das in noch viel höherem Maße von den guten Beispielen. Jeder, der die Kraft hat, Beispiel zu sein, bringt seine Umgebung aus der Form, und die guten Sitten, die den Lebensinhalt der schlechten Gesellschaft bilden, sind immer in Gefahr, verdorben zu werden. Die Ledernheit lässt sich mein Temperament gefallen, solange es in akademischen Grenzen bleibt; bewähre ich es aber an einer Tat, so wird sie scheu und geht mir durch. Ich halte es viel länger mit der Langweile aus, als sie mit mir. Man sagt, ich sei unduldsam. Das Gegenteil ist der Fall. Ich kann mit den ödesten Leuten verkehren, ohne dass ich es spüre. Ich bin so sehr in jedem Augenblick mit mir selbst beschäftigt, dass mir kein Gespräch etwas anhaben kann. Die Geselligkeit ist für die meisten ein Vollbad, in dem sie mit dem Kopf untertauchen; mir benetzt sie kaum den Fuß. Keine Anekdote, keine Reiseerinnerung, keine Gabe aus dem Schatzkästlein des Wissens, kurz, was die Leute so als den Inbegriff der Unterhaltung verstehen, vermöchte mich in meiner inneren Tätigkeit aufzuhalten. Schöpferische Kraft hat der Impotenz noch allezeit mehr Unbehagen bereitet, als diese ihr. Daraus erklärt sich, dass meine Gesellschaft so vielen Leuten unerträglich wird, und dass sie nur aus einer übel angebrachten Höflichkeit an meiner Seite ausharren. Es wäre mir ein leichtes, solchen, die immerfort angeregt werden müssen, um sich zu unterhalten, entgegenzukommen. So ungebildet ich bin und so wahr ich von Astronomie, Kontrapunkt und Buddhismus weniger verstehe als ein neugeborenes Kind, so wäre ich doch wohl imstande, durch geschickt eingeworfene Fragen ein Interesse zu heucheln und eine oberflächliche Kennerschaft zu bewähren, die den Polyhistor mehr freut als ein Fachwissen, das ihn beschämen könnte. Aber ich, der in seinem ganzen Leben Bedürfnissen, die er nicht als geistfördernd erkennt, noch keinen Schritt entgegen getan hat, erweise mich in solchen Situationen als vollendeten Flegel. Und nicht etwa als Flegel, der gähnt — das wäre menschlich —, nein, als Flegel, der denkt! Dabei verschmähe ich es, von meinen eigenen Gaben dem Darbenden mitzuteilen, der vor seinen Lesefrüchten Tantalusqualen leidet und in den ägyptischen Kornkammern des Wissens verhungern muss. Hartherzig bis zur Versteinerung, mache ich sogar schlechtere Witze als mir einfallen, und verrate nichts von dem, was ich mir so zwischen zwei Kaffeeschlucken in mein Notizbuch schreibe. Einmal, in einem unbewachten Moment, wenn mir gerade nichts einfallen wird und Gefahr besteht, dass die Geselligkeit in mein Gehirn dringt, werde ich mich erschießen.


