29. März 2012 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Tagebuch
DIE FACKEL
Nr. 254—255. 22. Mai 1908. X. Jahr. S. 33 -35
Tagebuch
Auch ein anständiger Mensch kann, vorausgesetzt, dass es nie herauskommt, sich heutzutage einen geachteten Namen schaffen.
In Lourdes kann man geheilt werden. Welcher Zauber sollte aber von einem Nervenspezialisten ausgehen?
Ich habe um mancher guten Entschuldigung willen gesündigt und darum wird mir vergeben werden.
Selbstbespiegelung ist erlaubt, wenn das Selbst schön ist. Aber sie erwächst zur Pflicht, wenn der Spiegel gut ist.
Der persönliche Umgang mit Dichtern ist nicht immer erwünscht. Vor allem mag ich die Somnambulen nicht, die immer auf die richtige Seite fallen.
Ihm gebührt das Verdienst, in die Anarchie des Traums eine Verfassung eingeführt zu haben. Aber es geht darin zu, wie in Österreich.
»Zu neuen Taten, tapferer Helde, wie liebt’ ich dich, ließ’ ich dich nicht!« So spricht das Weib Wagners. Dem Helden müsste bei solcher Bereitschaft die Lust an den Taten und die Lust am Weibe vergehen. Denn die Lust an den Taten entstammt der Lust am Weibe. Nicht zu den Taten lasse sie ihn, sondern zur Liebe: dann kommt er zu den Taten. Solcher Psychologie aber entspräche auch das Wort Wagners, wenn nur die Interpunktion verändert wäre. Die Alliteration mag bleiben. Man lese also: »Zu neuen Taten, tapferer Helde! Wie liebt’ ich dich, ließ’ ich dich nicht …«
Omne animal triste. Das ist die christliche Moral. Aber auch sie nur post, nicht propter hoc.
*
Die wahre Beziehung der Geschlechter ist es, wenn der Mann bekennt: Ich habe keinen andern Gedanken als dich und darum immer neue!
Zur Vollkommenheit fehlt ihr nur ein Mangel.
Die Sündenmoral ist darauf aus, die Ursachen, auf die das Kinderkriegen zurückzuführen ist, zu beseitigen. Sie sagt, die Abtreibung der Lust sei ungefährlich, wenn sie unter allen Kautelen der theologischen Wissenschaft durchgeführt wird.
Was leicht ins Ohr geht, geht leicht hinaus. Was schwer ins Ohr geht, geht schwer hinaus. Das gilt vom Schreiben noch mehr als vom Musikmachen.
Wer nichts der Sprache vergibt, vergibt auch nichts der Sache.
Die alten Bücher sind selten, die zwischen Unverständlichem und Selbstverständlichem einen lebendigen Inhalt bewahrt haben.
Auch die sprachliche Trivialität kann ein Element des künstlerischen Ausdrucks sein, nämlich des Witzes. Der Schriftsteller, der sich ihrer bedient, ist echter Feierlichkeit fähig. Das Pathos an und für sich ist ebenso wertlos wie die Trivialität als solche.
Werdegang des Schreibenden: Im Anfang ist mans ungewohnt und es geht deshalb wie geschmiert. Aber dann wirds schwerer und immer schwerer, und wenn man erst in die Übung kommt, dann wird man mit manch einem Satz nicht fertig.
Die bange Frage steigt auf, ob der Journalismus, dem man getrost die besten Werke zur Beute hinwirft, nicht auch kommenden Zeiten schon den Geschmack an der sprachlichen Kunst verdorben hat.
Eine exklusive Kunst ist ein Unding. Es heißt die Kunst dem Pöbel ausliefern. Denn wenn der ganze Pöbel Zutritt hat, ist es immer noch besser, als wenn nur ein Teil Zutritt hat. Ein jeder will dann exklusiv sein, und die Kunst beginnt von der Nebenwirkung des Exklusiven zu leben. Es besteht der Verdacht, dass die ganze moderne Kunst von Nebenwirkungen lebt. Die Musik von Nebengeräuschen, die Schauspielerei von Mängeln.
Da das Halten wilder Tiere gesetzlich verboten ist, und die Haustiere mir kein Vergnügen machen, so bleibe ich lieber unverheiratet.
Die Gesellschaft braucht Frauen, die einen schlechten Charakter haben. Solche, die gar keinen haben, sind ein bedenkliches Element.
Das höchste Vertrauensamt: Ein Beichtvater unterlassener Sünden.
Ein Leierkasten im Hof stört den Musiker und freut den Dichter.
Viele haben den Wunsch, mich zu erschlagen. Viele den Wunsch, mit mir ein Plauderstündchen zu verbringen. Gegen jene schützt mich das Gesetz.
Man könnte größenwahnsinnig werden: so wenig wird man anerkannt!
K a r l K r a u s .
12. März 2012 | Kategorie: Anthologie der Menschheit, Artikel, Marc Aurel
Das erste Buch enthält im Wesentlichen autobiographische Einzelheiten und bleibt deshalb zunächst unberücksichtigt.
Marc Aurel
Zweites Buch
1.Morgens früh sagst Du Dir: Ich werde einen aufdringlichen, undankbaren, frechen, falschen, missgünstigen, unfreundlichen Menschen treffen. All diese Eigenschaft haben sie ja nur, weil sie sich im Unklaren darüber sind, was gut und was böse ist. Ich aber, der das Wesen des Guten erkannt hat, dass es schön ist und des Bösen, dass es hässlich ist, wie auch die Natur des gegen mich Zuwiderhandelnden. Das heißt zwar, dass er mit mir verwandt ist- hat er auch nicht an demselben Blut oder der Keimzelle mit mir teil, so doch an demselben Geist und der gleichen göttlichen Abkunft-, aber ich kann von ihm keine Schaden erleiden. Denn in Schande kann mich keiner stürzen. Ich kann auch meinem Verwandten nicht zürnen oder ihm ein feindlich gesinnt sein. Denn wir sind zur Zusammenarbeit bestimmt, wie die Füße, die Hände, die Augenlider, die Reihen der oberen und unteren Zähne. Einander entgegenzuarbeiten ist daher wider die Natur. Wir arbeiten uns aber entgegen, wenn wir einander zürnen oder uns meiden.
2. Was ich auch sein mag, dieses Gebilde hier: es ist ein wenig Fleisch, ein wenig Atem und die herrschende Vernunft. Weg mit den Büchern! Lass Dich durch sie nicht länger ablenken! Das darfst Du nicht! Sondern verachte das elende Fleisch, als wenn Du schon sterben müsstest. Es ist nur Unrat des Darms und Knochen und ein Gewebe aus Sehnen, Venen und Arterien. Bedenke auch, was für ein Ding Dein Atem ist. Ein Lufthauch nur, aber nicht immer derselbe, sondern jeden Augenblick wird er ausgestoßen und wieder eingezogen. Das Dritte in Dir ist also die herrschende Vernunft. Das bedenke nun, Du bist ein alter Mann. Lass sie also nicht länger Sklavin sein, sich nicht länger durch selbstsüchtige Triebe hin und her gezerrt werden lassen, sich nicht länger aufzuregen über das Dir vom Schicksal Auferlegte oder über Deine jetzige Lage oder über das Kommende jammern.
3. Das Walten der Götter lässt überall die Vorsehung erkennen. Das des Zufalls erfolgt nicht ohne die Allnatur oder ohne die Verkettung der Verflechtung mit dem Walten der Vorsehung. Alles hat von dort seinen Ursprung. Es wirkt aber auch die Notwendigkeit mit und das Wohl des ganzen Kosmos, von dem Du ein Teil bist. Für jedes Teil der Natur aber ist gut, was die Natur mit sich bringt und was zu ihrer Erhaltung dient. Den Kosmos aber erhalten die Wandlungen der Elemente wie auch die der zusammengesetzten Körper.- Diese Einsichten müssen Dir genügen und stets Grundsätze sein. Den Durst nach Büchern aber wirf ab, damit Du nicht irgendwann murrend stirbst, sondern guten Mutes und von Herzen dankbar gegen die Götter.
4. Erinnere Dich, seit wann Du das nun schon aufschiebst, und wie oft Dir die Götter Zeit und Stunde dazu gegeben haben, ohne dass Du sie genutzt hast. Du musst doch endlich einmal einsehen, was das für eine Kosmos ist, dem Du angehörst, und wie der die Welt regiert, dessen Ausfluss Du bist und dass Dir eine Zeit zugemessen ist, die vergangen sein wird wie Du selbst, wenn Du sie nicht dazu verwendest Dich abzuklären, und die nicht wiederkommt.
5. Immer sei darauf bedacht, bei allem was es zu tun gibt, eine entschiedene und ungekünstelte Gewissenhaftigkeit, Liebe, Freimut und Gerechtigkeit zu üben, wie es einem Manne geziemt, und dabei alle Nebengedanken von Dir fern zu halten. Und Du wirst sie Dir fern halten, sobald Du jede Deiner Handlungen als die Letzte im Leben ansiehst, fern von jeder Unbesonnenheit und der Erregtheit, die Dich taub macht gegen die Stimme der richtenden Vernunft, frei von Verstellung, von Selbstliebe und von Unwillen über das, was das Schicksal daran anhängt. Du siehst, wie wenig es ist, was man sich aneignen muss, um ein glückliches und gottgefälliges Leben zu führen. Denn auch die Götter verlangen von dem, der dies beobachtet, nicht mehr.
6. Fahre nur immer fort, Dir selbst zu schaden, liebe Seele! Dich zu fördern wirst Du kaum noch Zeit haben. Denn das Leben flieht einen jeglichen. Für Dich ist es aber schon so gut als zu Ende, der Du ohne Selbstachtung Dein Glück außer Dir verlegst in die Seelen anderer.
7. Trotz Deines Bestrebens, an Erkenntnis zu wachsen und Dein unstetes Wesen aufzugeben, zerstreuen Dich die Außendinge noch immer? Mag sein, wenn Du jenes Streben nur so festhältst. Denn das bleibt die größte Torheit, sich müde zu arbeiten ohne ein Ziel, auf das man all sein Denken und Trachten ausrichtet.
8. Wenn man nicht herausbekommen kann, was in des Andern Seele vorgeht, so ist das schwerlich ein Unglück; aber notwendig unglücklich ist man, wenn man über die Regungen der eigenen Seele im Unklaren ist.
9. Daran musst Du immer denken, was das Wesen der Welt und was das Deinige ist, und wie sich beides zu einander verhält, nämlich was für ein Teil des Ganzen Du bist und zu welchem Ganzen Du gehörst, und dass Dich niemand hindern kann, stets nur das zu tun und zu reden, was dem Ganzen entspricht, dessen Teil Du bist.
10. Theophrast in seinem Vergleich der menschlichen Fehler – wie diese denn jeweils verglichen werden können – sagt, schwerer seien die, die aus Begierde, als die, welche aus Zorn begangen werden. Und wirklich erscheint ja der Zornige als ein Mensch, der nur mit einem gewissen Schmerz und mit innerem Widerstreben von der Vernunft abgekommen ist, während der aus Begierde Fehlende, weil ihn die Lust überwältigt, zügelloser erscheint und schwächer in seinen Fehlern. Wenn er nun also behauptet, es zeuge von größerer Schuld, einen Fehler zu begehen mit Freuden als mit Bedauern, so ist das gewiss richtig und der Philosophie nur angemessen. Man erklärt dann überhaupt den einen für einen Menschen, der gekränkt worden ist und zu seinem eigenen Leidwesen zum Zorn gezwungen wird, während man bei dem andern, der etwas aus Begierde tut, die Sache so ansieht, als begehe er das Unrecht mit unversehrter Haut.
11. Jegliches Tun bedenken wie einer, der im Begriff ist das Leben zu verlassen, das ist das Richtige. Das Fortgehen von den Menschen aber, wenn es Götter gibt, ist kein Unglück. Denn das Übel hört dann doch wohl gerade auf. Gibt es aber keine, oder kümmern sie sich nicht um die menschlichen Dinge, was soll mir das Leben in einer götterleeren Welt, in einer Welt ohne Vorsehung? Doch sie sind, und sie kümmern sich um die menschlichen Dinge. Mehr noch, sie haben, was die Übel betrifft, und zwar die eigentlichen, sie ganz in des Menschen Hand gelegt, sich davor zu bewahren. Ja auch hinsichtlich der sonstigen Übel, kann man sagen, haben sie es so eingerichtet, dass es nur auf uns ankommt, ob sie uns widerfahren werden. Denn wobei der Mensch nicht schlimmer wird, wie sollte dies sein Leben verschlimmern? Selbst für die bloße Natur – sei es, dass wir sie uns ohne Bewusstsein oder mit Bewusstsein begabt vorstellen – ist gewiss, dass sie nicht vermag, dem Übel vorzubeugen oder es wieder gut zu machen. Auch hätte sie dergleichen nicht übersehen, hätte nicht in dem Grade gefehlt aus Ohnmacht oder aus Mangel an Anlage, dass sie Gutes und Böses in gleicher Weise guten und bösen Menschen unterschiedslos zuteilwerden hieß. Tod aber und Leben, Ruhm und Ruhmlosigkeit, Leid und Freude, Reichtum und Armut und alles dieses wird den guten wie den bösen Menschen ohne Unterschied zuteil, als Dinge, die weder sittliche Vorzüge noch sittliche Mängel begründen, also sind sie auch weder gut noch böse, weder ein Glück noch ein Unglück.
12. Wie doch alles so schnell verbleicht! In der sichtbaren Welt die Leiber, in der Welt der Geister deren Gedächtnis! Was ist doch alles Sinnliche, zumal was durch Vergnügen anlockt oder durch Schmerz abschreckt oder in Stolz und Hochmuth sich breit macht, wie nichtig und verächtlich, wie schmutzig, hinfällig, tot! – Man folge dem Zuge des Geistes, man frage nach denen, die sich durch Werke des Geistes berühmt gemacht haben, man untersuche, was eigentlich sterben heißt, und man wird, wenn man der Phantasie keinen Einfluss auf seine Gedanken gestattet, darin nichts anderes als ein Werk der Natur erkennen. Kindisch aber wäre es doch, vor einem Werke der Natur, das derselben ohnehin auch noch zuträglich ist, sich zu fürchten. Man mache sich klar, wie der Mensch Gott ergreift und mit welchem Teile seines Wesens, und wie es mit diesem Teile des Menschen bestellt ist, wenn er Gott ergriffen hat.
