Sein oder Design ist nicht mehr Frage, sondern schon Antwort. So schafft die entstellteste Menschheit das höchste Bruttosozialprodukt.

Kraus, Heine und die Folgen. Von Richard Schuberth

29. Februar 2012 | Kategorie: Artikel, Heine und die Folgen, Richard Schuberth

Richard Alexander Schubert ist Schriftsteller – unter anderem –  und lebt in Wien. Die Lektüre seiner Schriften sei dem empfohlen, der den Kopf nicht nur als Huthalter oder Frisierobjekt missbraucht. Der  Text wird hier mit seiner ausdrücklichen Genehmigung abgedruckt. Er entstammt dem Buch

Richard Schuberth                                                                                      30 Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus

238 S. , EUR 24,-
Broschur mit Fadenheftung
ISBN 978-3-85132-531-7, 2008

Kraus, Heine und die Folgen

Was will die einsame Träne? Was will ein Humor, der unter Tränen lächelt, weil weder Kraft zum Weinen da ist noch zum Lachen?

Karl Kraus

Wahrheit im Fühlen und Denken hilft einem sehr viel in der Prosa, dem Lügner wird der gute Stil sehr erschwert.“

Heinrich Heine

Nichts ist törichter als die Frage, welcher Dichter größer sei als der andere. Flamme ist Flamme, und ihr Gewicht lässt sich nicht bestimmen nach Pfund und Unze. Nur platter Krämersinn kommt mit einer schäbigen Käsewaage und will den Genius wiegen.

Heinrich Heine

Wohl aber lässt sich qualifizieren, ob eine Flamme erleuchtet und brennt oder nur das begeisterte Blitzen und rebellische Funkeln der Dichteraugen illuminiert. Das zeigt Karl Kraus in seinem Essay „Heine und die Folgen“ aus dem Jahr 1910, und wer wie ich mit Heine sozialisiert wurde, der schützt sich gegen Kraus’ Kritik zunächst mit dem vorgedruckten Katalog der Unterstellungen, die von pedantisch bis besserwisserisch, von narzisstisch bis gehässig reichen – und wird an der stilistischen und ethischen Autorität dieses wundersamen Stücks Literatur resignieren, weil er mit Kieseln gegen einen Felsblock wirft. Nie wurde die Forderung, wer kritisiert, solle Besseres liefern, besser erfüllt als durch Kraus’ Kritik an Heine. Es ist sogar unbedingt von dessen Lektüre abzuraten, und wer es nicht lassen kann, sollte sich zumindest mit den Brech- oder Abführmitteln seiner Vorurteile vor ihrem Verständnis schützen. Denn es lässt sich keines seiner Argumente widerlegen, und selbst wenn, gäbe es keine Sprache, die es mit der seinen aufnehmen könnte. Nicht einmal zu kennen braucht man das Objekt seiner Kritik, Heinrich Heine. Was Kraus kritisierte, ist allgemein gültig, und wer „Heine und die Folgen“ wirklich verdaut hat, dem wird danach ein Großteil seiner kulturellen Lieblingskost, mit oder ohne Heine, kaum noch schmecken. Die formblinde Halbbildung, die in Kunst nur den Inhalt wahrnimmt und folglich Kraus und Heine als Geistesverwandte missversteht, mag in Kraus’ Kritik an Heine nur Stutenbeißerei vermuten.

Der Linken ist der Marx-Intimus und Verfasser der „schlesischen Weber“ wie die Ernst-Busch-Platte und der Che-Poster Requisite der eigenen Gesinnung. Für sie ist Literatur nicht interessant, weil sie gut ist, sondern weil der Autor in Spanien gekämpft hat oder Kirgise ist. Doch über die Kritik der Gesinnungsliteratur wurde in vorangegangenen Artikeln genug gesagt. Vielmehr interessiert die ungebrochene Tradition einer kulturindustriellen Heine-Verehrung, die seit 1910 das immer gleiche Gesicht zeigt, und im Jahr 2006 am authentischsten das von Marcel Reich-Ranicki annimmt, der im Fernsehen Heine zum größten deutschen Dichter hochkrächzt, nicht ohne nachzubelfern, dass „der Kraus“ ja nur neidisch war, weil er nicht konnte, was Heine konnte. Liest man „Heine und die Folgen“, kommt man zur überraschenden Einsicht, dass Reich-Ranicki zumindest in Letzterem Recht hat, ja Kraus gar nicht können wollte, was Heine konnte.

Bis zu diesem Text brachte Kraus Heine unschlüssiges Wohlwollen entgegen. 1906 schrieb er in der „Fackel“ noch: „Wir wollen nicht ungerecht gegen ihn werden, weil uns seine Grazie amoralischer Tugend heute im Zerrbild journalistischer Verkommenheit entgegentritt, weil seine künstlerischen Vorzüge an den Nachfolgern als sittliche Mängel wirken, an seinen künstlerischen Mängeln eine Generation schmarotzt, die noch immer unter Heines Tränen lächelt.“ Doch seine Redlichkeit gebietet Kraus, den jüdischen Kosmopoliten Heine gegen die Kritik der Bodenständigen zu verteidigen und mit der seinen erst anzusetzen, „nachdem man alle Urteutonen, die ihm die Denkmalswürdigkeit absprechen, beleidigt hat. Denn man baut aus deutschen Eichen keine Galgen für die Reichen, auch nicht für die Geistreichen.“

Vier Jahre später ahndet er die Konsequenzen schon am Urheber selbst, Heine sei es gewesen, der „der deutschen Sprache so sehr das Mieder gelockert hat, dass heute alle Kommis an ihren Brüsten fingern können“. Er klagt ihn als geistigen Ahnvater des Feuilletonismus an, der Ästhetisierung des Journalismus und der Journalisierung der Literatur, als Schutzheiligen all derer, die die Untugend, es sich in Sprache und Denken zu leicht zu machen, als Leichtigkeit feiern. Unter Kraus’ Lupe entlarvt sich Heine als der talentierte Poseur, als den ihn das geistige Bildungskleinbürgertum seit 150 Jahren bewundert, weil er ihnen romantisches Draufgängertum und flotten Rebellengeist vorgaukelt, die sie gerade noch selbst fertig brächten, ohne ihre fragilen Ego-Anmaßungen – die Bedingung jeglicher Erkenntnis – warten zu müssen. Sein Werk, so Kraus, führe „in unterirdischen Gängen direkt vom Kontor zur blauen Grotte“, oder aktualisiert: vom Kulturmanager- respektive Redakteursbüro direkt zu der berechneten Melancholie eines Truffautfilms oder dem glatten Zynismus von Harald Schmidts Late-Night-Show. Heine ist ewige Adoleszenz, weshalb er bei der Jugend und jenen so beliebt ist, welche das Erwerbsinteresse in unabgeschlossener Adoleszenz festfror. „Man hatte Masern, man hatte Heine, und man wird heiß in der Erinnerung an jedes Fieber der Jugend. Hier schweige die Kritik. Kein Autor hat die Revision so notwendig wie Heine, keiner verträgt sie so schlecht, keiner wird so sehr von allen holden Einbildungen gegen sie geschützt, wie Heine. (…) So kommt der Tag, wo es mich nichts angeht, dass ein Herr, der längst Bankier geworden ist, einst unter den Klängen von ‚Du hast Diamanten und Perlen’ zu seiner Liebe schlich. Und wo man rücksichtslos wird, wenn der Reiz, mit dem diese tränenvolle Stofflichkeit es jungen Herzen angetan hat, auf alte Hirne fortwirkt und der Sirup sentimentaler Stimmungen an literarischen Urteilen klebt.“