Menschenwürde. Von Karl Kraus

01. Dezember 2012 | Kategorie: Artikel, Künstler, Menschenwürde

Die Fackel

Heft 250 – 251    1908  S. 30 -33

Die Stellung des Künstlers zur Menschheit ist noch immer nicht geklärt. Entweder ist ihre Würde in seine Hand gegeben oder es fasst ihn ihr  ganzer Jammer an. Fühlt er aber die Identität dieser beiden Möglichkeiten, so macht er sich unmöglich. Ich habe mich viel und eingehend mit  der Menschenwürde beschäftigt, habe in meinem Laboratorium die verschiedensten Untersuchungen darüber angestellt und muss bekennen, dass die Versuche in den meisten Fällen schon wegen der Schwierigkeit der Beschaffung des Materials kläglich verlaufen sind. Die Menschenwürde hat die Eigentümlichkeit, immer dort zu fehlen, wo man sie vermutet, und immer dort zu scheinen, wo sie nicht ist. Der Fähigkeit gewisser Tiere, die Gestalt lebloser Körper oder Pflanzen anzunehmen, welche man Mimikry nennt und die die Natur erfunden hat, damit sie ihre Verfolger zum Narren halten können, entspricht beim Menschen die sogenannte Würde. Er zieht ein Kleid an und stellt sich in Positur. Der Hauptmann von Köpenick aber war es, der dieser unterhaltlichen Schutzvorrichtung selbst wieder einen Possen gespielt und die menschliche Mimikry entlarvt hat; als er mit Würde daherkam, ergab sich die Würde, als er mit Trommeln und Pfeifen einzog, ging die Autorität flöten, und darum ist es begreiflich, dass er jetzt in einem Zuchthaus an der Schwindsucht sterben muss. Man sagt, er habe sich bloß den Scherz einer Verkleidung erlaubt; aber in Wahrheit hat er mehr getan, er hat die Verkleidung eines Ernstes enthüllt. Wenn ein Shakespearescher König wahnsinnig wird, so benützt er die Gelegenheit, um Weisheiten auszusprechen, die man ihm sonst übelnähme; man würde ihn für verrückt halten. Auch der Narr ihm zur Seite genießt die Vorteile seiner Stellung: nähme man ihn ernst, man ließe sich von ihm auch nicht die kleinste Wahrheit gefallen. Er darf seinen König einen Narren nennen, der König darf die Behauptung wagen, dass man »dem Hund im Amt gehorcht«, und der Schuster in der Uniform kann beweisen, dass der Hund im Amt dem Schuster in der Uniform gehorcht. Einem Mann, der lange Zeit im Kostüm eines persischen Generals die höchsten Kreise einer Residenzstadt zu seinem eigenen Besten gehalten  hatte, kam man endlich darauf, dass er eigentlich gar kein persischer General oder, wenn er einer sei, dass er noch avancieren müsste, um den Rang eines europäischen Korporals zu erreichen. Jener wahnsinnige König hat sofort die Wahrheit erkannt; denn er sagte: »Euch, Herr, halte ich als einen meiner Hundert; nur gefällt mir der Schnitt eures Habits nicht. Ihr werdet sagen, es sei persische Tracht; aber lasst ihn ändern.« Wenn er ihn nun ändern lässt und sich etwa zur Uniform des Schweizer Admirals aus »Pariser Leben« entschließen sollte, wird er darum nicht weniger beliebt sein. Die Menschenwürde, mag sie selbst als Takowa-Orden verliehen oder als päpstliche Jubiläumsmedaille um den Hals gehängt werden, sie gewährt in allen Formen Schutz vor Verfolgung und bringt den Respekt jener ein, die noch nicht auf die Idee verfallen sind, sie sich zu verschaffen. Die Würde, die das wahre Verdienst einst um den Vermittlungspreis bekam, ist jetzt unter dem Herstellungspreis zu haben. Vorbei die Zeiten, da ein Gregers Werle mit der idealen Forderung umherging, die Medaillen, die die Bahnhofportiers auf der Brust tragen, müssten revidiert werden. Heute schafft der Besitz die Berechtigung. Früher hatten die Hochstapler von der Dummheit gelebt; jetzt bereichert sich die Dummheit auf Kosten der Hochstapler und beutet sie in der rücksichtslosesten Weise aus. Denn die Menschenwürde verleitet zur Erzeugung falscher Ehrenzeichen und wenn der Schwindler eine Zumutung zurückweist, dem Dummen gelingt es stets noch, ihn zu überlisten. Vor allem aber wollen die Leute einen Titel hören, unter dem sie sich nichts vorstellen können. Man kann dem hochmütigsten Beamten den Fuß auf den Nacken setzen, wenn man ihm sagt: »Ich bitte mir diesen Ton aus, Sie scheinen nicht zu wissen, dass ich Exhibitionist bin!