13. Nichts Elenderes als ein Mensch, der um alles und jedes sich kümmert, auch um das, woran sonst niemand denkt, der nicht aufhört über die Vorgänge in der Seele des Nächsten seine Mutmaßungen anzustellen und nicht begreifen mag, dass es genug ist, für den Gott in der eignen Brust zu leben und ihm zu dienen, wie es sich gebührt. Das aber ist sein Dienst, ihn rein zu erhalten von Leidenschaft, von Unbesonnenheit und von Unlust über das, was von Göttern und Menschen geschieht. Denn die Handlungen der Götter zu ehren, gebietet die Tugend und mit denen der Menschen sich zu befreunden die Gleichheit der Abkunft, obwohl die letzteren allerdings auch zuweilen etwas Klägliches haben, weil so viele nicht wissen, was Güter und was Übel sind; eine Blindheit, nicht geringer als die, wie wenn man Schwarz und Weiß nicht unterscheiden kann.
14. Und wenn Du dreitausendJahre leben solltest, ja noch zehnmal mehr, hat doch niemand ein anderes Leben zu verlieren, als eben das, was er lebt, so wie niemand ein anderes lebt, als das, was er einmal verlieren wird. Und so läuft das Längste wie das Kürzeste auf dasselbe hinaus. Denn das Jetzt ist das Gleiche für alle, wenn auch das Vergangene nicht gleich ist, und der Verlust des Lebens erscheint doch so als ein Jetzt, indem niemand verlieren kann, weder was vergangen noch was zukünftig ist. Oder wie sollte man einem etwas abnehmen können, was er nicht besitzt? – An die beiden Dinge also müssen wir denken. Einmal, dass alles seiner Idee nach unter sich gleichartig ist und von gleichem Verlauf, und dass es keinen Unterschied macht, ob man hundert oder zweihundert Jahre lang oder ewig ein und dasselbe sieht. Und dann, dass auch der, der am Längsten gelebt hat, doch nur dasselbe verliert, wie der, der sehr bald stirbt. Denn nur das Jetzt ist es, dessen man beraubt werden kann, weil man nur dieses besitzt, und niemand etwas verlieren kann, was er nicht hat.
15. Alles beruht nur auf Meinung. Denn klar ist der Ausspruch des Kynikers Monimos. Auch der Wert des Ausspruches ist klar, wenn man den Kern erfasst.
16. Die Seele des Menschen tut sich selbst den größten Schaden, wenn sie sich von der Allnatur abzusondern, gleichsam aus ihr geschwürartig herauszuwachsen strebt. So, wenn sie unzufrieden ist über irgendetwas, das sich ereignet. Es ist dies ein entschiedener Abfall von der Natur, in der ja diese eigentümliche Verkettung der Umstände begründet ist. Ebenso, wenn sie jemand verabscheut oder anfeindet oder im Begriff ist, jemand weh zu tun, wie üblicherweise im Zorn. Ebenso wenn sie von Lust oder von Schmerz sich hinnehmen lässt oder wenn sie heuchelt, heuchlerisch und unwahr etwas tut oder spricht oder wenn ihre Handlungen und Triebe keinen Zweck haben, sondern ins Blaue hinausgehen und über sich selbst völlig im Unklaren sind. Denn auch das Kleinste muss in Beziehung zu einem Zweck gesetzt werden. Der Zweck aber aller vernunftbegabten Wesen ist, den Prinzipien und Normen des ältesten Gemeinwesens Folge zu leisten.
17. Das menschliche Leben ist, was seine Dauer betrifft, ein Endpunkt, des Menschen Wesen flüssig, sein Empfinden trübe, die Substanz seines Leibes leicht verweslich, seine Seele einem Kreisel vergleichbar, sein Schicksal schwer zu bestimmen, sein Ruf eine zweifelhafte Sache. Kurz, alles Leibliche an ihm ist wie ein Strom, und alles Seelische ein Traum, ein Rauch, sein Leben Krieg und Wanderung, sein Nachruhm die Vergessenheit. Was ist es nun, das ihn über das alles zu erheben vermag? Einzig die Philosophie, sie, die uns lehrt, den göttlichen Funken, den wir in uns tragen, rein und unverletzt zu erhalten, dass er Herr sei über Freude und Leid, dass er nichts ohne Überlegung tue, nichts erlüge und erheuchle und stets unabhängig sei von dem, was andere tun oder nicht tun, dass er alles, was ihm widerfährt und zugeteilt wird, so aufnehme, als komme es von da, von wo er selbst gekommen, und dass er endlich den Tod mit heiterem Sinn erwarte, als den Moment der Trennung aller der Elemente, aus denen jegliches lebendige Wesen besteht. Denn wenn den Elementen dadurch nichts Schlimmes widerfährt, dass sie fortwährend in einander übergehen, weshalb sollte man sich scheuen vor der Verwandlung und Lösung aller auf einmal? Vielmehr ist dies das Naturgemäße, und das Naturgemäße ist niemals vom Übel.
05. März 2012 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Vorurteile
Die Fackel
Nr. 241 WIEN, 15. JÄNNER 1908 IX. JAHR S. 1-8
Es gibt zweierlei Vorurteil. Das eine steht über allem Urteil. Es nimmt die innere Wahrheit vorweg, ehe das Urteil der äußern nahegekommen ist. Das andere steht unter allem Urteil; es kommt auch der äußern Wahrheit nicht nahe. Das erste Vorurteil ist über die Zweifel des Rechts erhaben, es ist zu stolz, um nicht berechtigt zu sein, es ist unüberwindlich und führt zur Absonderung. Das zweite Vorurteil lässt mit sich reden; es macht seinen Träger beliebt und ist auch als Verbindung eines Urteils mit einem Vorteil praktikabel.
Der Philister langweilt sich und sucht die Dinge, die ihn nicht langweilen. Den Künstler langweilen die Dinge, aber er langweilt sich nicht.
Ich unterschätze den Wert der wissenschaftlichen Erforschung des Geschlechtslebens gewiss nicht. Sie bleibt immerhin eine schöne Aufgabe. Und wenn ihre Resultate von den Schlüssen künstlerischer Phantasie bestätigt werden, so ist das schmeichelhaft für die Wissenschaft und sie hat nicht umsonst gelebt.
Man glaubt gar nicht, wie schwer es oft ist, eine Tat in einen Gedanken umzusetzen!
Diese finden jenes, jene dieses schön. Aber sie müssen es »finden«. Suchen will es keiner.
Ich habe den Satz von der ersten Geliebten, die eine Kletterstange war, wörtlich, nicht metaphorisch gemeint. Ich werde doch nicht einer Frau den Rang einer Kletterstange anweisen. Wohl aber umgekehrt.
Das Gefühl, das man bei der Freude des andern hat, ist in jedem Fall selbstsüchtig. Hat man ihm die Freude selbst bereitet, so nimmt man die größere Hälfte der Freude für sich in Anspruch. Die Freude aber, die ihm ein anderer vor unseren Augen bereitet, fühlen wir ganz mit: die Hälfte ist Neid, die Hälfte Eifersucht.
Frauen sind hohle Koffer oder Koffer mit Einlage. In die hohlen packe man keinen geistigen Inhalt, er könnte in Verwirrung geraten. In die andern lässt er sich gut hineinlegen.
Wenn man einmal durch Erleben zum Denken gelangt ist, gelangt man auch durch Denken zum Erleben. Man genießt die wollüstigen Früchte seiner Erkenntnis. Glücklich, wem Frauen, auf die man Gedachtes mühelos anwenden kann, zu solcher Erholung beschieden sind!
Es ist die wichtigste Aufgabe, das Selbstunbewusstsein einer Schönen zu heben. Und das Selbstbewusstsein derer, die um sie sind.
Wenn ich eine Frau so auslegen kann, wie ich will, ist es das Verdienst der Frau.
Mein Gehör ermöglicht es mir, einen Schauspieler, den ich vor zwanzig Jahren in einer Dienerrolle auf einem Provinztheater und seit damals nicht gesehen habe, als Don Carlos zu imitieren. Das ist ein wahrer Fluch. Ich höre jeden Menschen sprechen, den ich einmal gehört habe. Nur die Wiener Schriftsteller, deren Feuilletons ich lese, höre ich nie sprechen. Darum muß ich jedem erst eine besondere Rolle zuweisen. Wenn ich einen Wiener Zeitungsartikel lese, höre ich einen Zahlkellner oder einen Hausierer, der mir vor Jahren einmal einen Taschenfeitel angehängt hat, reden. Oder es ist eine Vorlesung bei der Hausmeisterin. Mit einem Wort, ich muss mich auf irgend einen geistigen Dialekt einstellen, um hindurchzukommen. Mit meiner eigenen Stimme bringe ich’s nicht fertig.
Es müsste ein geistiger Liftverkehr etabliert werden, um einem die unerhörten Strapazen zu ersparen, die mit der Herablassung zum Niveau des Wiener Schrifttums verbunden sind. Wenn ich wieder zu mir komme, bin ich immer ganz außer Atem.
Dem Erotiker wird das Merkmal des Geschlechts nie Anziehung, stets Hemmung. Auch das weibliche Merkmal. Darum kann er zum Knaben wie zum Weib tendieren. Den durchaus Homosexuellen zieht das Merkmal des Mannes an, gerade so wie den hypersexuellen »Normalen« das Merkmal des Weibes als solches anzieht. Jack the ripper ist also viel »normaler« als Sokrates.
Der sexuelle Mann sagt: Wenn’s nur ein Weib ist! Der erotische sagt: Wenn’s doch ein Weib wäre!
Das Weib kann Sinnlichkeit auch zum Weib führen. Den Mann die Phantasie auch zum Mann. Hetären und Künstler. »Normwidrig« ist der Mann, den Sinnlichkeit, das Weib, das Phantasie zum eigenen Geschlecht führt. Der Mann, der mit Phantasie auch zum Mann gelangt, steht höher als jener, den nur Sinnlichkeit zum Weib führt. Das Weib, das Sinnlichkeit auch zum Weib führt, höher, als jenes, das erst mit Phantasie zum Mann gelangt. Der Normwidrige kann Talente haben, nie eine Persönlichkeit sein. Der andere beweist seine Persönlichkeit schon in der
»Perversität«. Das Gesetz aber wütet gegen Persönlichkeit und Natur, gegen Werte und Defekte.Es straft Sinnlichkeit, die das Vollweib zum Weib und den Halbma nn zum Mann, es straft Phantasie, die den Vollmann zum Mann und das Halbweib zum Weib führt. — Ich spreche diese Erkenntnis, die die Analphabeten aus meiner Abhandlung über »Perversität« nicht entnehmen konnten, hier noch einmal aus. Es muss mir vor allem darauf ankommen, die Analphabeten zu überzeugen, da sie ja die Strafgesetze machen.
Wenn man vom Sklavenmarkt der Liebe spricht, so fasse man ihn doch endlich so auf: die Sklaven sind die Käufer. Wenn sie einmal gekauft haben, ist’s mit der Menschenwürde vorbei; sie werden glücklich. Und welche Mühsal auf der Suche des Glücks! Welche Qual der Freude! Im Schweiße deines Angesichts sollst du deinen Genuss finden. Wie plagt sich der Mann um die Liebe! Aber wenn eine nur Wanda heißt, wird sie mit der schönsten sozialen Position fertig.
Ein schauerlicher Materialismus predigt uns, dass die Liebe nichts mit dem Geld zu tun habe und das Geld nichts mit der Liebe. Die idealistische Auffassung gibt wenigstens eine Preisgrenze zu, bei der die wahre Liebe beginnt. Es ist zugleich die Grenze, bei der die Eifersucht dessen aufhört, der um seiner selbst willen geliebt wird. Sie hört auf, wiewohl sie jetzt beginnen könnte. Das Konkurrenzgebiet ist verlegt.
Die Rechtsstellung des Zuhälters in der bürgerlichen Gesellschaft ist noch nicht geklärt. Ethisch ist seine Rolle, wenn er bloß achtet, wo geächtet wird. Ethisch ist er als Antipolizist. Also ein Auswurf der Gesellschaft. Vollends, wenn er für seine Überzeugung Opfer bringt. Wenn er aber für seine Überzeugung Opfer verlangt, fügt er sich in den Rahmen der Gesellschaftsordnung, die zwar dem Weibe Prostitution nicht verzeiht, aber dem Manne Korruption.
Verachtung der Prostitution? Die Huren schlechter als Diebe? Wisst: Liebe nimmt nicht nur Lohn, Lohn gibt auch Liebe!
Hierzulande gibt es unpünktliche Eisenbahnen, die sich nicht daran gewöhnen können ihre Verspätungen einzuhalten.
Ein skrupelloser Maler, der unter dem Vorwand, eine Frau besitzen zu wollen, sie in sein Atelier lockt und dort malt.
Das Gesetz enthält leider keine Bestimmung gegen die Männer, die ein unschuldiges junges Mädchenunter der Zusage der Verführung heiraten und wenn das Opfer eingewilligt hat, von nichts mehr wissen wollen.
Die einen verführen und lassen sitzen; die andern heiraten und lassen liegen. Diese sind die Gewissenloseren.
Versorgung der Sinne! Die bangere Frauenfrage.
Ich bin doch gewiss bereit, einen Gegner nachsichtig zu beurteilen. Aber ich muss so gerecht sein und zugeben, dass die Artikel, die H. über seinen Prozess geschrieben hat, der letzte Schund sind.