Lächeln unter Tränen

Heines Tränen, wirft ihm Kraus vor, hätten kein Salz und sein Witz keinen Boden. Alles, was Kraus heilig ist, Empfindung, Anschauung, Kritik, Witz und – Sprache, gebrauche Heine zum Dekor seiner Person, die Kraus zufolge erst zur Persönlichkeit reifte, wenn sie sich diesen Heiligtümern unterwürfe. Auch Oscar Wilde und Peter Altenberg sind eitle Gecken, doch in ihrer Egomanie spiegelt sich die Welt, während Heine dieser stets sein Spiegelbild aufdrängt. Auch Nestroy witzelt, doch in seinen Witzen lachen die Widersprüche der Gesellschaft, welche Heine bloß verlacht. Womit sich die in ihrer persönlichen Souveränität unsichere Nachwelt lückenlos identifizieren kann und ihn als den lässigen Überwinder der sperrigen Klassiker wie Goethe feiert. „Dass, wer nichts zu sagen hat, es besser verständlich sage, diese Erkenntnis war die Erleichterung, die Deutschland seinem Heine dankt nach jenen schweren Zeiten, wo etwas zu sagen hatte, wer unverständlich war.“ Präzise erhellt Kraus den Unterschied zwischen Lyrik, die die Dinge sprechen lässt, und solcher, die über die Dinge spricht: „Wie über allen Gipfeln Ruh’ ist, teilt sich Goethe, teilt er uns in so groß empfundener Nähe mit, dass die Stille sich als eine Ahnung hören lässt. Wenn aber ein Fichtenbaum im Norden auf kahler Höh’ steht und von einer Palme im Morgenland träumt, so ist das eine besondere Artigkeit der Natur, die der Sehnsucht Heines allegorisch entgegenkommt.“

Heines Beliebtheit liegt in seiner Gefälligkeit begründet, in einer Lyrik, „in der die Idee nicht kristallisiert, aber verzuckert wird“, in einem Witz, der im Gegensatz zum Nestroy’schen Humor „mit der Welt läuft, der sie dort traf, wo sie gekitzelt sein wollte, und dem sie immer gewachsen war“ – und in der augenzwinkernden Legerheit, die keck von einem Thema zum anderen hüpft und sich das als Überschmäh verbuchen lässt. Kraus sieht darin lediglich Unfähigkeit zur Komposition und geistige Kurzatmigkeit – jenen kurzen „Atem, der in einem Absatz absetzen muss, als müsste er immer wieder sagen: so, und jetzt sprechen wir von etwas anderm. Wäre Heine zum Aphorismus fähig gewesen, zu dem ja der längste Atem gehört, er hätte auch hundert Seiten Polemik durchhalten können.“

Stilkunde als Charakterkunde?

Auf rutschigen Boden begibt sich Kraus, wenn er vom Stil des Autors auf dessen Charakter schließt, doch überzeugt er auch dort mit unerwarteter Trittsicherheit. Seine Charakterologie setzt zunächst bei falschen Gefühlen und falscher Aufklärung an. Wenn Heine zum Beispiel die Erbauung einer jungen Dame beim Betrachten des Sonnenuntergangs entmystifizieren will – „Mein Fräulein, sein Sie munter, / Das ist ein altes Stück; / Hier vorne geht sie unter, / Und kehrt von hinten zurück.“ – dann kommt ihm Kraus schnell auf die Schliche: „Der Zynismus Heines steht auf dem Niveau der Sentimentalität des Fräuleins. Und der eigenen Sentimentalität.“ Heine gefällt sich als der ironische Überwinder der Romantik und ihrer Wirklichkeitsverweigerung. Doch Kraus weist ihm nach, dass er sie keinesfalls überwindet, sondern bloß ihre billigste Emotionalität in sich erhält und sie, sobald er sich dabei erwischt, an anderen verspottet. Kraus würde nie Romantik gegen Realismus oder etwa Naturlyrik gegen das politische Gedicht ausspielen. Ob so oder so, Literatur sollte tiefes Empfinden mit tiefem Denken vereinen, die Qualität ihrer Sprache ist ihr Senkblei.

Heine wurde oft ein brüchiger Charakter attestiert. Niemals hätte ihm Kraus das zum Vorwurf gemacht, wohl aber, dass er die Brüche dieses Charakters selten zu künstlerischer Stärke genutzt, sondern mit der Ironie der Beiläufigkeit überpudert hat.

In Anspielung auf den Publizisten Maximilian Harden hatte Kraus geschrieben: „Dass einer ein Mörder ist, muss nichts gegen seinen Stil beweisen. Aber der Stil kann beweisen, dass er ein Mörder ist.“ Wie Harden die Homosexualität des Fürsten Eulenburg denunzierte, so hatte Heine zwei Generationen zuvor die homosexuellen Neigungen des Dichters August Graf von Platen verspottet.

„Die Gesinnung“, kommentiert Kraus, „kann nicht weiter greifen als der Humor. Wer über das Geschlechtsleben seines Gegners spottet, kann nicht zu polemischer Kraft sich erheben. (…) Schlechte Gesinnung kann nur schlechte Witze machen. Der Wortwitz, der die Kontrastwelten auf die kleinste Fläche drängt und darum der wertvollste sein kann, muss bei Heine (…) zum losen Kalauer werden, weil kein sittlicher Fonds die Deckung übernimmt.“

Auch am Beispiel der Polemik gegen seinen Konkurrenten Ludwig Börne überführt er Heine einer Spießermoral, die dieser hinter Frivolität und Freigeistigkeit zu verstecken trachtete. Heine hatte gemutmaßt, ob eine gewisse Madame Wohl die Geliebte Börnes sei oder „bloß seine Gattin“. Kraus: „Dieser ganz gute Witz ist bezeichnend für die Wurzellosigkeit des Heineschen Witzes, denn er deckt sich mit dem Gegenteil der Heineschen Auffassung von der Geschlechtsmoral. Heine hätte sich schlicht bürgerlich dafür interessieren müssen, ob Madame Wohl die Gattin Börnes oder bloß seine Geliebte sei.“

Nur vor Heines letzten Werken verneigt sich Kraus, dem „Romanzero“ zum Beispiel, den jener angesichts eines langsamen Todes in seiner „Matratzengruft“ verfasste: „Heine hat das Erlebnis des Sterbens gebraucht, um ein Dichter zu sein.“ – „Der Tod konzentriert, räumt mit dem tändelnden Halbweltschmerz auf und gibt dem Zynismus etwas Pathos. (…) Sein Witz, im Erlöschen verdichtet, findet kräftigere Zusammenfassungen; und Geschmacklosigkeiten wie: ‚Geh ins Kloster, liebes Kind, oder lasse dich rasieren’, werden seltener.“

Die Kommis von heute, gleich ob es sich bei ihnen um Museumskuratoren, Redakteure oder kultivierte Werbetexterinnen handelt, mögen noch immer wissen, was sie an ihrem Heine haben, die Schärfe, die nicht zu sehr brennt, die Gefühlstiefe, die auch nach Büroschluss seicht genug bleibt, und den aufgeklärten Sarkasmus, mit dem es sich insgeheim fies und konkurrenzfähig bleiben lässt. „Darum verlangt die Pietät des Journalismus, dass heute in jeder Redaktion mindestens eine Wanze aus Heines Matratzengruft gehalten wird. Das kriecht am Sonntag platt durch die Spalten und stinkt uns die Kunst von der Nase weg! Aber es amüsiert uns, so um das wahre Leben betrogen zu werden. In Zeiten, die Zeit hatten, hatte man an der Kunst eins aufzulösen. In einer Zeit, die Zeitungen hat, sind Stoff und Form zu rascherem Verständnis getrennt.“

„Heine hat das Höchste geschaffen, was mit der Sprache zu schaffen ist“, resümiert Karl Kraus, aber: „Höher steht, was aus der Sprache geschaffen wird.“ Doch auch vor dem Alterswerk finden sich bei Heine genug Sentenzen, die nicht mit, sondern in der Sprache großartig und gar nicht so weit von Kraus’ Satire entfernt sind. So ungerecht seine Kritik an Heine im Detail sein mag, die Kritik der „Folgen“ hat die Kraft, alles was wir für kritisch und klug halten, tosend in sich zusammenstürzen zu lassen und auf ein neues Niveau zu verweisen. Ob wir die Kraft haben, ihm dorthin zu folgen, steht auf einem anderen Blatt. So empfiehlt sich „Heine und die Folgen“ als Fegefeuer für jeden denkenden Menschen, es ist das Manifest einer stilistischen Ethik, deren Kenntnis verbietet, hinter sie zurückzufallen. Um sich diese Schäbigkeit zu ersparen, lese man „Heine und die Folgen“ besser nicht.