« Die Menschenwürde hat die Eigenschaft, sich selbst so zu imponieren, dass sie sofort nachgibt, wenn sie aufbegehrt. Ich kenne eine Stadt, in der sie an jeder Straßenecke solche Siege feiert. Auch dort hat jetzt Gottseidank ein Kutscher die gleichen politischen Rechte wie ein Baron, aber wenn er ihn zum Wahllokal befördert hat, so sagt er zu ihm: »Küss die Hand, Euer Gnaden!« Als der Staatswagen dahintorkelte, Riss das Volk die Tür auf. Aber es stellte sich heraus, dass es nur Wagentürl-Aufmacher waren. Man fragte sie, was sie wollten, und sie sagten: »Euer Gnaden, wissen eh!« Sie wollten ein Trinkgeld, man gab ihnen die Menschenwürde, und sie brummten: »So a notiger Herr! …« Ich habe eine wahre Hochachtung vor dem Menschenrechte der Freiheit, so sehr, dass ich der Freiheit das volle Recht auf die Menschen zuerkenne, die sie verdient. Ich habe eine unbegrenzte Ehrfurcht vor den politischen Rechten; wenn aber der Absolutismus des Trinkgelds nicht abgeschafft ist, so glaubt das Volk, ein Achtundvierziger sei die Rufnummer eines Fiakers, und ein Unnummerierter ist doch mehr. Ich kenne einen Hoflieferanten, der sich ins Privatleben zurückgezogen hat, nicht ohne dass ihm der Verkehr mit den hohen Herrschaften, die er bedient hatte, zu Kopf gestiegen wäre. Er benimmt sich noch heute in jeder Lebenslage so, als ob er eine Lieferung für die Königin von Hannover zu effektuieren hätte. Die geheimsten Wünsche und Beschwerden des Bürgerherzens kommen ans Tageslicht, und als er einmal in einem öffentlichen Lokal eines leibhaftigen Aristokraten ansichtig wurde, verbeugte er sich und rief: »Zu Füßen des Herrn Grafen, zu Füßen!« Es war mir wie die Vision eines unblutig niedergeworfenen Aufstandes. Ein radikales Gemüt kann wieder auf Lebenszeit von einer Leitartikelphrase verwirrt werden. Ich glaube, dass die Politik immer entweder daran krankt, dass die Ideen aus kleinen Köpfen in kleinere Herzen oder aus kleinen Herzen in kleinere Köpfe übergehen. Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei, dann bekommt er die Masern, dann die Würde, und mit der weiß er schon gar nichts anzufangen. Ausgenommen, wenn er Kartellträger wird. Das ist nämlich die einzige Situation, in der der Philister herumgeht, als ob er der Mandatar der Vorsehung wäre. Weh dem, der ihn in dieser Würde nicht ernst nimmt, er erhebt sich mit einem »Pardon, dann hab ich hier nichts mehr zu suchen!«, und das Protokoll, die Reinschrift der Würde, ist fertig. Wenn nicht hin und wieder ein Kommis fixiert würde, wir wüssten nichts von den ehernen Gesetzen, die uns an das Schicksal binden. »Würde« ist die konditionale Form von dem, was einer ist. Wenn aber Würde nicht wäre, gäbs keine Würdelosigkeit. Sie provoziert die Gaffer, und wo Gaffer sind, stockt der Verkehr. Die Überwindung der Menschenwürde ist die Voraussetzung des Fortschritts. Ich habe sie in allen Situationen gesehen. Sie glaubte sich unbeobachtet, und ich sah, wie ein Kellner vor einem Trinkgeld, das ein Gast auf dem Tisch zurückgelassen hatte, sich verbeugte und »Ich danke vielmals« sagte. Ein anderes Mal bemerkte ich, wie er sich bückte, um eines Kreuzers, der in einen Spucknapf gefallen war, habhaft zu werden. In einem doppelten Symbol fasste mich der Menschheit ganzer Jammer an. Wo ist die Menschenwürde? fragte ich. Jener verstand schlecht, glaubte, ich verlange eine abgegriffene illustrierte Zeitung, und sagte: Bedaure, sie ist in der Hand!