Eine untrügliche Probe der Dummheit: Ich frage einen Diener, um welche Zeit gestern ein Besuch da war. Er sieht auf seine Uhr und sagt: »Ich
weiß nicht, ich hab’ nicht auf die Uhr gesehen!« Einen gewissen Grad von Unfähigkeit, sich geistig zu regen, wird man jenen »ausübenden« Künstlern, die nicht das Wort gestalten, den Malern und Musikern, zugutehalten dürfen. Aber man musssagen, dass die Künstler darin die Kunst zumeist überbieten und an den Schwachsinn einer Unterhaltung Ansprüche stellen, die über das erlaubte Maß hinausgehen. Dies gilt nicht von den vollen Persönlichkeiten, die auch außerhalb der Kunst von Anregungsfähigkeit bersten, nur von den Durchschnittsmenschen mit Talent, denen die Kunst fürs Leben nichts übriggelassen hat. Zuweilen ist es unmöglich, einen Menschen, dessen Denken in Tönen oder Farben zerrinnt, auf der Fährte eines primitiven Gedankens zu erhalten. Es war ein preziöser Dichter, der einmal, als man ihm eine Gleichung mit zwei Unbekannten erklärte, unterbrach und sein vollstes Verständnis durch die Versicherung kundgab, die Sache erscheine ihm nunmehrviolett. Ein Maler wäre auch dazu nicht imstande und ließe einfach die Zunge heraushängen. Ein Musiker aber täte nicht einmal das. Ich habe Marterqualen in Gesprächen mit Geigenspielern ausgestanden. Als einmal eine große Bankdefraudation sich ereignete, gratulierte mir einer. Da ich bemerkte, dass ich nicht Geburtstag habe, meinte er, ich hätte mich als Propheten bewährt. Da ich replizierte, dass ich meines Erinnerns die Defraudation nicht vorhergesagt hätte, wusste er auch darauf eine Antwort und sagte: »Nun, überhaupt diese Zustände«; und ließ in holdem Blödsinn sein volles Künstlerauge auf mir ruhen. Es war ein gefeierter Geigenspieler. Aber solche Leute sollte man nicht ohne Geige herumlaufen lassen. So wenig wie es erlaubt sein sollte, in das Privatleben eines Sängers einzugreifen. Für Männer und Frauen kann die Erfahrung nur eine Enttäuschung bedeuten. Sobald ein Sänger den Mund auftut, um zu sprechen, oder sich sonst irgendwie offenbaren möchte, gehts übel aus. Der Maler, der sich vor seine Leinwand stellt, wirkt als Klecks, der Musiker nach getaner Arbeit als Misston. Wer’s notwendig hat, soll in Gottes Namen Töne und Farben auf sich wirken lassen. Aber es kann nicht notwendig sein, den Dummheitsstoff, der in der Welt aufgehäuft ist, noch durch die Möglichkeiten der unbeschäftigten Künstlerseele zu vermehren.
Ein pornographischer Schriftsteller kann leicht Talent haben. Je weiter die Grenzen der Terminologie, desto geringer die Anstrengung der Psychologie. Wenn ich den Geschlechtsakt populär bezeichnen darf, ist das halbe Spiel gewonnen. Die Wirkung eines verbotenen Wortes wiegt alle Spannung auf und der Kontrast zwischen dem Überraschenden und dem Gewohnten ist beinahe ein Humorelement.
Es gibt seichte und tiefe Hohlköpfe. In der Vogelperspektive aber ist zwischen einem Paul Goldmann und einem Professor der Philosophie kein
Unterschied.
Es wäre immerhin möglich, dass eine Sitzung des Vereins reisender Kaufleute sich als eine Versammlung der Väter unserer jungwiener Dichter
entpuppte.
Die Boheme hat sonderbare Heilige. Ein Einsiedler, der von Wurzen lebt!
Ein amerikanischer Denker: Deutsche Philosophie, die auf dem Transport Wasser angezogen hat.
Die Persönlichkeit hat’s in sich, das Talent an sich.
Es ist etwas Eigenes um die gebildeten Schönen. Sie krempeln die Mythologie um. Athene ist schaumgeboren und Aphrodite in eherner Rüstung dem Haupt Kronions entsprossen. Klarheit entsteht erst wieder, wenn die Scheide am Herkulesweg ist.
Sie gewährt, an die Pforte ihrer Lust zu pochen und lässt alle die Schätze sehen, von denen sie nicht gibt. Die Unlust des Wartenden bereichert indes ihre Lust: sie nimmt dem Bettler ein Almosen ab und sagt ihm, hier werde nichts geteilt.
Wir kürzen uns die Zeit mit Kopfrechnen ab. Ich ziehe die Wurzel aus ihrer Sinnlichkeit und sie erhebt mich zur Potenz.
In der Nacht sind alle Kühe schwarz, auch die blonden.
29. Februar 2012 | Kategorie: Artikel, Heine und die Folgen, Richard Schuberth
Richard Alexander Schubert ist Schriftsteller – unter anderem – und lebt in Wien. Die Lektüre seiner Schriften sei dem empfohlen, der den Kopf nicht nur als Huthalter oder Frisierobjekt missbraucht. Der Text wird hier mit seiner ausdrücklichen Genehmigung abgedruckt. Er entstammt dem Buch
Richard Schuberth 30 Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus
238 S. , EUR 24,-
Broschur mit Fadenheftung
ISBN 978-3-85132-531-7, 2008
Kraus, Heine und die Folgen
„Was will die einsame Träne? Was will ein Humor, der unter Tränen lächelt, weil weder Kraft zum Weinen da ist noch zum Lachen?“
Karl Kraus
„Wahrheit im Fühlen und Denken hilft einem sehr viel in der Prosa, dem Lügner wird der gute Stil sehr erschwert.“
Heinrich Heine
„Nichts ist törichter als die Frage, welcher Dichter größer sei als der andere. Flamme ist Flamme, und ihr Gewicht lässt sich nicht bestimmen nach Pfund und Unze. Nur platter Krämersinn kommt mit einer schäbigen Käsewaage und will den Genius wiegen.“
Heinrich Heine
Wohl aber lässt sich qualifizieren, ob eine Flamme erleuchtet und brennt oder nur das begeisterte Blitzen und rebellische Funkeln der Dichteraugen illuminiert. Das zeigt Karl Kraus in seinem Essay „Heine und die Folgen“ aus dem Jahr 1910, und wer wie ich mit Heine sozialisiert wurde, der schützt sich gegen Kraus’ Kritik zunächst mit dem vorgedruckten Katalog der Unterstellungen, die von pedantisch bis besserwisserisch, von narzisstisch bis gehässig reichen – und wird an der stilistischen und ethischen Autorität dieses wundersamen Stücks Literatur resignieren, weil er mit Kieseln gegen einen Felsblock wirft. Nie wurde die Forderung, wer kritisiert, solle Besseres liefern, besser erfüllt als durch Kraus’ Kritik an Heine. Es ist sogar unbedingt von dessen Lektüre abzuraten, und wer es nicht lassen kann, sollte sich zumindest mit den Brech- oder Abführmitteln seiner Vorurteile vor ihrem Verständnis schützen. Denn es lässt sich keines seiner Argumente widerlegen, und selbst wenn, gäbe es keine Sprache, die es mit der seinen aufnehmen könnte. Nicht einmal zu kennen braucht man das Objekt seiner Kritik, Heinrich Heine. Was Kraus kritisierte, ist allgemein gültig, und wer „Heine und die Folgen“ wirklich verdaut hat, dem wird danach ein Großteil seiner kulturellen Lieblingskost, mit oder ohne Heine, kaum noch schmecken. Die formblinde Halbbildung, die in Kunst nur den Inhalt wahrnimmt und folglich Kraus und Heine als Geistesverwandte missversteht, mag in Kraus’ Kritik an Heine nur Stutenbeißerei vermuten.
Der Linken ist der Marx-Intimus und Verfasser der „schlesischen Weber“ wie die Ernst-Busch-Platte und der Che-Poster Requisite der eigenen Gesinnung. Für sie ist Literatur nicht interessant, weil sie gut ist, sondern weil der Autor in Spanien gekämpft hat oder Kirgise ist. Doch über die Kritik der Gesinnungsliteratur wurde in vorangegangenen Artikeln genug gesagt. Vielmehr interessiert die ungebrochene Tradition einer kulturindustriellen Heine-Verehrung, die seit 1910 das immer gleiche Gesicht zeigt, und im Jahr 2006 am authentischsten das von Marcel Reich-Ranicki annimmt, der im Fernsehen Heine zum größten deutschen Dichter hochkrächzt, nicht ohne nachzubelfern, dass „der Kraus“ ja nur neidisch war, weil er nicht konnte, was Heine konnte. Liest man „Heine und die Folgen“, kommt man zur überraschenden Einsicht, dass Reich-Ranicki zumindest in Letzterem Recht hat, ja Kraus gar nicht können wollte, was Heine konnte.
Bis zu diesem Text brachte Kraus Heine unschlüssiges Wohlwollen entgegen. 1906 schrieb er in der „Fackel“ noch: „Wir wollen nicht ungerecht gegen ihn werden, weil uns seine Grazie amoralischer Tugend heute im Zerrbild journalistischer Verkommenheit entgegentritt, weil seine künstlerischen Vorzüge an den Nachfolgern als sittliche Mängel wirken, an seinen künstlerischen Mängeln eine Generation schmarotzt, die noch immer unter Heines Tränen lächelt.“ Doch seine Redlichkeit gebietet Kraus, den jüdischen Kosmopoliten Heine gegen die Kritik der Bodenständigen zu verteidigen und mit der seinen erst anzusetzen, „nachdem man alle Urteutonen, die ihm die Denkmalswürdigkeit absprechen, beleidigt hat. Denn man baut aus deutschen Eichen keine Galgen für die Reichen, auch nicht für die Geistreichen.“
Vier Jahre später ahndet er die Konsequenzen schon am Urheber selbst, Heine sei es gewesen, der „der deutschen Sprache so sehr das Mieder gelockert hat, dass heute alle Kommis an ihren Brüsten fingern können“. Er klagt ihn als geistigen Ahnvater des Feuilletonismus an, der Ästhetisierung des Journalismus und der Journalisierung der Literatur, als Schutzheiligen all derer, die die Untugend, es sich in Sprache und Denken zu leicht zu machen, als Leichtigkeit feiern. Unter Kraus’ Lupe entlarvt sich Heine als der talentierte Poseur, als den ihn das geistige Bildungskleinbürgertum seit 150 Jahren bewundert, weil er ihnen romantisches Draufgängertum und flotten Rebellengeist vorgaukelt, die sie gerade noch selbst fertig brächten, ohne ihre fragilen Ego-Anmaßungen – die Bedingung jeglicher Erkenntnis – warten zu müssen. Sein Werk, so Kraus, führe „in unterirdischen Gängen direkt vom Kontor zur blauen Grotte“, oder aktualisiert: vom Kulturmanager- respektive Redakteursbüro direkt zu der berechneten Melancholie eines Truffautfilms oder dem glatten Zynismus von Harald Schmidts Late-Night-Show. Heine ist ewige Adoleszenz, weshalb er bei der Jugend und jenen so beliebt ist, welche das Erwerbsinteresse in unabgeschlossener Adoleszenz festfror. „Man hatte Masern, man hatte Heine, und man wird heiß in der Erinnerung an jedes Fieber der Jugend. Hier schweige die Kritik. Kein Autor hat die Revision so notwendig wie Heine, keiner verträgt sie so schlecht, keiner wird so sehr von allen holden Einbildungen gegen sie geschützt, wie Heine. (…) So kommt der Tag, wo es mich nichts angeht, dass ein Herr, der längst Bankier geworden ist, einst unter den Klängen von ‚Du hast Diamanten und Perlen’ zu seiner Liebe schlich. Und wo man rücksichtslos wird, wenn der Reiz, mit dem diese tränenvolle Stofflichkeit es jungen Herzen angetan hat, auf alte Hirne fortwirkt und der Sirup sentimentaler Stimmungen an literarischen Urteilen klebt.“
Lächeln unter Tränen
Heines Tränen, wirft ihm Kraus vor, hätten kein Salz und sein Witz keinen Boden. Alles, was Kraus heilig ist, Empfindung, Anschauung, Kritik, Witz und – Sprache, gebrauche Heine zum Dekor seiner Person, die Kraus zufolge erst zur Persönlichkeit reifte, wenn sie sich diesen Heiligtümern unterwürfe. Auch Oscar Wilde und Peter Altenberg sind eitle Gecken, doch in ihrer Egomanie spiegelt sich die Welt, während Heine dieser stets sein Spiegelbild aufdrängt. Auch Nestroy witzelt, doch in seinen Witzen lachen die Widersprüche der Gesellschaft, welche Heine bloß verlacht. Womit sich die in ihrer persönlichen Souveränität unsichere Nachwelt lückenlos identifizieren kann und ihn als den lässigen Überwinder der sperrigen Klassiker wie Goethe feiert. „Dass, wer nichts zu sagen hat, es besser verständlich sage, diese Erkenntnis war die Erleichterung, die Deutschland seinem Heine dankt nach jenen schweren Zeiten, wo etwas zu sagen hatte, wer unverständlich war.“ Präzise erhellt Kraus den Unterschied zwischen Lyrik, die die Dinge sprechen lässt, und solcher, die über die Dinge spricht: „Wie über allen Gipfeln Ruh’ ist, teilt sich Goethe, teilt er uns in so groß empfundener Nähe mit, dass die Stille sich als eine Ahnung hören lässt. Wenn aber ein Fichtenbaum im Norden auf kahler Höh’ steht und von einer Palme im Morgenland träumt, so ist das eine besondere Artigkeit der Natur, die der Sehnsucht Heines allegorisch entgegenkommt.“
Heines Beliebtheit liegt in seiner Gefälligkeit begründet, in einer Lyrik, „in der die Idee nicht kristallisiert, aber verzuckert wird“, in einem Witz, der im Gegensatz zum Nestroy’schen Humor „mit der Welt läuft, der sie dort traf, wo sie gekitzelt sein wollte, und dem sie immer gewachsen war“ – und in der augenzwinkernden Legerheit, die keck von einem Thema zum anderen hüpft und sich das als Überschmäh verbuchen lässt. Kraus sieht darin lediglich Unfähigkeit zur Komposition und geistige Kurzatmigkeit – jenen kurzen „Atem, der in einem Absatz absetzen muss, als müsste er immer wieder sagen: so, und jetzt sprechen wir von etwas anderm. Wäre Heine zum Aphorismus fähig gewesen, zu dem ja der längste Atem gehört, er hätte auch hundert Seiten Polemik durchhalten können.“
Stilkunde als Charakterkunde?