Lesetipp:

Karl Kraus: Heine und die Folgen. In: Der Untergang der Welt durch schwarze Magie. Frankfurt a. Main 1989

 


Die Künstler. Von Karl Kraus

25. Februar 2012 | Kategorie: Artikel

Die Fackel  Nr. 241  15. JÄNNER 1908 IX. JAHR Vorurteile  S.6

Einen gewissen Grad von Unfähigkeit, sich geistig zu regen, wird man jenen ausübenden« Künstlern, die nicht das Wort gestalten, den Malern und Musikern, zugutehalten  dürfen. Aber man muss sagen, dass die Künstler darin die Kunst zumeist überbieten und an den Schwachsinn einer Unterhaltung Ansprüche stellen, die über das erlaubte Maß hinausgehen. Dies gilt nicht von den vollen Persönlichkeiten, die auch außerhalb der Kunst von Anregungsfähigkeit bersten, nur von den Durchschnittsmenschen mit Talent, denen die Kunst fürs Leben nichts übriggelassen hat. Zuweilen ist es unmöglich, einen Menschen, dessen Denken in Tönen oder Farben zerrinnt, auf der Fährte eines primitiven Gedankens zu erhalten.  Es war ein preziöser Dichter, der einmal, als man ihm eine Gleichung mit zwei Unbekannten erklärte, unterbrach und sein vollstes Verständnis durch die Versicherung kundgab, die Sache erscheine ihm nunmehr violett. Ein Maler wäre auch dazu nicht imstande und ließe einfach  die Zunge heraushängen. Ein Musiker aber täte nicht einmal das. Ich habe Marterqualen in Gesprächen mit Geigenspielern ausgestanden. Als einmal eine große Bankdefraudation sich  ereignete, gratulierte mir einer. Da ich bemerkte, dass ich nicht Geburtstag habe, meinte er, ich hätte mich als Propheten bewährt. Da ich replizierte, dass ich meines Erinnerns die  Defraudation nicht vorhergesagt hätte, wusste er auch darauf eine Antwort und sagte: »Nun, überhaupt diese Zustände«; und ließ in holdem Blödsinn sein volles Künstlerauge auf mir ruhen. Es war ein gefeierter Geigenspieler. Aber solche Leute sollte man nicht ohne Geige herumlaufen lassen. So wenig wie es erlaubt sein sollte, in das Privatleben eines Sängers einzugreifen. Für Männer und Frauen kann die Erfahrung nur eine Enttäuschung bedeuten. Sobald ein Sänger den Mund auftut, um zu sprechen, oder sich sonst irgendwie offenbaren möchte, gehts übel aus. Der Maler, der sich vor seine Leinwand stellt, wirkt als Klecks, der Musiker nach getaner Arbeit als Misston. Wer’s notwendig hat, soll in Gottes Namen Töne und Farben auf sich wirken lassen. Aber es kann nicht notwendig sein, den Dummheitsstoff, der in der Welt aufgehäuft ist, noch durch die Möglichkeiten der  unbeschäftigten Künstlerseele zu vermehren.

DIE FACKEL   Nr. 324—25  2. JUNI 1911 XIII. JAHR

Die Künstler

Der Typus, der einen malerischen Schlapphut und einen architektonischen Umhängebart trägt und in besonders peinlichen Exemplaren auch vor Pumphosen nicht zurückscheut, die Sorte, die in den achtziger Jahren die Gegend zwischen dem Café Kremser und dem Restaurant Gause belebt hat und die man längst ausgestorben und nur zum Zweck der Veranstaltung von Gschnasfesten konserviert glaubte, kurzum jene Art von Mensch, bei deren Anblick sich dem Wiener sofort die Assoziation »Künstler« einstellt, — ist soeben fünfzig Jahre alt geworden. Und da sich die Künstlergenossenschaft zur Malerei ähnlich verhält wie der Männergesangverein zur Musik — wobei es nicht ausgeschlossen ist, dass die beiden Korporationen einander im Bedarfsfalle aushelfen —, so herrschte große Aufregung bei allen, die Aussicht haben, ihr Verdienst, es miterlebt zu haben, gewürdigt zu sehen und die Ehre gehabt zu haben, in Anwesenheit des Truchsess Dobner von Dobenau gspeist zu haben, nicht ohne vorher den formschönen und gehaltvollen Prolog des Freiherrn von Berger, dem die Arbeit am Epilog des Burgtheaters zu allem Möglichen Zeit lässt, begeistert akklamiert zu haben. Der Statthalter war auch dabei. Er ist so kunstsinnig, dass wir noch immer zwanzig Automobiltaxen haben, und so fesch, dass das alte Wahrwort Recht behalten dürfte: Der Hannoveraner geht nicht unter. Wer da aber glaubt, dass mich die Lebensäußerungen des kunstsinnigen und geselligen Wien heute noch zu einem intimeren Eingehen reizen werden, ist im Irrtum. Mit einem leichten Aufstoßen gehe ich an den gedeckten Tafeln vorüber, an denen gestern eine achtzigjährige Zierde des Barreaus gepriesen wurde, als ob sie von Michelangelo selber entworfen wäre, und heute zu Ehren der fünfzigjährigen Kunst gegessen wird. Es ist immer dasselbe Schaugericht, süß zum hineinbeißen. Sie sind immer unter sich, harmlos und ohne Ahnung der Gefahr, dass ein Sachverständiger im internationalen Konditoreifach bezeugen könnte, die Creme der Wiener Gesellschaft sei der Abschaum der Menschheit. Und wenn sie nicht mehr »gemütlich« sein können, so ersetzen sie es wenigstens durch einstimmiges Klagen, dass sie es nicht mehr sind. Indem sie bei grimmigem Zeitgeist die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, machen sie sich warm wie die Dienstmänner, die im Winter die Arme übereinander schlagen. Und die Erinnerungen der alten Herren schweifen zurück in die Zeit, wo noch das »Sperrschiff« in der Kärntnerstraße herumgegangen ist und wo es noch keine Sezession gab. Ja, damals hat noch der Bratfisch gesungen und der Ranzoni hat noch geschrieben. Der Pötzl war noch Gerichtssaalberichterstatter, zeigte aber bereits Spuren von Humor, die Blütezeit der Fiakermilli war zwar schon vorüber, aber der Stern der Dukatenmali war eben im Aufgehen. Feuerbach wurde abgewiesen, Romaco ging zugrunde, und alle Kobolde des Ulks wusste Meister Goltz um sich zu versammeln. »Als man noch eins im Künstlerhause war …« — an diese Zeit erinnert sich in der Neuen Freien Presse, und nie wird er »an« diese Zeit vergessen: der alte Wiener Kunstfreund, der in der Rembrandtstraße wohnen dürfte und der vielleicht nur die Zeit gemeint hat, als man »nach eins« im Künstlerhaus war. Er preist den Geselligkeitszauber, die familiäre Gemütlichkeit und die Intimität der Vergnügungsabende von anno dazumal. Dafür zwei Belege. »Plötzlich hörte man dumpfes, wirres Geschrei aus dem Souperzimmer dringen. Erschrocken eilte man hinein und fand alles im wilden Alarm, alles von den Sitzen auf, Frau Papier schrie nach ihrer Garderobe … ihr Gatte stand in einer Art von Kampfesstellung gegen Canon. Was war geschehen? Auf Richard Wagner war das Gespräch gekommen und da hatte Canon, auf den der Name ‚Wagner‘ schon wie ein rotes Tuch wirkte, eine Behauptung aufgestellt, für deren Tatsächlichkeit er mit allem Aplomb seine Zeugenschaft einsetzte …« Als ein Wagnerianer widersprach, erbot sich Canon »ihm die Champagnerflasche um den Schädel zu hauen.« Erzählt der Historiker der Gemütlichkeit. Ein andermal war Adolf Menzel nach Wien zu Besuch gekommen. Man hatte ihm im Künstlerhaus »zum Sitznachbar den Wiener Ältesten, Rudolf Alt, gegeben. Alt führte die Unterhaltung in der Art, wie er muntere Gespräche zu führen pflegte, in einer Suite von Kalauern, der eine ärger als der andere … Für Menzel, den Berliner, wars das absolute Kauderwälsch, der Sitznachbar wurde ihm immer unverständlicher und damit auch immer rätselhafter, so dass er schon Zeichen von Ungeduld gab, die leicht explodieren konnte.« Erst später verstand Menzel, »und nun antwortete Sprühfeuer dem Sprühfeuer«. Es ist immerhin bedauerlich, dass er den Begriff, den er damals von Wien und seiner Kunst bekam, in keiner Tagebuchnotiz festgehalten hat. Der gemütliche Kunstfreund meint: »Das waren so innige, seriöse und minder seriöse Allotrias der Intimität, die aber jedenfalls auf die vorhandene Sphäre der Intimität hinwiesen.« Die Zeiten sind vorüber. Zwar hat nicht Wagner, sondern Herr Canon, auf den er wie ein rotes Tuch wirkte, in Wien ein Denkmal bekommen — jener Vollbart mit Pumphose, über den sich an der Ecke der Johannesgasse die Dienstmänner freuen, weil sie ihn noch persönlich gekannt haben —, aber die Gemütlichkeit ist tschihi. Der Geselligkeitsclub »D’Fürigspritzten« ist in das Zeichen der Sekzessiaun getreten und behauptet, dass der Makartsche Genius in Klimt wiedererstanden ist unter Beibehaltung des Kranzes blühender Jüdinnen. Aber alle, in denen noch ein Gefühl für die Vergangenheit lebt, vereinigen sich, um die Künstlergenossenschaft hoch leben zu lassen. Der Beginn der Feierlichkeiten gestaltete sich so: »Bildhauer Fänner erschien als Muse auf einem Pegasus, den ein ausrangiertes Komfortablepferd darstellte, und sprach den Prolog von Maler Zewy, der dann in gelungener Maske eines Dichterlings in Versen von Benjamin Schier die Künstlergenossenschaft von einst und jetzt feierte.« Das geschah im Künstlerhaus und man konnte somit glauben, es handle sich um ein Jubiläum der Schlaraffia. Am nächsten Tag wurden bereits freimaurerische Töne angeschlagen. »Gott grüß die Kunst!«, rief der Freiherr vonBerger durch den Mund des Herrn Reimers, dem schon früher die Kunst, grüß Gott! zu sagen, nachgerühmt wurde. Es soll sehr schwungvoll gewesen sein, und zweihundert Schlapphüte grüßten Gott zurück. Der Unterrichtsminister gedachte der Fülle von Schönheit, die die Wiener Bevölkerung von der Künstlergenossenschaft empfangen (natürlich ohne Hilfszeitwort) und durch die ihr Dasein voller, ihre tägliche Arbeit froher, ihre Ziele edler geworden. Der Bürgermeister aber, weit entfernt, die Wirkung der Herren Ameseder und Temple auf Wien zu beschränken, erklärte, dass die Kunst gemäß ihrer erhabenen Sendung im ringenden Leben der Menschheit diese über den Alltag, über Not und Tod des Einzelwesens erhebe, den Menschen zum Ebenbilde Gottes erhöhe (im Künstlerhaus hängen solche Ebenbilder Gottes nach Entwürfen von Horowitz und Adams) und ihm im weiteren Verfolg dieser Angelegenheit die edelsten sittlichen Handlungen zum Gebote und demnach dem Gemeinderat die Verleihung der großen goldenen Salvatormedaille zur Pflicht mache. Der Vorstand der Künstlergenossenschaft versetzte darauf, dass die künstlerische Entwicklung von der politischen Freiheit abhänge und dass erst nach Schaffung der Staatsgrundgesetze die »sublimen Wünsche der Wiener Bevölkerung in der Kunst Befriedigung« finden konnten. »Als sich der Zauber ihres Wirkens über die abgebrochenen Festungswälle legte, da habe sich der Schönheitsgeist der Wiener zur Begeisterung entzündet.« Die Kunst aber sei an Voraussetzungen geknüpft, deren Erfüllung in dem einsichtsvollen Wirken jener Männer ruhe, die den Staat zu lenken haben. Die Festversammlung, in der diese Perspektiven feierlich eröffnet wurden, tagte im Parlament, das zur Zeit infolge Verfassungsbruchs an Vereine vermietet wird. Es war sehr heiß im Saal. Es war ein Gedränge von Phrasen, die einander auf die Zehen traten, und da die Phrase ein gestärktes Vorhemd ist vor einer Normalgesinnung, die nie gewechselt wird, so entwickelte sich jene Atmosphäre, in der sich Menschen die Nase zuhalten und Künstler aufatmen. Als dann endlich der Tisch gedeckt war, ging es erst hoch her. Der Vorstand, Professor v. Weyr, der Schöpfer des Monumentalbrunnens »Die Macht zur See«, in welchem ein empörter Hilfsämterdirektor den Dreizack schwingt, erinnerte daran, dass Arbeit des Bürgers Zierde, anderseits aber Segen der Mühe Preis ist, und fuhr fort: »Sie werden uns gewiss berechtigt halten, hochverehrte Herren, den Wert der Kunst hoch einzuschätzen, aber bei aller Wahrung ihres Wertes waren wir doch immer die Empfangenden, wenn wir zu geben glaubten. Was bietet Wien nicht alles unseren Sinnen! Die Lebenswogen einer großen Stadt sind ja immer der Nährboden für die Phantasie des Künstlers. Alle Menschenlose von dem ersten Zittern bis zu den letzten Zuckungen des Herzens berühren ihn, das erste Liebemahnen des zarten Bürgersinnes, wie das Schicksalsdrama des dekadenten Weibes beschwingen seine Träume und wandeln sich zu Bildern in seiner Seele. Aus Spelunken, wie aus lichtumflossenen Gesellschaftsräumen, aus den Quartieren des Elends, wie aus den Regionen, welche die Goldfluten in erzumschmiedeten Räumen bergen, empfängt er den Pulsschlag seines Wirkens und den Lebensodem seines Daseins. Über alle diese Erscheinungen den verklärenden Mantel der Kunst zu breiten, um sie in den alles versöhnenden Begriff ‚Kultur‘ einreihen zu können, ist die Aufgabe, welche die Künstler zu erfüllen haben. Diese Aufgabe weisen Sie uns an, indem Sie uns in Ihre Dienste nehmen und uns betrauen, Paläste zu erbauen, um die menschlichen  Schwächen zu umhüllen, Gotteshäuser für die Frommen und Hilfsbedürftigen und Heimstätten für die Arbeitsmüden zu errichten, indem Sie von uns fordern, in unseren Bildwerken Ihnen den Spiegel Ihres Lebens vorzuhalten. Diese Wünsche können wir aber niemals ganz erfüllen, da wir Ihnen immer nur Reflexe unseres künstlerischen Schauens, einen Bruchteil dessen bieten können, was wir aus dem reichen Seelenleben unserer Stadt empfangen haben. In diesem Bruchteile suchen wir jedoch die Vorgänge des Lebens durch die Kunst zu adeln, sie ihrer Niedrigkeit zu entrücken, um das Innenleben unserer Bürger auf seine höhere Bestimmung hinzuweisen. Und welcher Strich der Erde wäre empfänglicher für diese Weisung wie der Wiener Boden, in dem ja alle Schönheitskeime so reiche Nahrung finden? Das Wienerblut ist so von Gott gemischt, dass ….« Das wurde wirklich gesprochen. Es war ein Monumentalbrunnen der Beredsamkeit. Die Vertreter des Wienerbluts, die nicht müde werden, diese ganz besondre Marke zu empfehlen — während es zum Beispiel auffallend ist, dass nie in der Welt vom Pariser- oder Londonerblut die Rede ist —, hatten einen guten Tag. Und doch muss man sagen, dass jedes Blut von Gott gemischt ist und dass vielleicht gerade die slowakisch-bajuvarische Mischung nicht die glücklichste ist und überhaupt einem von Gott gemischten Blut ein mit Gott gemischtes vorzuziehen wäre. Zum Schlusse aber dankte Redner dem Stadtrat und versprach, dass die Verleihung der Salvatormedaille die Künstlergenossenschaft »in dem Bestreben stärken werde, aus den Regungen der Wiener Seele unsterbliche Menschheitswerte zu gewinnen«. Von nun an wollten die Künstler alle Quellen ihrer Phantasie springen lassen. Hier war der Moment gekommen, das Glas auf die Stadt der Blumen und der schönen Frauen, auf ihren wackeren Bürgermeister und ihre pflichtgetreue Stadtvertretung, »diesen Dreibund«, zu erheben. Da aber die Künstler, wie mir einmal ein Hausmeister gesagt hat, speziell »Damenfreunde« sind, so lag es nah, dass ein Baurat auf die Wienerinnen hinwies und unter allgemeiner Zustimmung ein »Poem«, wie die Zeitungen sagen, zum Besten gab, welches die folgenden Verse enthielt:

Im Stadtpark, dem famosen,
Da heben bunte Rosen
Sich ab vom grünen Buchs.
In diesem Blumenleben
Seh’n wir die Wienerin schweben,
Umrauscht von Donauwogen,
Zum Lachen gern bereit.
Das Schöne und das Gute,
Es liegt bei ihr im Blute
Und wallt drin jederzeit.

Die Frage, wo der Stadtpark und wo die Donau ist, und die Feststellung, dass die Wienerin in diesem Blumenleben höchstens von den Wogen des Wienkanals umrauscht sein kann, wäre ein rationalistischer Einwand, der gegenüber der Lyrik immer unstatthaft ist. Nicht verschwiegen darf aber werden, dass der Reim auf Buchs, wiewohl er sich bei dem bekannten Wuchs der Wienerin von  selbst ergeben hätte, leider verloren gegangen ist und das Poem mithin nicht so gut gebaut ist wie die Wienerin. »Ausgezogen«, hätte sie zu guter Letzt auch die »Donauwogen« motiviert. Es ist umso bedauerlicher, als die Festgesellschaft in vorgerückter Stunde für die leiseste Anspielung auf etwas, was zum Anhalten ist, dankbar gewesen wäre, während sie den mehr metaphysischen Vorzügen der Wienerin, nämlich, dass das Schöne und das Gute drin jederzeit wallt, weniger Verständnis entgegenbrachte. Mindestens aber hätten sich, da schon einmal mit Schiller begonnen wurde, als Abschluss des Gedichtes die Verse empfohlen: Und füget zum Guten den Glanz und den Schimmer — Gehn’s weg, Sie Schlimmer! … Es waren schöne Tage. Ganz Wien war auf den Beinen. Als die Concordia fünfzig Jahre alt wurde — das gefährliche Alter, in dem eine à tout prix von den Spitzen der Behörden befriedigt werden muss —, war das Aufsehen nicht halb so groß. Das ist erklärlich. So schreiben wie die von der Concordia kann jeder Mensch in Wien. Aber so malen wie die von der Künstlergenossenschaft — dazu muss man schließlich doch bei Griepenkerl studiert haben!

 

 

 

 


Notizen zur Zeit. Wenn die Stunde schlägt. Von W.K. Nordenham

19. Februar 2012 | Kategorie: Journalisten, Notizen zur Zeit, Wulff

Der Parlamentarismus ist die Kasernierung der politischen Prostitution.      Karl Kraus

Der Satz von Karl Kraus trifft, wie man da sieht,  zu. Wer sich prostituiert, verlangt einen Gegenwert und sei es ein Ehrensold. Der sich verkauft hat,  hat auf jeden Fall einen zu hohen  Preis bezahlt. Deshalb ist das Vertrauen in die per se unglaubwürdige Aussage, man mache es im Grunde umsonst, schnell futsch, wenn man es dann zu auffällig treibt. Da reicht der Verdacht, und die Generalbeauftragten der Presse für  jede Art Verdacht, bei denen die Absicht  seit jeher Handlungsweise bestimmt, um einen Verdacht zu erzeugen und die noch aus jedem Verdacht eine Tat zu konstruieren wissen, die  nicht begangen worden sein muss, um vollbracht worden zu sein. Keine nachgeschobene Unschuldsvermutung oder nachgewiesene Unschuld kann sie ungeschehen machen, denn das „semper aliquid haeret“, dass nämlich immer etwas hängen bleibt, gehört zum stillschweigend akzeptierten Grundkonsens  boulevardjournalistischer Ethik , die als  Phantom den Ungeist begleitet, dem keine Jauchegrube den Geruchsnerv abtötet und der  das Licht des Tages nicht mehr zu scheuen hat, seit er mit  Präsidialem sein Wesen trieb. Aber es bedurfte schon des Signals einer Staatsanwaltschaft, die sich der  publizierten Meinung annahm und wegen Anfangsverdachtes der Vorteilsnahme ermittelt, nicht gegen die Journaille, sondern gegen einen bevorteilten und überforderten Präsidenten. Wohl angemerkt, die unerlaubte Vorteilsnahme, im Privatleben angenehm, im Geschäftsleben gang und gäbe, für Journalisten mit ihren Firmenrabatten und Freikartenabonnements Bedingung, ist in der Politik nur dann unerwünscht, wenn sie öffentlich wird und für einen Bundespräsidenten obsolet, dem eine Bildzeitung vordem  holder war, als es der Anstand erlaubt hätte. Der Wulff, als er den Schafspelz ablegte, hat sich  als Schaf erwiesen. Nachdem der Boulevard ihm den Vorteil strich, erwies er sich reif für die Schlachtbank des Tagesjournalismus, vermutlich als  Unschuldslamm. Nun hat ihm die Stunde geschlagen und  das Halali einer Hetze mit allen Mitteln darf  geblasen werden, das das vorläufige Ende der Jagd bestätigt. Denn wer wollte schon von sich behaupten, sauber bleiben zu wollen, wenn erneut der nächste erste Stein geworfen wird, vor allem dann,  wenn es sich um einen der Kotsteine der Bildzeitung handelt. Lange hat sich die bilderprobte, bundesdeutsche Öffentlichkeit vorgegaukelt, man sei in deutschen Landen von der  Unart eines Journalismus à la „News of the  world“ noch weit entfernt. Das war ein Irrtum, und bei der größten Boulevardzeitung Deutschlands wird man klammheimlich die Korken knallen lassen und sich bestätigt sehen auf einem Umweg, der  direkt mit den Ratten durch die Kanalisation bis in die Privatsphäre nunmehr eines jeden  Berufspolitikers führen wird, die zwar durch das Grundgesetz geschützt ist, aber nicht vor Kloakenjournalismus bewahrt, der  pseudoinvestigativ daherschleicht. Ohne den Wulff  fängt nicht nur in den vorgeblich seriöseren Redaktionsstuben das Nachdenken darüber an, ob denn ab sofort jeder Amtsträger durch den Nacktscanner einer Journaille gejagt wird, die noch den letzten Flecken auf der  Weste immer des Anderen sichtbar macht und vor dem Blick in die herunter zu lassende Hose nicht zurückschreckt, in die zu guter Letzt alles gegangen sein wird. Wenigstens einer soll so sein, wie man selbst sein sollte, wenn man so wäre, wie man gern wäre, also anständig, ehrlich, edel, hilfreich und gut, dazu überparteilich, mit messbarem Intelligenzquotienten, erlesenen Manieren, also  jemand, der im Dutzend die Gänge der Parlamente des Landes bevölkert. Das fällt die Auswahl schwer. Viele werden dennoch ablehnen, weil sie begründet um den letzten Rest an Privatleben fürchten, indem  ihnen zum Beispiel nachgewiesen wird, dass sie seinerzeit in der Schule vom Klassenprimus abschreiben durften, nachdem sie ihn mit einem Bier bestochen hatten. Ich warte gespannt auf die journalistische Nachlese in den Fußnoten der Lebensläufe von Ministern und Abgeordneten, mit ihren Nebeneinkünften, mit  ihrem Bundestags-Golf, Bundestags-Tennis und sonstigem Tourismus im Namen des Sponsors und des Volkes.