Auf rutschigen Boden begibt sich Kraus, wenn er vom Stil des Autors auf dessen Charakter schließt, doch überzeugt er auch dort mit unerwarteter Trittsicherheit. Seine Charakterologie setzt zunächst bei falschen Gefühlen und falscher Aufklärung an. Wenn Heine zum Beispiel die Erbauung einer jungen Dame beim Betrachten des Sonnenuntergangs entmystifizieren will – „Mein Fräulein, sein Sie munter, / Das ist ein altes Stück; / Hier vorne geht sie unter, / Und kehrt von hinten zurück.“ – dann kommt ihm Kraus schnell auf die Schliche: „Der Zynismus Heines steht auf dem Niveau der Sentimentalität des Fräuleins. Und der eigenen Sentimentalität.“ Heine gefällt sich als der ironische Überwinder der Romantik und ihrer Wirklichkeitsverweigerung. Doch Kraus weist ihm nach, dass er sie keinesfalls überwindet, sondern bloß ihre billigste Emotionalität in sich erhält und sie, sobald er sich dabei erwischt, an anderen verspottet. Kraus würde nie Romantik gegen Realismus oder etwa Naturlyrik gegen das politische Gedicht ausspielen. Ob so oder so, Literatur sollte tiefes Empfinden mit tiefem Denken vereinen, die Qualität ihrer Sprache ist ihr Senkblei.
Heine wurde oft ein brüchiger Charakter attestiert. Niemals hätte ihm Kraus das zum Vorwurf gemacht, wohl aber, dass er die Brüche dieses Charakters selten zu künstlerischer Stärke genutzt, sondern mit der Ironie der Beiläufigkeit überpudert hat.
In Anspielung auf den Publizisten Maximilian Harden hatte Kraus geschrieben: „Dass einer ein Mörder ist, muss nichts gegen seinen Stil beweisen. Aber der Stil kann beweisen, dass er ein Mörder ist.“ Wie Harden die Homosexualität des Fürsten Eulenburg denunzierte, so hatte Heine zwei Generationen zuvor die homosexuellen Neigungen des Dichters August Graf von Platen verspottet.
„Die Gesinnung“, kommentiert Kraus, „kann nicht weiter greifen als der Humor. Wer über das Geschlechtsleben seines Gegners spottet, kann nicht zu polemischer Kraft sich erheben. (…) Schlechte Gesinnung kann nur schlechte Witze machen. Der Wortwitz, der die Kontrastwelten auf die kleinste Fläche drängt und darum der wertvollste sein kann, muss bei Heine (…) zum losen Kalauer werden, weil kein sittlicher Fonds die Deckung übernimmt.“
Auch am Beispiel der Polemik gegen seinen Konkurrenten Ludwig Börne überführt er Heine einer Spießermoral, die dieser hinter Frivolität und Freigeistigkeit zu verstecken trachtete. Heine hatte gemutmaßt, ob eine gewisse Madame Wohl die Geliebte Börnes sei oder „bloß seine Gattin“. Kraus: „Dieser ganz gute Witz ist bezeichnend für die Wurzellosigkeit des Heineschen Witzes, denn er deckt sich mit dem Gegenteil der Heineschen Auffassung von der Geschlechtsmoral. Heine hätte sich schlicht bürgerlich dafür interessieren müssen, ob Madame Wohl die Gattin Börnes oder bloß seine Geliebte sei.“
Nur vor Heines letzten Werken verneigt sich Kraus, dem „Romanzero“ zum Beispiel, den jener angesichts eines langsamen Todes in seiner „Matratzengruft“ verfasste: „Heine hat das Erlebnis des Sterbens gebraucht, um ein Dichter zu sein.“ – „Der Tod konzentriert, räumt mit dem tändelnden Halbweltschmerz auf und gibt dem Zynismus etwas Pathos. (…) Sein Witz, im Erlöschen verdichtet, findet kräftigere Zusammenfassungen; und Geschmacklosigkeiten wie: ‚Geh ins Kloster, liebes Kind, oder lasse dich rasieren’, werden seltener.“
Die Kommis von heute, gleich ob es sich bei ihnen um Museumskuratoren, Redakteure oder kultivierte Werbetexterinnen handelt, mögen noch immer wissen, was sie an ihrem Heine haben, die Schärfe, die nicht zu sehr brennt, die Gefühlstiefe, die auch nach Büroschluss seicht genug bleibt, und den aufgeklärten Sarkasmus, mit dem es sich insgeheim fies und konkurrenzfähig bleiben lässt. „Darum verlangt die Pietät des Journalismus, dass heute in jeder Redaktion mindestens eine Wanze aus Heines Matratzengruft gehalten wird. Das kriecht am Sonntag platt durch die Spalten und stinkt uns die Kunst von der Nase weg! Aber es amüsiert uns, so um das wahre Leben betrogen zu werden. In Zeiten, die Zeit hatten, hatte man an der Kunst eins aufzulösen. In einer Zeit, die Zeitungen hat, sind Stoff und Form zu rascherem Verständnis getrennt.“
„Heine hat das Höchste geschaffen, was mit der Sprache zu schaffen ist“, resümiert Karl Kraus, aber: „Höher steht, was aus der Sprache geschaffen wird.“ Doch auch vor dem Alterswerk finden sich bei Heine genug Sentenzen, die nicht mit, sondern in der Sprache großartig und gar nicht so weit von Kraus’ Satire entfernt sind. So ungerecht seine Kritik an Heine im Detail sein mag, die Kritik der „Folgen“ hat die Kraft, alles was wir für kritisch und klug halten, tosend in sich zusammenstürzen zu lassen und auf ein neues Niveau zu verweisen. Ob wir die Kraft haben, ihm dorthin zu folgen, steht auf einem anderen Blatt. So empfiehlt sich „Heine und die Folgen“ als Fegefeuer für jeden denkenden Menschen, es ist das Manifest einer stilistischen Ethik, deren Kenntnis verbietet, hinter sie zurückzufallen. Um sich diese Schäbigkeit zu ersparen, lese man „Heine und die Folgen“ besser nicht.
Lesetipp:
Karl Kraus: Heine und die Folgen. In: Der Untergang der Welt durch schwarze Magie. Frankfurt a. Main 1989
25. Februar 2012 | Kategorie: Artikel
Die Fackel Nr. 241 15. JÄNNER 1908 IX. JAHR Vorurteile S.6
Einen gewissen Grad von Unfähigkeit, sich geistig zu regen, wird man jenen ausübenden« Künstlern, die nicht das Wort gestalten, den Malern und Musikern, zugutehalten dürfen. Aber man muss sagen, dass die Künstler darin die Kunst zumeist überbieten und an den Schwachsinn einer Unterhaltung Ansprüche stellen, die über das erlaubte Maß hinausgehen. Dies gilt nicht von den vollen Persönlichkeiten, die auch außerhalb der Kunst von Anregungsfähigkeit bersten, nur von den Durchschnittsmenschen mit Talent, denen die Kunst fürs Leben nichts übriggelassen hat. Zuweilen ist es unmöglich, einen Menschen, dessen Denken in Tönen oder Farben zerrinnt, auf der Fährte eines primitiven Gedankens zu erhalten. Es war ein preziöser Dichter, der einmal, als man ihm eine Gleichung mit zwei Unbekannten erklärte, unterbrach und sein vollstes Verständnis durch die Versicherung kundgab, die Sache erscheine ihm nunmehr violett. Ein Maler wäre auch dazu nicht imstande und ließe einfach die Zunge heraushängen. Ein Musiker aber täte nicht einmal das. Ich habe Marterqualen in Gesprächen mit Geigenspielern ausgestanden. Als einmal eine große Bankdefraudation sich ereignete, gratulierte mir einer. Da ich bemerkte, dass ich nicht Geburtstag habe, meinte er, ich hätte mich als Propheten bewährt. Da ich replizierte, dass ich meines Erinnerns die Defraudation nicht vorhergesagt hätte, wusste er auch darauf eine Antwort und sagte: »Nun, überhaupt diese Zustände«; und ließ in holdem Blödsinn sein volles Künstlerauge auf mir ruhen. Es war ein gefeierter Geigenspieler. Aber solche Leute sollte man nicht ohne Geige herumlaufen lassen. So wenig wie es erlaubt sein sollte, in das Privatleben eines Sängers einzugreifen. Für Männer und Frauen kann die Erfahrung nur eine Enttäuschung bedeuten. Sobald ein Sänger den Mund auftut, um zu sprechen, oder sich sonst irgendwie offenbaren möchte, gehts übel aus. Der Maler, der sich vor seine Leinwand stellt, wirkt als Klecks, der Musiker nach getaner Arbeit als Misston. Wer’s notwendig hat, soll in Gottes Namen Töne und Farben auf sich wirken lassen. Aber es kann nicht notwendig sein, den Dummheitsstoff, der in der Welt aufgehäuft ist, noch durch die Möglichkeiten der unbeschäftigten Künstlerseele zu vermehren.
DIE FACKEL Nr. 324—25 2. JUNI 1911 XIII. JAHR
Die Künstler
Der Typus, der einen malerischen Schlapphut und einen architektonischen Umhängebart trägt und in besonders peinlichen Exemplaren auch vor Pumphosen nicht zurückscheut, die Sorte, die in den achtziger Jahren die Gegend zwischen dem Café Kremser und dem Restaurant Gause belebt hat und die man längst ausgestorben und nur zum Zweck der Veranstaltung von Gschnasfesten konserviert glaubte, kurzum jene Art von Mensch, bei deren Anblick sich dem Wiener sofort die Assoziation »Künstler« einstellt, — ist soeben fünfzig Jahre alt geworden. Und da sich die Künstlergenossenschaft zur Malerei ähnlich verhält wie der Männergesangverein zur Musik — wobei es nicht ausgeschlossen ist, dass die beiden Korporationen einander im Bedarfsfalle aushelfen —, so herrschte große Aufregung bei allen, die Aussicht haben, ihr Verdienst, es miterlebt zu haben, gewürdigt zu sehen und die Ehre gehabt zu haben, in Anwesenheit des Truchsess Dobner von Dobenau gspeist zu haben, nicht ohne vorher den formschönen und gehaltvollen Prolog des Freiherrn von Berger, dem die Arbeit am Epilog des Burgtheaters zu allem Möglichen Zeit lässt, begeistert akklamiert zu haben. Der Statthalter war auch dabei. Er ist so kunstsinnig, dass wir noch immer zwanzig Automobiltaxen haben, und so fesch, dass das alte Wahrwort Recht behalten dürfte: Der Hannoveraner geht nicht unter. Wer da aber glaubt, dass mich die Lebensäußerungen des kunstsinnigen und geselligen Wien heute noch zu einem intimeren Eingehen reizen werden, ist im Irrtum. Mit einem leichten Aufstoßen gehe ich an den gedeckten Tafeln vorüber, an denen gestern eine achtzigjährige Zierde des Barreaus gepriesen wurde, als ob sie von Michelangelo selber entworfen wäre, und heute zu Ehren der fünfzigjährigen Kunst gegessen wird. Es ist immer dasselbe Schaugericht, süß zum hineinbeißen. Sie sind immer unter sich, harmlos und ohne Ahnung der Gefahr, dass ein Sachverständiger im internationalen Konditoreifach bezeugen könnte, die Creme der Wiener Gesellschaft sei der Abschaum der Menschheit. Und wenn sie nicht mehr »gemütlich« sein können, so ersetzen sie es wenigstens durch einstimmiges Klagen, dass sie es nicht mehr sind. Indem sie bei grimmigem Zeitgeist die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, machen sie sich warm wie die Dienstmänner, die im Winter die Arme übereinander schlagen. Und die Erinnerungen der alten Herren schweifen zurück in die Zeit, wo noch das »Sperrschiff« in der Kärntnerstraße herumgegangen ist und wo es noch keine Sezession gab. Ja, damals hat noch der Bratfisch gesungen und der Ranzoni hat noch geschrieben. Der Pötzl war noch Gerichtssaalberichterstatter, zeigte aber bereits Spuren von Humor, die Blütezeit der Fiakermilli war zwar schon vorüber, aber der Stern der Dukatenmali war eben im Aufgehen. Feuerbach wurde abgewiesen, Romaco ging zugrunde, und alle Kobolde des Ulks wusste Meister Goltz um sich zu versammeln. »Als man noch eins im Künstlerhause war …« — an diese Zeit erinnert sich in der Neuen Freien Presse, und nie wird er »an« diese Zeit vergessen: der alte Wiener Kunstfreund, der in der Rembrandtstraße wohnen dürfte und der vielleicht nur die Zeit gemeint hat, als man »nach eins« im Künstlerhaus war. Er preist den Geselligkeitszauber, die familiäre Gemütlichkeit und die Intimität der Vergnügungsabende von anno dazumal. Dafür zwei Belege. »Plötzlich hörte man dumpfes, wirres Geschrei aus dem Souperzimmer dringen. Erschrocken eilte man hinein und fand alles im wilden Alarm, alles von den Sitzen auf, Frau Papier schrie nach ihrer Garderobe … ihr Gatte stand in einer Art von Kampfesstellung gegen Canon. Was war geschehen? Auf Richard Wagner war das Gespräch gekommen und da hatte Canon, auf den der Name ‚Wagner‘ schon wie ein rotes Tuch wirkte, eine Behauptung aufgestellt, für deren Tatsächlichkeit er mit allem Aplomb seine Zeugenschaft einsetzte …« Als ein Wagnerianer widersprach, erbot sich Canon »ihm die Champagnerflasche um den Schädel zu hauen.« Erzählt der Historiker der Gemütlichkeit. Ein andermal war Adolf Menzel nach Wien zu Besuch gekommen. Man hatte ihm im Künstlerhaus »zum Sitznachbar den Wiener Ältesten, Rudolf Alt, gegeben. Alt führte die Unterhaltung in der Art, wie er muntere Gespräche zu führen pflegte, in einer Suite von Kalauern, der eine ärger als der andere … Für Menzel, den Berliner, wars das absolute Kauderwälsch, der Sitznachbar wurde ihm immer unverständlicher und damit auch immer rätselhafter, so dass er schon Zeichen von Ungeduld gab, die leicht explodieren konnte.« Erst später verstand Menzel, »und nun antwortete Sprühfeuer dem Sprühfeuer«. Es ist immerhin bedauerlich, dass er den Begriff, den er damals von Wien und seiner Kunst bekam, in keiner Tagebuchnotiz festgehalten hat. Der gemütliche Kunstfreund meint: »Das waren so innige, seriöse und minder seriöse Allotrias der Intimität, die aber jedenfalls auf die vorhandene Sphäre der Intimität hinwiesen.