Journalisten der Malerei. Von Karl Kraus

11. Februar 2012 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Journalisten

DIE FACKEL

Nr. 256. 5. Juni 1908. X. Jahr.  S.  28 Tagebuch

Ist Schriftstellerei nicht mehr als die Fertigkeit, dem Publikum eine Meinung mit Worten beizubringen? Dann wäre Malerei die Fertigkeit, eine Meinung in Farben zu sagen. Aber die  Journalisten der Malerei heißen eben Anstreicher. Und ich glaube, dass ein Schriftsteller jener ist, der dem Publikum ein Kunstwerk sagt. Das größte Kompliment, das mir je gemacht  wurde, war es, als mir ein Leser gestand, er komme meinen Sachen erst bei der zweiten Lesung auf den Geschmack. Das war ein Kenner, und er wusste es nicht. Das Lob meines Stils lässt  mich gleichgültig, aber die Vorwürfe, die gegen ihn erhoben wurden, werden mich bald übermütig machen. Ich hatte wirklich lange genug gefürchtet, man werde schon bei der ersten  Lektüre ein Vergnügen an meinen Schriften haben. Wie? Ein Aufsatz sollte dazu dienen, dass das Publikum sich mit ihm den Mund ausspüle? Die Feuilletonisten, die in deutscher Sprache  schreiben, haben vor den Schriftstellern, die aus der deutschen Sprache schreiben, einen gewaltigen Vorsprung. Sie gewinnen auf den ersten Blick und enttäuschen den zweiten: es ist,  als ob man plötzlich hinter den Kulissen stünde und sähe, dass alles von Pappe ist. Bei den anderen aber wirkt die erste Lektüre, als ob ein Schleier die Szene verhüllte. Wer sollte da schon applaudieren? Wer aber ist so theaterfremd, sich vor der Vorstellung zu entfernen oder zu zischen, ehe die Szene sichtbar wird? So benehmen sich die meisten; denn sie haben  keine Zeit. Nur für die Werke der Sprache haben sie keine Zeit. Von den Gemälden lassen sie es eher gelten, dass nicht bloß ein Vorgang dargestellt werden soll, den der erste Blick erfasst: einen zweiten ringen sie sich ab, um auch etwas von der Farbenkunst zu spüren. Aber eine Kunst des Satzes? Sagt man ihnen, dass es so etwas gibt, so denken sie an die Einhaltung der  grammatischen Gesetze. An die aber muss sich der Schriftsteller nur so halten, wie der Bildhauer für reinen Thon zu sorgen hat. Darin kann man nicht unfehlbar sein, soll es auch gar  nicht, denn die Verwendung unreinen Materials kann einem künstlerischen Zweck dienen. Ich vermeide Lokalismen nicht, wenn sie einer satirischen Absicht dienen, der Witz, der mit gegebenen Vorstellungen arbeitet und eine geläufige Terminologie voraussetzt, zieht die Sprachgebräuchlichkeit der Sprachrichtigkeit vor, und nichts liegt mir ferner, als der Ehrgeiz  eines puristischen Strebens. Es handelt sich um Stil. Dass es so etwas gibt, spüren fünf unter hundert. Die anderen sehen eine Meinung, an der etwa ein Witz hängt, den man sich bequem  ins Knopfloch stecken kann. Von dem Geheimnis organischen Wachstums haben sie keine Ahnung. Sie schätzen nur den Materialwert. Eine platte Vorstellung kann zu tiefster Wirkung gebracht werden; sie wird unter der Betrachtung solcher Leser wieder platt. Die Trivialität als Element satirischer Wirkung: ein Kalauer bleibt in ihrer Hand. Ich schreibe eine Satire  über die Geheimniskrämerei einer Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, indem ich ihrer Chiffre Ö. G. Z. B. D. G. Deutungen gebe, die nicht nur jede für sich einen satirischen Sinn haben, sondern durch deren Technik ich eben jenes System der Heuchelei parodiere. Was bleibt davon? Lob oder Tadel eines Buchstabenwitzes. Der Tadel schmeckt  noch besser. Ein Holzhacker im Blätterwald wirft mir die Wendung »Brahma um und Brahma auf« vor, als ob sie ein gemeiner Wortspaß sei. An und für sich ist sie es und bliebe es, wenn sie jenem eingefallen wäre. Der Kalauer, als Selbstzweck verächtlich, kann das edelste Mittel einer künstlerischen Absicht sein, weil er der Kontraktion einer witzigen Anschauung am  besten dient. Jener derbe Spaß erhellt — ähnlich dem Wort »Der Schmock und die Bajadere« — blitzartig die Verwandlung des Wiener Nachtlebens in einen Esoterikerkultus, bedeutet also ein sozialkritisches Epigramm. Aber dergleichen über dem Stofflichen zu spüren, setzt eben jene literarische Kultur voraus, die man heute im Publikum beinahe so wenig wie bei den Literaten findet.


Notizen aus Medienland.Der Grubenhund kann sprechen. Von W.K. Nordenham

09. Februar 2012 | Kategorie: Artikel, Journalisten, Notizen aus Medienland

Den Grubenhund hat Karl Kraus 1911  erfunden und apostrophierte damit frei Erfundenes, das die Presse willig aufnahm.  Für Karl Kraus war es nicht eine lässliche Sünde, sondern die Regel, dass Alles und Jedes zur Lüge taugt, wie eine große Boulevardzeitung tagtäglich nachweist.

Wenn es dem Esel zu wohl wird, wissen wir, wohin er geht. Der Journalist begibt sich aufs Land, wo tiefentelepsychopathische Abgründe ihn so anziehen, dass er es nicht für sich behalten kann und den durch die tägliche Informationsflut  quasi demenzierten Leser  für reif genug hält, folgenden, ganzseitigen Artikel ohne Schaden zu überstehen, der hier gekürzt erscheint, um vermeidbaren Schaden abzuwenden.

Kölner Stadtanzeiger   15/16.1.2012

„Tiere berichten mir von Liebeskummer“

Von Brian Schneider
Kommunikatorin Katharina Küsters spricht im Interview mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ über das Schaf Schwarzöhrchen, Telepathie und Hunde-Hobbys. Sogar mit toten Tieren will sie sich unterhalten haben.
Köln. Eine abgelegene Straße in Overath, Blick ins Tal, gepflegte Gärten. Katharina Küsters steht am Eingang ihres Hauses, braune Haare, braune Augen, Brille, ungeschminkt. (…)

Was ist das, Tierkommunikation?
KÜSTERS: Die intuitive Fähigkeit, sich in andere Lebewesen einzufühlen und auf diesem Weg Informationen zu erhalten. Man nennt das auch telepathische Kommunikation.
Wie kann so etwas funktionieren?
KÜSTERS: Das kann im Grunde genommen jeder. Viele Kinder sprechen ja auch mit ihren Tieren, bis die Eltern ihnen das dann irgendwann ausreden.
Küsters hat vier große Beagle: George, Paul, Dana und Liesbeth. Ihrem Mann gehört ein Handwerksbetrieb, das Paar ist kinderlos. Eine Suchanfrage mit dem Stichwort „Tierkommunikation“ bringt bei Google 116 000 Treffer. Sogenannte „Tierkommunikatoren“ gibt es im ganzen Land, mit den unterschiedlichsten Angeboten: telefonische Beratung und simultanes Dolmetschen, Körperscannen, Klangschalenmusik für Tiere.
Was erzählen Ihnen die Tiere?
KÜSTERS: Das ist unterschiedlich. Sie berichten von körperlichen Problemen, Liebeskummer oder ihren Hobbys.
Tiere haben Hobbys?
KÜSTERS: Ja. Mein Hund Paul hat mir berichtet, dass er Sport total doof findet, aber gern wandern geht. Ein Pferd hat mir erzählt, dass es gern nach Löchern im Zaun sucht. (…)

Seit fünf Jahren lässt sich die 34-Jährige in Seminaren und Kursen zur Tierkommunikatorin ausbilden. Allerdings: Letztlich kann sich jeder so nennen. Als Honorar nimmt sie 45 Euro die Stunde, hat nach eigener Aussage etwa 60 Kunden.(…)
Auch die Kölner Polizei hat schon einmal auf übernatürliche Hilfe gesetzt. Nach der   N a g e l b o m b e n a t t a c k e   i n   M ü l h e i m   f u h r e n    z w e i     K r i m i n a l i s t e n   d e  r   S o k o     “ S p r e n g s t o f f “      z u   e i n e r   H e l l s e h e r i n   n a c h   M ü n c h e n . Außer dass die Frau geheimnisvolle Geräusche auf einem Kassettenrekorder abspielte, brachte die Reise nichts.