« Die Zeiten sind vorüber. Zwar hat nicht Wagner, sondern Herr Canon, auf den er wie ein rotes Tuch wirkte, in Wien ein Denkmal bekommen — jener Vollbart mit Pumphose, über den sich an der Ecke der Johannesgasse die Dienstmänner freuen, weil sie ihn noch persönlich gekannt haben —, aber die Gemütlichkeit ist tschihi. Der Geselligkeitsclub »D’Fürigspritzten« ist in das Zeichen der Sekzessiaun getreten und behauptet, dass der Makartsche Genius in Klimt wiedererstanden ist unter Beibehaltung des Kranzes blühender Jüdinnen. Aber alle, in denen noch ein Gefühl für die Vergangenheit lebt, vereinigen sich, um die Künstlergenossenschaft hoch leben zu lassen. Der Beginn der Feierlichkeiten gestaltete sich so: »Bildhauer Fänner erschien als Muse auf einem Pegasus, den ein ausrangiertes Komfortablepferd darstellte, und sprach den Prolog von Maler Zewy, der dann in gelungener Maske eines Dichterlings in Versen von Benjamin Schier die Künstlergenossenschaft von einst und jetzt feierte.« Das geschah im Künstlerhaus und man konnte somit glauben, es handle sich um ein Jubiläum der Schlaraffia. Am nächsten Tag wurden bereits freimaurerische Töne angeschlagen. »Gott grüß die Kunst!«, rief der Freiherr vonBerger durch den Mund des Herrn Reimers, dem schon früher die Kunst, grüß Gott! zu sagen, nachgerühmt wurde. Es soll sehr schwungvoll gewesen sein, und zweihundert Schlapphüte grüßten Gott zurück. Der Unterrichtsminister gedachte der Fülle von Schönheit, die die Wiener Bevölkerung von der Künstlergenossenschaft empfangen (natürlich ohne Hilfszeitwort) und durch die ihr Dasein voller, ihre tägliche Arbeit froher, ihre Ziele edler geworden. Der Bürgermeister aber, weit entfernt, die Wirkung der Herren Ameseder und Temple auf Wien zu beschränken, erklärte, dass die Kunst gemäß ihrer erhabenen Sendung im ringenden Leben der Menschheit diese über den Alltag, über Not und Tod des Einzelwesens erhebe, den Menschen zum Ebenbilde Gottes erhöhe (im Künstlerhaus hängen solche Ebenbilder Gottes nach Entwürfen von Horowitz und Adams) und ihm im weiteren Verfolg dieser Angelegenheit die edelsten sittlichen Handlungen zum Gebote und demnach dem Gemeinderat die Verleihung der großen goldenen Salvatormedaille zur Pflicht mache. Der Vorstand der Künstlergenossenschaft versetzte darauf, dass die künstlerische Entwicklung von der politischen Freiheit abhänge und dass erst nach Schaffung der Staatsgrundgesetze die »sublimen Wünsche der Wiener Bevölkerung in der Kunst Befriedigung« finden konnten. »Als sich der Zauber ihres Wirkens über die abgebrochenen Festungswälle legte, da habe sich der Schönheitsgeist der Wiener zur Begeisterung entzündet.« Die Kunst aber sei an Voraussetzungen geknüpft, deren Erfüllung in dem einsichtsvollen Wirken jener Männer ruhe, die den Staat zu lenken haben. Die Festversammlung, in der diese Perspektiven feierlich eröffnet wurden, tagte im Parlament, das zur Zeit infolge Verfassungsbruchs an Vereine vermietet wird. Es war sehr heiß im Saal. Es war ein Gedränge von Phrasen, die einander auf die Zehen traten, und da die Phrase ein gestärktes Vorhemd ist vor einer Normalgesinnung, die nie gewechselt wird, so entwickelte sich jene Atmosphäre, in der sich Menschen die Nase zuhalten und Künstler aufatmen. Als dann endlich der Tisch gedeckt war, ging es erst hoch her. Der Vorstand, Professor v. Weyr, der Schöpfer des Monumentalbrunnens »Die Macht zur See«, in welchem ein empörter Hilfsämterdirektor den Dreizack schwingt, erinnerte daran, dass Arbeit des Bürgers Zierde, anderseits aber Segen der Mühe Preis ist, und fuhr fort: »Sie werden uns gewiss berechtigt halten, hochverehrte Herren, den Wert der Kunst hoch einzuschätzen, aber bei aller Wahrung ihres Wertes waren wir doch immer die Empfangenden, wenn wir zu geben glaubten. Was bietet Wien nicht alles unseren Sinnen! Die Lebenswogen einer großen Stadt sind ja immer der Nährboden für die Phantasie des Künstlers. Alle Menschenlose von dem ersten Zittern bis zu den letzten Zuckungen des Herzens berühren ihn, das erste Liebemahnen des zarten Bürgersinnes, wie das Schicksalsdrama des dekadenten Weibes beschwingen seine Träume und wandeln sich zu Bildern in seiner Seele. Aus Spelunken, wie aus lichtumflossenen Gesellschaftsräumen, aus den Quartieren des Elends, wie aus den Regionen, welche die Goldfluten in erzumschmiedeten Räumen bergen, empfängt er den Pulsschlag seines Wirkens und den Lebensodem seines Daseins. Über alle diese Erscheinungen den verklärenden Mantel der Kunst zu breiten, um sie in den alles versöhnenden Begriff ‚Kultur‘ einreihen zu können, ist die Aufgabe, welche die Künstler zu erfüllen haben. Diese Aufgabe weisen Sie uns an, indem Sie uns in Ihre Dienste nehmen und uns betrauen, Paläste zu erbauen, um die menschlichen Schwächen zu umhüllen, Gotteshäuser für die Frommen und Hilfsbedürftigen und Heimstätten für die Arbeitsmüden zu errichten, indem Sie von uns fordern, in unseren Bildwerken Ihnen den Spiegel Ihres Lebens vorzuhalten. Diese Wünsche können wir aber niemals ganz erfüllen, da wir Ihnen immer nur Reflexe unseres künstlerischen Schauens, einen Bruchteil dessen bieten können, was wir aus dem reichen Seelenleben unserer Stadt empfangen haben. In diesem Bruchteile suchen wir jedoch die Vorgänge des Lebens durch die Kunst zu adeln, sie ihrer Niedrigkeit zu entrücken, um das Innenleben unserer Bürger auf seine höhere Bestimmung hinzuweisen. Und welcher Strich der Erde wäre empfänglicher für diese Weisung wie der Wiener Boden, in dem ja alle Schönheitskeime so reiche Nahrung finden? Das Wienerblut ist so von Gott gemischt, dass ….« Das wurde wirklich gesprochen. Es war ein Monumentalbrunnen der Beredsamkeit. Die Vertreter des Wienerbluts, die nicht müde werden, diese ganz besondre Marke zu empfehlen — während es zum Beispiel auffallend ist, dass nie in der Welt vom Pariser- oder Londonerblut die Rede ist —, hatten einen guten Tag. Und doch muss man sagen, dass jedes Blut von Gott gemischt ist und dass vielleicht gerade die slowakisch-bajuvarische Mischung nicht die glücklichste ist und überhaupt einem von Gott gemischten Blut ein mit Gott gemischtes vorzuziehen wäre. Zum Schlusse aber dankte Redner dem Stadtrat und versprach, dass die Verleihung der Salvatormedaille die Künstlergenossenschaft »in dem Bestreben stärken werde, aus den Regungen der Wiener Seele unsterbliche Menschheitswerte zu gewinnen«. Von nun an wollten die Künstler alle Quellen ihrer Phantasie springen lassen. Hier war der Moment gekommen, das Glas auf die Stadt der Blumen und der schönen Frauen, auf ihren wackeren Bürgermeister und ihre pflichtgetreue Stadtvertretung, »diesen Dreibund«, zu erheben. Da aber die Künstler, wie mir einmal ein Hausmeister gesagt hat, speziell »Damenfreunde« sind, so lag es nah, dass ein Baurat auf die Wienerinnen hinwies und unter allgemeiner Zustimmung ein »Poem«, wie die Zeitungen sagen, zum Besten gab, welches die folgenden Verse enthielt:
Im Stadtpark, dem famosen,
Da heben bunte Rosen
Sich ab vom grünen Buchs.
In diesem Blumenleben
Seh’n wir die Wienerin schweben,
Umrauscht von Donauwogen,
Zum Lachen gern bereit.
Das Schöne und das Gute,
Es liegt bei ihr im Blute
Und wallt drin jederzeit.
Die Frage, wo der Stadtpark und wo die Donau ist, und die Feststellung, dass die Wienerin in diesem Blumenleben höchstens von den Wogen des Wienkanals umrauscht sein kann, wäre ein rationalistischer Einwand, der gegenüber der Lyrik immer unstatthaft ist. Nicht verschwiegen darf aber werden, dass der Reim auf Buchs, wiewohl er sich bei dem bekannten Wuchs der Wienerin von selbst ergeben hätte, leider verloren gegangen ist und das Poem mithin nicht so gut gebaut ist wie die Wienerin. »Ausgezogen«, hätte sie zu guter Letzt auch die »Donauwogen« motiviert. Es ist umso bedauerlicher, als die Festgesellschaft in vorgerückter Stunde für die leiseste Anspielung auf etwas, was zum Anhalten ist, dankbar gewesen wäre, während sie den mehr metaphysischen Vorzügen der Wienerin, nämlich, dass das Schöne und das Gute drin jederzeit wallt, weniger Verständnis entgegenbrachte. Mindestens aber hätten sich, da schon einmal mit Schiller begonnen wurde, als Abschluss des Gedichtes die Verse empfohlen: Und füget zum Guten den Glanz und den Schimmer — Gehn’s weg, Sie Schlimmer! … Es waren schöne Tage. Ganz Wien war auf den Beinen. Als die Concordia fünfzig Jahre alt wurde — das gefährliche Alter, in dem eine à tout prix von den Spitzen der Behörden befriedigt werden muss —, war das Aufsehen nicht halb so groß. Das ist erklärlich. So schreiben wie die von der Concordia kann jeder Mensch in Wien. Aber so malen wie die von der Künstlergenossenschaft — dazu muss man schließlich doch bei Griepenkerl studiert haben!
11. Februar 2012 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Journalisten
DIE FACKEL
Nr. 256. 5. Juni 1908. X. Jahr. S. 28 Tagebuch
Ist Schriftstellerei nicht mehr als die Fertigkeit, dem Publikum eine Meinung mit Worten beizubringen? Dann wäre Malerei die Fertigkeit, eine Meinung in Farben zu sagen. Aber die Journalisten der Malerei heißen eben Anstreicher. Und ich glaube, dass ein Schriftsteller jener ist, der dem Publikum ein Kunstwerk sagt. Das größte Kompliment, das mir je gemacht wurde, war es, als mir ein Leser gestand, er komme meinen Sachen erst bei der zweiten Lesung auf den Geschmack. Das war ein Kenner, und er wusste es nicht. Das Lob meines Stils lässt mich gleichgültig, aber die Vorwürfe, die gegen ihn erhoben wurden, werden mich bald übermütig machen. Ich hatte wirklich lange genug gefürchtet, man werde schon bei der ersten Lektüre ein Vergnügen an meinen Schriften haben. Wie? Ein Aufsatz sollte dazu dienen, dass das Publikum sich mit ihm den Mund ausspüle? Die Feuilletonisten, die in deutscher Sprache schreiben, haben vor den Schriftstellern, die aus der deutschen Sprache schreiben, einen gewaltigen Vorsprung. Sie gewinnen auf den ersten Blick und enttäuschen den zweiten: es ist, als ob man plötzlich hinter den Kulissen stünde und sähe, dass alles von Pappe ist. Bei den anderen aber wirkt die erste Lektüre, als ob ein Schleier die Szene verhüllte. Wer sollte da schon applaudieren? Wer aber ist so theaterfremd, sich vor der Vorstellung zu entfernen oder zu zischen, ehe die Szene sichtbar wird? So benehmen sich die meisten; denn sie haben keine Zeit. Nur für die Werke der Sprache haben sie keine Zeit. Von den Gemälden lassen sie es eher gelten, dass nicht bloß ein Vorgang dargestellt werden soll, den der erste Blick erfasst: einen zweiten ringen sie sich ab, um auch etwas von der Farbenkunst zu spüren. Aber eine Kunst des Satzes? Sagt man ihnen, dass es so etwas gibt, so denken sie an die Einhaltung der grammatischen Gesetze. An die aber muss sich der Schriftsteller nur so halten, wie der Bildhauer für reinen Thon zu sorgen hat. Darin kann man nicht unfehlbar sein, soll es auch gar nicht, denn die Verwendung unreinen Materials kann einem künstlerischen Zweck dienen. Ich vermeide Lokalismen nicht, wenn sie einer satirischen Absicht dienen, der Witz, der mit gegebenen Vorstellungen arbeitet und eine geläufige Terminologie voraussetzt, zieht die Sprachgebräuchlichkeit der Sprachrichtigkeit vor, und nichts liegt mir ferner, als der Ehrgeiz eines puristischen Strebens. Es handelt sich um Stil. Dass es so etwas gibt, spüren fünf unter hundert. Die anderen sehen eine Meinung, an der etwa ein Witz hängt, den man sich bequem ins Knopfloch stecken kann. Von dem Geheimnis organischen Wachstums haben sie keine Ahnung. Sie schätzen nur den Materialwert. Eine platte Vorstellung kann zu tiefster Wirkung gebracht werden; sie wird unter der Betrachtung solcher Leser wieder platt. Die Trivialität als Element satirischer Wirkung: ein Kalauer bleibt in ihrer Hand. Ich schreibe eine Satire über die Geheimniskrämerei einer Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, indem ich ihrer Chiffre Ö. G. Z. B. D. G. Deutungen gebe, die nicht nur jede für sich einen satirischen Sinn haben, sondern durch deren Technik ich eben jenes System der Heuchelei parodiere. Was bleibt davon? Lob oder Tadel eines Buchstabenwitzes. Der Tadel schmeckt noch besser. Ein Holzhacker im Blätterwald wirft mir die Wendung »Brahma um und Brahma auf« vor, als ob sie ein gemeiner Wortspaß sei. An und für sich ist sie es und bliebe es, wenn sie jenem eingefallen wäre. Der Kalauer, als Selbstzweck verächtlich, kann das edelste Mittel einer künstlerischen Absicht sein, weil er der Kontraktion einer witzigen Anschauung am besten dient. Jener derbe Spaß erhellt — ähnlich dem Wort »Der Schmock und die Bajadere« — blitzartig die Verwandlung des Wiener Nachtlebens in einen Esoterikerkultus, bedeutet also ein sozialkritisches Epigramm. Aber dergleichen über dem Stofflichen zu spüren, setzt eben jene literarische Kultur voraus, die man heute im Publikum beinahe so wenig wie bei den Literaten findet.
09. Februar 2012 | Kategorie: Artikel, Journalisten, Notizen aus Medienland
Den Grubenhund hat Karl Kraus 1911 erfunden und apostrophierte damit frei Erfundenes, das die Presse willig aufnahm. Für Karl Kraus war es nicht eine lässliche Sünde, sondern die Regel, dass Alles und Jedes zur Lüge taugt, wie eine große Boulevardzeitung tagtäglich nachweist.
Wenn es dem Esel zu wohl wird, wissen wir, wohin er geht. Der Journalist begibt sich aufs Land, wo tiefentelepsychopathische Abgründe ihn so anziehen, dass er es nicht für sich behalten kann und den durch die tägliche Informationsflut quasi demenzierten Leser für reif genug hält, folgenden, ganzseitigen Artikel ohne Schaden zu überstehen, der hier gekürzt erscheint, um vermeidbaren Schaden abzuwenden.
Kölner Stadtanzeiger 15/16.1.2012
„Tiere berichten mir von Liebeskummer“
Von Brian Schneider
Kommunikatorin Katharina Küsters spricht im Interview mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ über das Schaf Schwarzöhrchen, Telepathie und Hunde-Hobbys. Sogar mit toten Tieren will sie sich unterhalten haben.
Köln. Eine abgelegene Straße in Overath, Blick ins Tal, gepflegte Gärten. Katharina Küsters steht am Eingang ihres Hauses, braune Haare, braune Augen, Brille, ungeschminkt. (…)
Was ist das, Tierkommunikation?
KÜSTERS: Die intuitive Fähigkeit, sich in andere Lebewesen einzufühlen und auf diesem Weg Informationen zu erhalten. Man nennt das auch telepathische Kommunikation.
Wie kann so etwas funktionieren?
KÜSTERS: Das kann im Grunde genommen jeder. Viele Kinder sprechen ja auch mit ihren Tieren, bis die Eltern ihnen das dann irgendwann ausreden.
Küsters hat vier große Beagle: George, Paul, Dana und Liesbeth. Ihrem Mann gehört ein Handwerksbetrieb, das Paar ist kinderlos. Eine Suchanfrage mit dem Stichwort „Tierkommunikation“ bringt bei Google 116 000 Treffer. Sogenannte „Tierkommunikatoren“ gibt es im ganzen Land, mit den unterschiedlichsten Angeboten: telefonische Beratung und simultanes Dolmetschen, Körperscannen, Klangschalenmusik für Tiere.
Was erzählen Ihnen die Tiere?
KÜSTERS: Das ist unterschiedlich. Sie berichten von körperlichen Problemen, Liebeskummer oder ihren Hobbys.
Tiere haben Hobbys?
KÜSTERS: Ja. Mein Hund Paul hat mir berichtet, dass er Sport total doof findet, aber gern wandern geht. Ein Pferd hat mir erzählt, dass es gern nach Löchern im Zaun sucht. (…)
Seit fünf Jahren lässt sich die 34-Jährige in Seminaren und Kursen zur Tierkommunikatorin ausbilden. Allerdings: Letztlich kann sich jeder so nennen. Als Honorar nimmt sie 45 Euro die Stunde, hat nach eigener Aussage etwa 60 Kunden.(…)
Auch die Kölner Polizei hat schon einmal auf übernatürliche Hilfe gesetzt. Nach der N a g e l b o m b e n a t t a c k e i n M ü l h e i m f u h r e n z w e i K r i m i n a l i s t e n d e r S o k o “ S p r e n g s t o f f “ z u e i n e r H e l l s e h e r i n n a c h M ü n c h e n . Außer dass die Frau geheimnisvolle Geräusche auf einem Kassettenrekorder abspielte, brachte die Reise nichts.
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Nehmen wir mal an,dass die Kriminalisten die Seance nicht im ehemaligen Braunen Haus in München abgehalten haben, denn dort hätten sie fündig werden können. Aber bleiben wir bei der Tierkommunikation. Die ließ einen gewissen Dr. Dieter von Schützfeld – mir gleich wie ein Ei dem anderen – nicht ruhen, der, aus dem Nichts ertstanden, sogleich aus den Tiefen der erfundenen Erinnerung seine ganz persönliche Geschichte beitrug zum Leserbetrug, die prompt abgedruckt wurde und die Frage impliziert, wie weit man noch gehen muss, damit es nicht gedruckt wird.
Dr. Dieter von Schützfeld Spechtweg 12
50374 Erftstadt
Tierkommunikation vom 14.1.2012
Sehr geehrte Damen und Herren!
Das klingt ja sehr ungewöhnlich, aber ich kann eine Geschichte dazu beitragen, die ich selbst erlebt habe. Anlässlich der Sturmflut 1962, als Hamburg überschwemmt wurde, war ich bei meiner Oma, die einen einen Papagei besaß. Der konnte tatsächlich sprechen, aber wiederholte eigentlich nur, was man ihm vorsprach. Ich war damals erst 14 Jahre alt, aber weiß noch genau, das der Papagei am 16. Februar als die Flut am höchsten stand und die Deiche nicht mehr hielten, immer wieder „fünfsiebzig“ sagte. Darüber haben wir gelacht und konnten nichts damit anfangen, aber als an den Tagen danach der höchste Pegelstand mit 5,70 m gemessen, wurde uns doch etwas mulmig. Vielleicht ist ja doch etwas dran an der Kommunikation mit Tieren.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Dieter von Schützfeld
06. Februar 2012 | Kategorie: Anthologie der Menschheit, Artikel, Hölderlin, Verdichtetes
In guten Zeiten gibt es selten Schwärmer. Aber wenn’s dem Menschen an großen reinen Gegenständen fehlt, dann schafft er irgend ein Phantom aus dem und jenem, und drückt die Augen zu, dass er dafür sich interessieren kann, und dafür leben.
Reflexion. Von Friedrich Hölderlin
Es gibt Grade der Begeisterung. Von der Lustigkeit an, die wohl der unterste ist, bis zur Begeisterung des Feldherrn, der mitten in der Schlacht unter Besonnenheit den Genius mächtig erhält, gibt es eine unendliche Stufenleiter. Auf dieser auf- und abzusteigen, ist Beruf und Wonne des Dichters.
Man hat Inversionen der Worte in der Periode. Größer und wirksamer muss aber dann auch die Inversion der Perioden selbst sein. Die logische Stellung der Perioden, wo dem Grunde (der Grundperiode) das Werden, dem Werden das Ziel, dem Ziele der Zweck folgt, und die Nebensätze immer nur hinten angehängt sind an die Hauptsätze, worauf sie sich zunächst beziehen, – ist dem Dichter gewiss nur höchst selten brauchbar.
Das ist das Maß Begeisterung, das jedem Einzelnen gegeben ist, dass der eine bei größerem, der andere nur bei schwächerem Feuer die Besinnung noch im nötigen Grade behält. Da wo die Nüchternheit dich verlässt, da ist die Grenze deiner Begeisterung. Der große Dichter ist niemals von sich selbst verlassen, er mag sich so weit über sich selbst erheben, als er will. Man kann auch in die Höhe fallen, so wie in die Tiefe. Das letztere verhindert der elastische Geist, das erstere die Schwerkraft, die in nüchternem Besinnen liegt. Das Gefühl ist aber wohl die beste Nüchternheit und Besinnung des Dichters, wenn es richtig und warm und klar und kräftig ist. Es ist Zügel und Sporn dem Geist. Durch Wärme treibt es den Geist weiter, durch Zartheit und Richtigkeit und Klarheit schreibt es ihm die Grenze vor und hält ihn, dass er sich nicht verliert; und so ist es Verstand und Wille zugleich. Ist es aber zu zart und weichlich, so wird es tötend, ein nagender Wurm. Begrenzt sich der Geist, so fühlt es zu ängstlich die augenblickliche Schranke, wird zu warm, verliert die Klarheit, und treibt den Geist mit einer unverständlichen Unruhe ins Grenzenlose; ist der Geist freier, und hebt er sich augenblicklich über Regel und Stoff, so fürchtet es eben so ängstlich die Gefahr, dass er sich verliere, so wie es zuvor die Eingeschränktheit fürchtete, es wird frostig und dumpf, und ermattet den Geist, dass er sinkt und stockt, und an überflüssigem Zweifel sich abarbeitet. Ist einmal das Gefühl so krank, so kann der Dichter nichts besseres, als dass er, weil er es kennt, sich, in keinem Falle, gleich schrecken lässt von ihm, und es nur so weit achtet, dass er etwas gehaltener fortfährt, und so leicht wie möglich sich des Verstands bedient, um das Gefühl, es seie beschränkend oder befreiend, augenblicklich zu berichtigen, und wenn er so sich mehrmal durchgeholfen hat, dem Gefühle die natürliche Sicherheit und Konsistenz wiederzugeben. Überhaupt muss er sich gewöhnen, nicht in den einzelnen Momenten das Ganze, das er vorhat, erreichen zu wollen, und das augenblicklich Unvollständige zu ertragen; seine Lust muss sein, dass er sich von einem Augenblicke zum andern selber übertrifft, in dem Maße und in der Art, wie es die Sache erfordert, bis am Ende der Hauptton seines Ganzen gewinnt. Er muss aber ja nicht denken, dass er nur im crescendo vom Schwächern zum Stärkern sich selber übertreffen könne, so wird er unwahr werden, und sich überspannen; er muss fühlen, dass er an Leichtigkeit gewinnt, was er an Bedeutsamkeit verliert, dass Stille die Heftigkeit, und das Sinnige den Schwung gar schön ersetzt, und so wird es im Fortgang seines Werks nicht einen notwendigen Ton geben, der nicht den vorhergehenden gewissermaßen überträfe, und der herrschende Ton wird es nur darum sein, weil das Ganze auf diese und keine andere Art komponiert ist.
Nur das ist die wahrste Wahrheit, in der auch der Irrtum, weil sie ihn im Ganzen ihres Systems, in seine Zeit und seine Stelle setzt, zur Wahrheit wird. Sie ist das Licht, das sich selber und auch die Nacht erleuchtet. Dies ist auch die höchste Poesie, in der auch das Unpoetische, weil es zu rechter Zeit und am rechten Orte im Ganzen des Kunstwerks gesagt ist, poetisch wird. Aber hierzu ist schneller Begriff am nötigsten. Wie kannst du die Sache am rechten Ort brauchen, wenn du noch scheu darüber verweilst, und nicht weißt, wie viel an ihr ist, wie viel oder wenig daraus zu machen. Das ist ewige Heiterkeit, ist Gottesfreude, dass man alles Einzelne in die Stelle des Ganzen setzt, wohin es gehört; deswegen ohne Verstand, oder ohne ein durch und durch organisiertes Gefühl keine Vortrefflichkeit, kein Leben.
Muss denn der Mensch an Gewandtheit der Kraft und des Sinnes verlieren, was er an vielumfassendem Geiste gewinnt? Ist doch keines nichts ohne das andere!
Aus Freude musst du das Reine überhaupt, die Menschen und andern Wesen verstehen, »alles Wesentliche und Bezeichnende« derselben auffassen, und alle Verhältnisse nacheinander erkennen, und ihre Bestandteile in ihrem Zusammenhange so lange dir wiederholen, bis wieder die lebendige Anschauung objektiver aus dem Gedanken hervorgeht, aus Freude, ehe die Not eintritt, der Verstand, der bloß aus Not kommt, ist immer einseitig schief.
Da hingegen die Liebe gerne zart entdeckt, (wenn nicht Gemüt und Sinne scheu und trüb geworden sind durch harte Schicksale und Mönchsmoral,) und nichts übersehen mag, und wo sie sogenannte Irren oder Fehler findet, (Teile, die in dem, was sie sind, oder durch ihre Stellung und Bewegung aus dem Tone des Ganzen augenblicklich abweichen,) das Ganze nur desto inniger fühlt und anschaut. Deswegen sollte alles Erkennen vom Studium des Schönen anfangen. Denn der hat viel gewonnen, der das Leben verstehen kann, ohne zu trauern. Übrigens ist auch Schwärmerei und Leidenschaft gut, Andacht, die das Leben nicht berühren, nicht erkennen mag, und dann Verzweiflung, wenn das Leben selber aus seiner Unendlichkeit hervorgeht. Das tiefe Gefühl der Sterblichkeit, des Veränderns, seiner zeitlichen Beschränkungen entflammt den Menschen, dass er viel versucht, übt alle seine Kräfte, und lässt ihn nicht in Müßiggang geraten, und man ringt so lange um Chimären, bis sich endlich wieder etwas Wahres und Reelles findet zur Erkenntnis und Beschäftigung. In guten Zeiten gibt es selten Schwärmer. Aber wenn’s dem Menschen an großen reinen Gegenständen fehlt, dann schafft er irgend ein Phantom aus dem und jenem, und drückt die Augen zu, dass er dafür sich interessieren kann, und dafür leben.
Es kommt alles darauf an, dass die Vortrefflichen das Inferieure, die Schönern das Barbarische nicht zu sehr von sich ausschließen, sich aber auch nicht zu sehr damit vermischen, dass sie die Distanz, die zwischen ihnen und den andern ist, bestimmt und leidenschaftslos erkennen, und aus dieser Erkenntnis wirken, und dulden. Isolieren sie sich zu sehr, so ist die Wirksamkeit verloren, und sie gehen in ihrer Einsamkeit unter. Vermischen sie sich zu sehr, so ist auch wieder keine rechte Wirksamkeit möglich, denn entweder sprechen und handeln sie gegen die andern, wie gegen ihresgleichen, und übersehen den Punkt, wo diesen es fehlt, und wo sie zunächst ergriffen werden müssen, oder sie richten sich zu sehr nach diesen, und wiederholen die Unart, die sie reinigen sollten, in beiden Fällen wirken sie nichts und müssen vergehen, weil sie entweder immer ohne Widerklang sich in den Tag hinein äußern, und einsam bleiben mit allem Ringen und Bitten oder auch, weil sie das Fremde, Gemeinere zu dienstbar in sich aufnehmen und sich damit ersticken.