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Nehmen wir mal an,dass die  Kriminalisten die Seance nicht im ehemaligen  Braunen Haus in München abgehalten haben, denn dort hätten sie fündig werden können. Aber bleiben wir bei der Tierkommunikation. Die ließ einen gewissen Dr. Dieter von Schützfeld –  mir gleich wie ein Ei dem anderen – nicht ruhen, der, aus dem Nichts ertstanden, sogleich  aus den Tiefen der erfundenen Erinnerung seine ganz persönliche Geschichte beitrug zum Leserbetrug, die prompt abgedruckt wurde und die Frage impliziert, wie weit man noch gehen muss, damit es nicht gedruckt wird.

Dr. Dieter von Schützfeld                                                                Spechtweg 12
50374 Erftstadt

Tierkommunikation vom 14.1.2012

Sehr geehrte Damen und Herren!

Das klingt ja sehr ungewöhnlich, aber ich kann eine Geschichte dazu beitragen, die ich selbst erlebt habe. Anlässlich der Sturmflut 1962, als Hamburg überschwemmt wurde, war ich bei meiner Oma, die einen einen Papagei besaß. Der konnte  tatsächlich sprechen, aber wiederholte eigentlich nur, was man ihm vorsprach. Ich war damals erst 14 Jahre alt, aber weiß noch genau, das der Papagei am 16. Februar als die Flut am höchsten stand und die Deiche nicht mehr hielten, immer wieder „fünfsiebzig“ sagte. Darüber haben wir gelacht und konnten nichts damit anfangen, aber als an den Tagen danach der höchste Pegelstand mit 5,70 m gemessen, wurde uns doch etwas mulmig. Vielleicht ist ja doch etwas dran an der Kommunikation mit Tieren.

Mit freundlichen Grüßen
Dr. Dieter von Schützfeld


Reflexion. Von Friedrich Hölderlin

06. Februar 2012 | Kategorie: Anthologie der Menschheit, Artikel, Hölderlin, Verdichtetes

In guten Zeiten gibt es selten Schwärmer. Aber wenn’s dem Menschen an großen reinen Gegenständen fehlt, dann schafft er irgend ein Phantom aus dem und jenem, und drückt die Augen zu, dass er dafür sich interessieren kann, und dafür leben.

Reflexion. Von Friedrich Hölderlin

Es gibt Grade der Begeisterung. Von der Lustigkeit an, die wohl der unterste ist, bis zur Begeisterung des Feldherrn, der mitten in der Schlacht unter Besonnenheit den Genius mächtig erhält, gibt es eine unendliche Stufenleiter. Auf dieser auf- und abzusteigen, ist Beruf und Wonne des Dichters.
Man hat Inversionen der Worte in der Periode. Größer und wirksamer muss aber dann auch die Inversion der Perioden selbst sein. Die logische Stellung der Perioden, wo dem Grunde (der Grundperiode) das Werden, dem Werden das Ziel, dem Ziele der Zweck folgt, und die Nebensätze immer nur hinten angehängt sind an die Hauptsätze, worauf sie sich zunächst beziehen, – ist dem Dichter gewiss nur höchst selten brauchbar.
Das ist das Maß Begeisterung, das jedem Einzelnen gegeben ist, dass der eine bei größerem, der andere nur bei schwächerem Feuer die Besinnung noch im nötigen Grade behält. Da wo die Nüchternheit dich verlässt, da ist die Grenze deiner Begeisterung. Der große Dichter ist niemals von sich selbst verlassen, er mag sich so weit über sich selbst erheben, als er will. Man kann auch in die Höhe fallen, so wie in die Tiefe. Das letztere verhindert der elastische Geist, das erstere die Schwerkraft, die in nüchternem Besinnen liegt. Das Gefühl ist aber wohl die beste Nüchternheit und Besinnung des Dichters, wenn es richtig und warm und klar und kräftig ist. Es ist Zügel und Sporn dem Geist. Durch Wärme treibt es den Geist weiter, durch Zartheit und Richtigkeit und Klarheit schreibt es ihm die Grenze vor und hält ihn, dass er sich nicht verliert; und so ist es Verstand und Wille zugleich. Ist es aber zu zart und weichlich, so wird es tötend, ein nagender Wurm. Begrenzt sich der Geist, so fühlt es zu ängstlich die augenblickliche Schranke, wird zu warm, verliert die Klarheit, und treibt den Geist mit einer unverständlichen Unruhe ins Grenzenlose; ist der Geist freier, und hebt er sich augenblicklich über Regel und Stoff, so fürchtet es eben so ängstlich die Gefahr, dass er sich verliere, so wie es zuvor die Eingeschränktheit fürchtete, es wird frostig und dumpf, und ermattet den Geist, dass er sinkt und stockt, und an überflüssigem Zweifel sich abarbeitet. Ist einmal das Gefühl so krank, so kann der Dichter nichts besseres, als dass er, weil er es kennt, sich, in keinem Falle, gleich schrecken lässt von ihm, und es nur so weit achtet, dass er etwas gehaltener fortfährt, und so leicht wie möglich sich des Verstands bedient, um das Gefühl, es seie beschränkend oder befreiend, augenblicklich zu berichtigen, und wenn er so sich mehrmal durchgeholfen hat, dem Gefühle die natürliche Sicherheit und Konsistenz wiederzugeben. Überhaupt muss er sich gewöhnen, nicht in den einzelnen Momenten das Ganze, das er vorhat, erreichen zu wollen, und das augenblicklich Unvollständige zu ertragen; seine Lust muss sein, dass er sich von einem Augenblicke zum andern selber übertrifft, in dem Maße und in der Art, wie es die Sache erfordert, bis am Ende der Hauptton seines Ganzen gewinnt. Er muss aber ja nicht denken, dass er nur im crescendo vom Schwächern zum Stärkern sich selber übertreffen könne, so wird er unwahr werden, und sich überspannen; er muss fühlen, dass er an Leichtigkeit gewinnt, was er an Bedeutsamkeit verliert, dass Stille die Heftigkeit, und das Sinnige den Schwung gar schön ersetzt, und so wird es im Fortgang seines Werks nicht einen notwendigen Ton geben, der nicht den vorhergehenden gewissermaßen überträfe, und der herrschende Ton wird es nur darum sein, weil das Ganze auf diese und keine andere Art komponiert ist.