26. Januar 2012 | Kategorie: Artikel, Jean Paul, Notizen zur Zeit
Anlässlich der großen Stunde des deutschen Parlamentes, das den Einsatz in Afghanistan unter gebetsmühlenartigem Ableiern der unfrommen Lüge verlängerte, dass dort alles bereits viel besser sei, man schließlich auf der Seite des afghanischen Volkes stehe und getragen von der blinden Zuversicht, es werde nicht so schlimm kommen, wie es längst schon ist; anlässlich der Tatsache, dass die Vertreter des Volkes das selbstredend nicht für sich persönlich beschlossen, sondern stellvertretend nur für die Soldaten, die am Hindukusch seit zehn Jahren die Freiheit unter anderem des Herrn Struck verteidigen müssen und die der Mandatsverlängerung vermutlich nicht zugestimmt hätten, da keines der „Kriegsziele“ erreicht wurde und erreicht werden wird; anlässlich der bedeutungsschweren Stunde, da über Leib und Leben immer der Anderen, sowohl der Täter als auch der Opfer, der Krieg weiterhin verhängt wurde; anlässlich dieser traurigen Stunde, da nämlich das Gewissen, auf welches die Abgeordneten im Parlament sich zu berufen geruhten, allein durch die Worte des Herrn Ströbele sich vertreten sehen konnte, seien zwei Kapitel aus alter Zeit zitiert und jenen ins Stammbuch geschrieben, die mit dem Retortenwort „alternativlos“ neuerdings jede Schweinerei glauben rechtfertigen zu können, was nichts anderes beschreibt als eine zivilisierte Form der Menschenverachtung; denn das Land, in das man den Soldaten schickt, wird nicht dasselbe bleiben, und der Mensch, den man schickt, wird nicht derselbe sein, der zurückkehrt. Jean Paul schrieb die Erziehlehre seinerzeit zwar für Fürsten, aber es spräche für Phantasiearmut würde man nicht in den Wirtschaftsbossen und Politkern der Jetztzeit ohne Mühe ihre der Erziehung bedürftigen Nachfolger sogleich erkennen, ungemein erleichtert durch das Trio infernale: Bush, Cheney, Rumsfeld. W.K. Nordenham (Hervorhebungen im Folgenden durch mich)
Jean Paul Richter: Levana oder Erziehlehre – Kapitel 44
Werden Sie gleich mir eine Friedenpredigt vor dem Kriege an den Fürsten, der eben den Brandbrief zum Kriegsfeuer hinwerfen will, etwa so halten: »Bedenk es, ein Schritt über dein Grenzwappen verwandelt zwei Reiche, hinter dir verzerrt sich deines – vor dir das fremde. – Ein Erdbeben wohnt und arbeitet dann unter beiden fort – alle alte Rechtsgebäude, alle Richterstühle stürzen, Höhen und Tiefen werden ineinander verkehrt. – Ein jüngster Tag voll auferstehender Sünder und voll fallender Sterne, ein Weltgericht des Teufels, w o d i e L e i b e r d i e G e i s t e r r i c h t e n, d i e F a u s t k r a f t d a s H e r z . Bedenk es, Fürst! Jeder Soldat wird in diesem Reich der Gesetzlosigkeit dein gekrönter Bruder auf fremdem Boden mit Richtschwert, aber ohne Waage und gebeut unumschränkter als du; jeder feindliche Packknecht ist dein Fürst und Richter, mit Kette und Beil für dich in der Hand! – Nur die Willkür der Faust und des Zufalls sitzt auf dem Doppelthrone des Gewissens und Lichts. – Zwei Völker sind halb in Sklavenhändler, halb in Sklaven verkehrt, unordentlich durcheinander gemischt. – Für höhere Wesen ist das Menschenreich ein gesetz- und gewissenloses, taubblindes Tier- und Maschinenreich geworden, das raubt, frisst, schlägt, blutet und stirbt. – Immerhin sei du gerecht, du lässest doch durch die erste Manifestzeile wie durch ein Erdbeben die gefesselte Ungerechtigkeit aus ihren Kerkern los! A u c h i s t j a d i e W i l l k ü r s o h e r g e b r a c h t g r o ß , d a s s d i r k l e i n e r e M i s s h a n d- l u n g e n g a r n i c h t , u n d g r o ß e n u r d u r c h i h r e W i e d e r h o l u n g v o r d i e O h r e n k o m m e n . Denn die Erlaubnis, zugleich zu töten und zu beerben, schließt jede kleinere in sich. Sogar der waffenlose Bürger tönt in die Miss- und Schreitöne ein, vertauschend alle Lebenspläne gegen Minutengenuss und ungesetzliche Freiheit und von den befreundeten Kriegern als ein halber, von den anfeindenden als ein ganzer Feind behandelt und aufgereizt. Dies bedenke, Fürst, bevor du in die Heuschreckenwolke des Kriegs alles dein Licht verhüllst und in dein bisher so treu verwaltetes Land alle Krieger eines fremden zu Obrigkeiten und Henkern einsetzest, oder deine Krieger ebenso ins fremde!« (Dies hat Karl Kraus sowohl vorgelesen als auch in DIE FACKEL Nr. 443-444 , 1916 veröffentlich.)
Jean Paul Richter: Levana oder Erziehlehre – Kapitel 45
E i g e n t l i c h s o l l t e n u r d a s V o l k – dies könnte man wenigstens einem Erbprinzen erziehend sagen – ü b e r d e n K r i e g m i t e i n e m a n d e r n , d. h. über die Rückkehr in den e r s t e n N a t u r s t a n d, besonders da nur dessen harte Früchte, nicht dessen süße auf dasselbe fallen, a b z u s t i m m e n h a b e n , ob es sich als Totenopfer dem Gewitter und Sturm des Krieges weihe, oder nicht. Es ist schreiend gen Himmel, der noch nicht hört: dass ein Fürst für den Witzstich eines andern Fürsten zwei Völker unter die Streitaxt treiben darf. Man schaudert in der neuern Geschichte über die kleinen Zündruten der Kriegsminen; wie eine Weiber-Stecknadel, ein Gesandtenfinger oft der Leiter eines länderbreiten Gewitters geworden. Wenigstens sollte der Krieg der neuern Zeiten nur die Krieger treffen, nicht die entwaffneten Stände. Sobald der tätigere Anteil der letzten jene beeinträchtigt, z. B. Schießen aus Häusern: so berufen sie sich gern auf das Recht einer Absonderung und bestrafen und bekriegen zugleich; warum soll dann aber der wehrlose Stand ohne die Vorteile doch alle Leiden des bewehrten, die der Plünderung, Gefangennehmung u. s. w., teilen? – Von drei Zeiten muss einmal nach dieser schlechten vierten eine oder jede kommen, damit die Zukunft die Vergangenheit entsündige: dass es entweder Seekriege ohne Kaperbriefe gibt, und zum Landkrieg man sich, als zu einem vielstimmigen und vielhändigen Zweikampfe, in eine Wüste bestellt – oder dass wieder, wie in eingesunknen oder aufgeflognen Republiken, jeder Bürger Soldat, folglich jeder Soldat auch Bürger ist – oder endlich, dass vom Himmel die ewige Frieden-Fahne herunterflattert und über die Erde im Äther weht. –
Mir ist, als wenn Sie oder einer Ihrer Freunde einmal die Geschichte – diesen langen Kriegsbericht und Bulletin der Menschheit – für eine Kriegsansteckung junger Fürsten erklärt hätten. Fast aber wollt‘ ich ihr die Heilung von der Kriegslust anvertrauen. Karl XII. von Schweden wurde schwerlich bloß durch Curtius‘ Leben des Alexanders ruhm- und länderdurstig, da Alexander selber es gewesen, ohne seinen Biographen gelesen zu haben; wie auch Cäsar, der von Curtius nichts gekannt als dessen Helden. An der Geschichte lässt sich eben die Anker- und Klingenprobe des See- und Landkriegsschwertes machen. Sie allein zeigt dem ruhmdürstigen Prinzen, wie wenig bloße Tapferkeit auslange zum Ruhm. D e n n a u f d e r E r d e i s t e i n f e i g e s V o l k n o c h s e l t e n e r a l s e i n k ü h n e r M a n n ; welche Völker der alten und neuen Zeit waren nicht tapfer? Jetzo z. B. fast ganz Europa, die Russen, Dänen, Schweden, Österreicher, Sachsen, Engländer, Hessen, Franzosen, Bayern und Preußen. – Je tiefer Roms freier Geist einsank, desto wilder und kräftiger hob sich der tapfere empor; Katilina, Cäsar, August hatten siegende Knechte. Die häufige Bewaffnung der alten Sklaven (wie in der neuern die der Bettler) beweiset gegen den Wert der gemeinen Faust- und Wunden-Tapferkeit. Der Athener Iphikrates sagte: raub- und lustgierige Soldaten sind die besten; und der General Fischer setzte dazu: Landstreicher. – Kann ein Fürst in die Nachwelt mit nichts als mit den schönen Tigerflecken der Eroberer strahlen wollen, womit ihn die Timurs, Attilas, Dessalines und andere Geißeln Gottes oder Knuten des Teufels überbieten? – Wie kalt geht man in der Geschichte über die unzähligen Schlachtfelder, welche die Erde mit Todes-Beeten umziehen! Und mit welchen Flüchen eilt man vor der Krone vorüber, welche, wie sogenannte Ajüstagen oder Blechaufsätze nur auf dem fortsprützenden Wasserstrahl der Fontänen, ebenso nur auf empor- springenden Blutströmen in der Höhe sich erhalten! Wo aber einige Helden davon ein ewiger Nachschimmer überschwebet, wie Marathons Ebene, Thermopyläs Tiefe: da kämpften und opferten andere Geister; – himmlische Erscheinungen, der Freiheit-Mut. U n d w e l c h e r E i n z e l n e i n d e r G e s c h i c h t e g r o ß d a s t e h t u n d i h r e R ä u m e er f ü l l t , d e r t u t e s n i c h t a u f e i n e r P y r a m i d e v o n T o t e n k ö p f e n a u s S c h l a c h t e n , s o n d e r n e i n e g r o ß e S e e le s c h w e b e t , w i e di e G e s t a l t e i n e r ü b e r i r d i s c h e n W e l t , v e r k l ä r t i n d e r N a c h t u n d b e r ü h r t S t e r n e u n d E r d e .
25. Januar 2012 | Kategorie: Artikel, Richard Schuberth, Über Karl Kraus
Richard Alexander Schubert ist Schriftsteller – unter anderem – und lebt in Wien. Die Lektüre seiner Schriften sei dem empfohlen, der den Kopf nicht nur als Huthalter oder Frisierobjekt missbraucht. Der erste Text, dem weitere folgen werden, wird hier mit seiner ausdrücklichen Genehmigung abgedruckt. Er entstammt dem Buch
Richard Schuberth 30 Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus
238 S. , EUR 24,-
Broschur mit Fadenheftung
ISBN 978-3-85132-531-7, 2008
Wie Karl Kraus zitiert Richard Schuberth gern Denker und Zeitgenossen, um das Wort von dem aus Geistverlassenheit erstandenen Unwort zu scheiden. Auf diese Weise kommt sogar der Literaturfatzki Reich-Ranicki zu zweifelhafter Ehre, dem nicht nur das zu erwartende Missverständnis unterläuft, Karl Kraus zum Schriftsteller zu pejorisieren, sondern der darüber hinaus auch die Unverfrorenheit besitzt, ihm eignende Charaktereigenschaften flugs jenem zuschreiben zu wollen. Man bleibt unentschieden, ob Bösartigkeit und Verlogenheit ihn trieben oder ob, angesichts des ersichtlichen Versagens im Vergleich zu Karl Kraus, nur ein schlechtes Gedächtnis unterstellen ist. Wünschte er sich doch weiland laut Fersehinterview in der Nachfolge begriffen zu sehen von Tucholsky ( wie das?), Alfred Kerr (schon besser) und Karl Kraus(Chuzpe). Den letzten Namen sprach er nach meinem Gedächtnis etwas leiser, damit jener ihn nicht etwa doch gehört und einen Bannstrahl herabsandt hätte.
Richard Schuberth beleuchtet in 30 Versuchen zur Anstiftung das Verhältnis der Person Karl Kraus zu verschiedenen kultur- und gesellschaftspolitischen Themen seiner Zeit wie etwa dem Nationalsozialismus, den »Psychowissenschaften«, Journalismus, Satire, Frauen und Sexualität.Die Essays unterstreichen dabei die Bedeutung Kraus’ als Vordenker der Kritischen Theorie sowie die Wichtigkeit seiner Sprachkritik für zeitgenössische Gesellschaftskritik – »Kraus verstehen lernen hieße in der Sprache denken lernen – und nicht nur mit ungeahnten Schätzen belohnt werden, sondern dort, im sprachlichen Denken, vielleicht das letzte wehrhafte Asyl einer Individualität zu finden, die diesen Begriff einzig verdiente.« (Richard Schuberth)
Karl Kraus und die Eitelkeit
„Eitelkeit und Geltungssucht dieses Schriftstellers kannten keine Grenzen, sein Ehrgeiz wurde nur von seiner Selbstgerechtigkeit übertroffen.“ Marcel Reich-Ranicki
„Wenn es die Welt tadelt, dass ich zu viel über mich selbst rede, so tadle ich, dass diese nicht einmal über sich selbst denkt.“ Michel de Montaigne
Reflex der Eitelkeit
Die Welt, die im Gewande lebt,
nach Genuss und Gewinn und nach Würden strebt,
an der Macht und am Schein, an der Meinung klebt,
ihr Nichts erhebt und vor nichts erbebt
und sich dünkt der Schöpfung Scheitel –
sie sagt, weil ich sah, wie sie, diese Welt,
sich täglich mit sich zufrieden stellt
und sich weitaus besser als mir gefällt,
der sie nicht für die beste der Welten hält:
ich sei eitel. Karl Kraus
„Er war sich das Maß aller Dinge, musste sich das wohl sein, um als orthodoxer Einzelgänger sein Gleichgewicht unerschüttert zu bewahren.“ Alfred Polgar
Es gibt wohl keinen Vorwurf, der das Prinzip der Gegenprojektion in seiner Banalität dermaßen bestätigt, so sehr auf die Vorwerfer zurückfällt wie der der Eitelkeit. Der Eitelkeit, der Egomanie, des Narzissmus. Eine narzisstisch gestörte Gesellschaft muss ihre zwanghafte Sucht nach wechselseitiger Bestätigung, im Drängeln um knappe Güter wie Geltung und Kapital, als sozialen Sinn tarnen, um jeden, dem genug Kraft und Geist geblieben ist, sich dieser Konformität zu entziehen, mit der Eitelkeitskeule zu prügeln. In Abwandlung von Nietzsches Aphorismus sind es interessanterweise nicht die, welche das Licht suchen, um besser gesehen zu werden, sondern immer die, welche besser sehen wollen, denen man Selbstsucht vorwirft. Und wer das Spiegelkabinett der gegenseitigen Anerkennung, in das jegliche gesellschaftliche Ideologie ihre Zerrbilder wirft, zerbricht, der kann dies wohl nur tun – zu mehr reicht der psychologisierende Alltagsverstand nicht –, um sich in sich selbst zu spiegeln. Wer es nicht nötig hat, uns zu genügen, der genügt sich folglich selbst. Dass solch einer oder eine aber ganz anderen Werten, Idealen und Prinzipien genügen will als sich selbst, um eben diese – und mit ihnen sich – vor der Beschmutzung durch falschen sozialen Konsens zu retten, muss einer Gesellschaft, die keine Triebfeder mehr kennt als den Eigennutz, suspekt sein. Nichts erscheint ihr eitler als der freiwillige Verzicht auf Eitelkeit, der uns zu jener unbequemen Wahrhaftigkeit führen könnte, wo wir womöglich nicht mehr verstanden und lieb gehabt werden. Theodor Adorno beschreibt das Missverstehen solch eines Renitenten in seiner „Minima Moralia“: „Um nicht unter die Räder zu kommen, muss er die Welt an Weltlichkeit umständlich überbieten und wird des ungeschickten Zuviel leicht überführt. Argwohn, Machtgier, Mangel an Kameradschaft, Falschheit, Eitelkeit und Inkonsequenz lassen sich zwingend ihm vorhalten. Gesellschaftliche Zauberei macht unausweichlich den, welcher nicht mitspielt, zum Eigennützigen, und der ohne Selbst dem Prinzip der Realität nachlebt, heißt selbstlos.“
Wirklich kritischer Instinkt sucht und findet Selbstlosigkeit aber immer dort, wo höchste Selbstsucht vermutet wird. Bei tieferer Betrachtung entpuppt sich zum Beispiel das frivole Posieren eines Oscar Wilde als zielgenaue Provokation einer heuchlerischen Bürgerwelt, die ihren ökonomischen Egoismus mit einer moralistischen Verachtung alles Dekadenten zu bemänteln versuchte. Nicht anders, wenn sich Kraus einmal selbstironisch „vielgeliebter, schöner, grausamer Mann“ nannte, was die narzisstischen Dummköpfe heute noch bei ihrer Suche nach Beweisen für seinen Narzissmus für bare Münze nehmen. Gerade hinter Wildes Anmaßungen wird man eine selbstvergessene Humanität finden, die all den falsch Bescheidenen die Schamesröte ins Gesicht triebe, brächten sie nur einen Teil davon auf.
Wer nicht mitspielt, ist eitel! Sucht er nach Verständnis, ist das pure Eitelkeit, verzichtet er darauf, erst recht! Selbst die Schüchternheit des Einzelgängers in der letzten Reihe wurde noch in jeder Schulklasse als Arroganz missverstanden; so bekundet der Mehrheitskonsens seine gefährliche Unsicherheit gegenüber der Minorität.
Ambrose Bierce (1842–1913), jenes amerikanische Pendant zu Karl Kraus, definierte in seinem „Devil’s Dictionary“ den „Egoisten“ als „Person minderen Geschmacks, mehr an sich als an mir interessiert“. Und entlarvte den Wunsch nach Bestätigung als den wahren Egoismus. Dieser Wunsch wäre eine sympathische menschliche Schwäche, knüpfte sich an ihn nicht so viel ideologische Konformität. Doch Karl Kraus ist nur insofern an sich interessiert, als er sich zum Prisma seiner Gesellschaftskritik macht: „Ich spreche von mir und meine die Sache. Sie sprechen von der Sache und meinen sich.“
Wem Stil über Mitteilung geht, ist eitel?
Mit dem Vorwurf der Selbstverliebtheit hatte Kraus sein Leben lang zu kämpfen, doch er wuchs an ihm und bescherte der Nachwelt die wohl scharfsinnigsten Reflexionen zum Thema. Gerade im geistigen Schöpfungsakt funktioniert die Retournierung des Eitelkeitsvorwurfs bestens. „Eitel ist bloß die Zufriedenheit, die nie zum Werk zurückkehrt.“ Denn: „Ein guter Stilist muss bei der Arbeit die Lust eines Narzissus empfinden. Er muss sein Werk so objektivieren können, dass er sich bei einem Neidgefühl ertappt und erst durch Erinnerung draufkommt, dass er selbst der Schöpfer sei. Kurzum, er muss jene höchste Objektivität bewahren, die die Welt Eitelkeit nennt.“ So hart an Werk, an Gedanke und Stil zu arbeiten, dass diese würdig werden, sich in sie zu verlieben, ist nicht Hybris, sondern höchste ethische Maxime, ein dermaßen selbstloser Weihedienst am Stoff, dass zur Belohnung auch ein paar Brosamen fürs Ego abfallen. Eitelkeit, für eine höhere Sache gebändigt, wie ein Pferd vor die Kutsche gespannt, hat sich den Hafer brav verdient. Wir hingegen spannen Sache wie Sprache gleich Ackergäulen vor unser Selbst, das wegen als Menschenliebe getarnter Eigenliebe dem stallwarmen Konsens keinesfalls davonpreschen darf – ganz gleich ob wir kommunikativ oder objektiv sein wollen, und beschimpfen jene als eitel, die des Stalls nicht bedürfen.
Kraus will nicht sich, sondern der Sprache gefallen, im Vergleich zu jenen, die Sprache wie Sache nur dazu missbrauchen, um überhaupt „Ich“ zu sagen.
„Ich spreche nie von mir“, bekennt er, „sondern an mir von der Sprache. Ich habe nie einen Satz über mich geschrieben, ohne selbst noch an diesem Stilproblematisches zu erörtern. Ich bin nur das nächstbeste Beispiel für mich. Das nächste, wie ich selbst zugeben muss, das beste, wie auch mein Kritiker zugibt. (…) Ich sagte einmal, dass, ‚wer mit einer Sache verschmolzen ist, immer zur Sache spricht und am meisten, wenn er von sich spricht’. Dass, ‚was sie Eitelkeit nennen, jene nie beruhigte Bescheidenheit ist, die sich am eigenen Maß prüft und das Maß an sich, jener demütige Wille zur Steigerung, der sich dem unerbittlichsten Urteil unterwirft, welches stets sein eigenes ist’.“
Wer auf Ruhm, aber nicht auf Ehre verzichtet, ist eitel?
Niemand hat die intellektuellen Eitelkeiten seiner Zeit so gekränkt wie Karl Kraus, zumal er sich die Objekte seiner Satire nicht einmal als Personen, sondern als Marionetten allgemeiner Missstände vornahm – und zu allem Überdruss mit keiner Zeile auch nur den geringsten Zweifel offen ließ, dass seine Kritik, welche Anhänger ebenso wenig schonte wie Gegner, nicht von persönlicher Ranküne, sondern ethischem Ernst angetrieben wurde. Wie aber, so fragten sich die, welche letztlich nur ihr eigenes Süppchen kochten, konnte er, der sich anmaßte, den Zeitgeist in brodelnder Sintflut zu ertränken, dermaßen konsequent auf Anerkennung verzichten, wenn nicht aus purer Selbstgerechtigkeit. Wer seinen Inhalten nichts entgegenzusetzen wusste, musste sich mit Psychologie, jener Religion der Kleingeister, behelfen und narzisstische Störung an ihm diagnostizieren. Und gemäß dem Axiom der bürgerlichen Bewusstseinsindustrie, dass, worüber nicht berichtet wird, nicht existiert, mehr noch, nicht existieren darf, griff diese zu ihrer effektivsten Waffe: Totschweigen! Ihre Vertreter hielten dieses aber weniger aus als er und schlugen zumeist mit Anspielungen zurück, oft ohne Nennung seines Namens, und wenn doch, dann ohne Nennung des eigenen. Anspielungen auf seinen Misswuchs oder seine jüdische Herkunft reichten aber nicht an die Häufigkeit heran, mit der seine Eitelkeit verspottet wurde. Auf seine indirekten Kritiker traf zu, was der Dichter und Philologe Friedrich Wilhelm Riemer (1774–1845) auch den anonymen Internet-Postern unserer Tage auf den Leib geschrieben haben könnte: „Ein offener, dem Gesicht sich stellender Gegner ist ein ehrlicher, gemäßigter, einer mit dem man sich verständigen, vertragen, aussöhnen kann; ein versteckter hingegen ist ein niederträchtiger, feiger Schuft, der nicht so viel Herz hat, sich zu Dem zu bekennen, was er urtheilt, dem also nicht ein Mal etwas an seiner Meinung liegt, sondern nur an der heimlichen Freude, unerkannt und ungestraft sein Müthchen zu kühlen.“
Karl Kraus charakterisierte die übliche Kritik an seiner Kritik folgendermaßen: „Die Schwäche sieht sich im Spiegel und wirft ihn wütend nach mir und hofft, nun werde es mein Bild sein. Weil mich der Spiegel getroffen hat. (…) Die von mir gekränkte Zeit nimmt das nächste Wort, das ihr zur Hand, als Wurfgeschoß. Mir hat noch nie ein anderes Echo geantwortet, als der unartikulierte Aufschrei.“ Zu dieser Abfolge von Aufschrei und Totschweigen schuf er in der „Fackel“ eine Gegenöffentlichkeit, indem er jeden seiner Auftritte sowie manche publizistische, zumeist aus dem Ausland kommende Reaktion auf sein Wirken dokumentierte – für seine Feinde einmal mehr Beweis seiner Egomanie. Eine der letzten, aber gründlichsten und souveränsten Stellungnahmen zum Eitelkeitsvorwurf gab er 1926 im Text „Ich und Wir“ ab.
„Die Verbreitung des Rufs meiner Eitelkeit, die eine der stärksten Sicherungen gegen die Verbreitung meines Werks bildet, ist die Parole, auf die sich die Würdenträger der geistigen Zentren des deutschen Sprachgebiets geeinigt haben, und sie begründen sie damit, dass ich in Ermangelung ihrer guten Nachrede eben selber von mir spreche.
Aber wenn sie einen freien Augenblick hätten, um einmal nicht zu lügen, müssten sie zugeben, dass ich schon wegen der größeren Unbeliebtheit ein interessanteres Thema bin als sie; dass der, der nur aus sich selbst besteht, es schwerer hat, bei der Betrachtung der Welt von sich abzusehen, als einer, der aus nichts besteht; und dass, was bei mir herauskommt, allgemeiner ist, als wenn die Journalisten von der Welt sprechen, und persönlicher, als wenn sie von sich selbst zu sprechen anhüben. (…) Der der Sache mit seiner Person dient und vor sie tritt, um für sie einzutreten, ist selbstgefällig in den Augen solcher, die ihrer Person mit einer Sache dienen, sie um persönlicher Ziele willen verfolgen, mithin allen Grund haben, ihr dürftiges Ich hinter ihr zu verbergen und denen es auch mühelos gelingt. Sie sind so bescheiden, sich in ein »Wir« zu multiplizieren, das Sicherheit, Kredit und Machtzuwachs gewährt. Sie finden es schicklich, mit ihrer Persönlichkeit hinter den Dreck, den sie schreiben, zurückzutreten — mit Recht, denn wer wollte da auch hineintreten? Außer mir, dem vor nichts graust und der mit seinem Ich noch solche Spur verfolgt! Aber ist dieses Ich nicht gemeinschaftlicher als jenes Wir? (…)
Spiegle ich mich in diesen Erscheinungen oder lasse ich nicht vielmehr sie in mir sich spiegeln? Ist da nicht eine Phrase gegenteiligen Sinnes als Vorwurf gegen mich erstanden, wenn sie sagen, ich spräche von mir selbst, während ich doch eigentlich nichts tue als dass ich von der Welt spreche und dabei allerdings unaufhörlich Gott danke, dass ich nicht bin wie jene – ein Stoßgebet, bei dem ich wohl kaum von meiner Person ganz abstrahieren könnte. Meine Eitelkeit, die ich in gewisser Hinsicht zugebe, ist somit keine solche, die auf irdische Erfolge abzielt, sondern vielmehr eine, die sich in dem Verzicht auf Ehren, welche mir nicht gebühren, genugtut, also die rechte Bescheidenheit, ja wahre Demut, die weiter herauszustreichen ich unterlassen muss, weil es mir den Vorwurf der Eitelkeit eintragen würde.“
Wer der Schwäche, es sich in und mit der Gesellschaft zu richten, widersteht, wird zuerst als Versager gebrandmarkt, und kann er glaubhaft machen, dass er nicht aus Schwäche dieser Schwäche nicht erliegt, als größenwahnsinniger Egomane. „Ich habe mich im Laufe der Jahre zum Streber nach gesellschaftlichen Nachteilen entwickelt“, schreibt Karl Kraus im Jahre 1908 kokett. „Ich lauere, spüre, jage, wo ich eine Bekanntschaft abstoßen, eine einflussreiche Verbindung verlieren könnte. Vielleicht bringe ich’s doch noch zu einer Position.“ Solch Unverfrorenheit, die vor keinem gesellschaftlichen Vorteil, vor keiner Mode das Knie beugt, aber vor dem Ideal kritischer Wahrheit sich demütig in den Staub wirft, die sich von dem, was schlechthin ist, zugunsten dessen, was sein könnte, nie beeindrucken lässt, ist heute undenkbarer als je. Wie damals in der Schule verhält es sich auch jetzt auf dem Bewusstseinsmarkt – ganz gleich, ob links oder rechts: Wer das Konsumangebot an Identitäten verschmäht, kommt sich als was Besseres vor, und behält Recht, wenn die Ich-AGs sich seinen Verzicht auf Eigennutz nicht anders denn als Eigennutz der Selbsterhöhung erklären können. Karl Kraus sprach in Anlehnung an die Worte Montaignes und in dem Wissen, dass jede Stellungnahme zu solchen Vorwürfen als Verteidigung, folglich als Schwäche, folglich als Eitelkeitsproblem ausgelegt würde, ein Machtwort: „Wenn einer es tadelt, dass ich eitel bin, so tadle ich, dass er ein Trottel ist.“