Nur das ist die wahrste Wahrheit, in der auch der Irrtum, weil sie ihn im Ganzen ihres Systems, in seine Zeit und seine Stelle setzt, zur Wahrheit wird. Sie ist das Licht, das sich selber und auch die Nacht erleuchtet. Dies ist auch die höchste Poesie, in der auch das Unpoetische, weil es zu rechter Zeit und am rechten Orte im Ganzen des Kunstwerks gesagt ist, poetisch wird. Aber hierzu ist schneller Begriff am nötigsten. Wie kannst du die Sache am rechten Ort brauchen, wenn du noch scheu darüber verweilst, und nicht weißt, wie viel an ihr ist, wie viel oder wenig daraus zu machen. Das ist ewige Heiterkeit, ist Gottesfreude, dass man alles Einzelne in die Stelle des Ganzen setzt, wohin es gehört; deswegen ohne Verstand, oder ohne ein durch und durch organisiertes Gefühl keine Vortrefflichkeit, kein Leben.
Muss denn der Mensch an Gewandtheit der Kraft und des Sinnes verlieren, was er an vielumfassendem Geiste gewinnt? Ist doch keines nichts ohne das andere!
Aus Freude musst du das Reine überhaupt, die Menschen und andern Wesen verstehen, »alles Wesentliche und Bezeichnende« derselben auffassen, und alle Verhältnisse nacheinander erkennen, und ihre Bestandteile in ihrem Zusammenhange so lange dir wiederholen, bis wieder die lebendige Anschauung objektiver aus dem Gedanken hervorgeht, aus Freude, ehe die Not eintritt, der Verstand, der bloß aus Not kommt, ist immer einseitig schief.
Da hingegen die Liebe gerne zart entdeckt, (wenn nicht Gemüt und Sinne scheu und trüb geworden sind durch harte Schicksale und Mönchsmoral,) und nichts übersehen mag, und wo sie sogenannte Irren oder Fehler findet, (Teile, die in dem, was sie sind, oder durch ihre Stellung und Bewegung aus dem Tone des Ganzen augenblicklich abweichen,) das Ganze nur desto inniger fühlt und anschaut. Deswegen sollte alles Erkennen vom Studium des Schönen anfangen. Denn der hat viel gewonnen, der das Leben verstehen kann, ohne zu trauern. Übrigens ist auch Schwärmerei und Leidenschaft gut, Andacht, die das Leben nicht berühren, nicht erkennen mag, und dann Verzweiflung, wenn das Leben selber aus seiner Unendlichkeit hervorgeht. Das tiefe Gefühl der Sterblichkeit, des Veränderns, seiner zeitlichen Beschränkungen entflammt den Menschen, dass er viel versucht, übt alle seine Kräfte, und lässt ihn nicht in Müßiggang geraten, und man ringt so lange um Chimären, bis sich endlich wieder etwas Wahres und Reelles findet zur Erkenntnis und Beschäftigung. In guten Zeiten gibt es selten Schwärmer. Aber wenn’s dem Menschen an großen reinen Gegenständen fehlt, dann schafft er irgend ein Phantom aus dem und jenem, und drückt die Augen zu, dass er dafür sich interessieren kann, und dafür leben.
Es kommt alles darauf an, dass die Vortrefflichen das Inferieure, die Schönern das Barbarische nicht zu sehr von sich ausschließen, sich aber auch nicht zu sehr damit vermischen, dass sie die Distanz, die zwischen ihnen und den andern ist, bestimmt und leidenschaftslos erkennen, und aus dieser Erkenntnis wirken, und dulden. Isolieren sie sich zu sehr, so ist die Wirksamkeit verloren, und sie gehen in ihrer Einsamkeit unter. Vermischen sie sich zu sehr, so ist auch wieder keine rechte Wirksamkeit möglich, denn entweder sprechen und handeln sie gegen die andern, wie gegen ihresgleichen, und übersehen den Punkt, wo diesen es fehlt, und wo sie zunächst ergriffen werden müssen, oder sie richten sich zu sehr nach diesen, und wiederholen die Unart, die sie reinigen sollten, in beiden Fällen wirken sie nichts und müssen vergehen, weil sie entweder immer ohne Widerklang sich in den Tag hinein äußern, und einsam bleiben mit allem Ringen und Bitten oder auch, weil sie das Fremde, Gemeinere zu dienstbar in sich aufnehmen und sich damit ersticken.


Notizen zur Zeit. Eigentlich sollte nur das Volk … . Von Jean Paul Richter

26. Januar 2012 | Kategorie: Artikel, Jean Paul, Notizen zur Zeit

Anlässlich der  großen Stunde des deutschen Parlamentes, das den Einsatz in Afghanistan unter gebetsmühlenartigem Ableiern der unfrommen Lüge verlängerte,  dass dort alles bereits viel besser sei, man schließlich auf der Seite des afghanischen Volkes stehe und getragen von der blinden Zuversicht, es werde nicht so schlimm kommen, wie es längst schon ist;  anlässlich der Tatsache, dass die Vertreter des Volkes das selbstredend nicht für sich persönlich beschlossen, sondern stellvertretend nur für die Soldaten, die am Hindukusch seit zehn Jahren die Freiheit unter anderem des Herrn Struck verteidigen müssen und die der Mandatsverlängerung vermutlich nicht  zugestimmt hätten, da keines der „Kriegsziele“ erreicht wurde und erreicht werden wird; anlässlich der bedeutungsschweren Stunde, da über Leib und Leben immer der Anderen, sowohl der Täter als auch der Opfer, der Krieg weiterhin verhängt wurde; anlässlich dieser traurigen Stunde, da nämlich das Gewissen, auf welches die Abgeordneten im Parlament sich zu berufen geruhten, allein durch die Worte des Herrn Ströbele sich vertreten sehen konnte, seien zwei Kapitel aus alter Zeit zitiert und jenen ins Stammbuch geschrieben, die  mit dem Retortenwort  „alternativlos“ neuerdings jede Schweinerei glauben rechtfertigen zu können, was nichts anderes beschreibt als eine zivilisierte Form der  Menschenverachtung; denn das Land, in das man den Soldaten schickt, wird nicht dasselbe bleiben, und der Mensch, den man schickt, wird nicht derselbe sein, der zurückkehrt. Jean Paul schrieb  die Erziehlehre seinerzeit zwar für Fürsten, aber es spräche für Phantasiearmut würde man nicht in den Wirtschaftsbossen und Politkern der Jetztzeit  ohne Mühe ihre der Erziehung bedürftigen Nachfolger sogleich erkennen, ungemein erleichtert durch das Trio infernale: Bush, Cheney, Rumsfeld.                                              W.K. Nordenham (Hervorhebungen im Folgenden durch mich)

Jean Paul Richter: Levana oder Erziehlehre – Kapitel 44

Werden Sie gleich mir eine Friedenpredigt vor dem Kriege an den Fürsten, der eben den Brandbrief zum Kriegsfeuer hinwerfen will, etwa so halten: »Bedenk es, ein Schritt über dein Grenzwappen verwandelt zwei Reiche, hinter dir verzerrt sich deines – vor dir das fremde. – Ein Erdbeben wohnt und arbeitet dann unter beiden fort – alle alte Rechtsgebäude, alle Richterstühle stürzen, Höhen und Tiefen werden ineinander verkehrt. – Ein jüngster Tag voll auferstehender Sünder und voll fallender Sterne, ein Weltgericht des Teufels, w o  d i e  L e i b e r  d i e  G e i s t e r  r i c h t e n,  d i e   F a u s t k r a f t   d a s   H e r z . Bedenk es, Fürst! Jeder Soldat wird in diesem Reich der Gesetzlosigkeit dein gekrönter Bruder auf fremdem Boden mit Richtschwert, aber ohne Waage und gebeut unumschränkter als du; jeder feindliche Packknecht ist dein Fürst und Richter, mit Kette und Beil für dich in der Hand! – Nur die Willkür der Faust und des Zufalls sitzt auf dem Doppelthrone des Gewissens und Lichts. – Zwei Völker sind halb in Sklavenhändler, halb in Sklaven verkehrt, unordentlich durcheinander gemischt. – Für höhere Wesen ist das Menschenreich ein gesetz- und gewissenloses, taubblindes Tier- und Maschinenreich geworden, das raubt, frisst, schlägt, blutet und stirbt. – Immerhin sei du gerecht, du lässest doch durch die erste Manifestzeile wie durch ein Erdbeben die gefesselte Ungerechtigkeit aus ihren Kerkern los!  A u c h  i s t  j a  d i e   W i l l k ü r   s o  h e r g e b r a c h t   g r o ß ,  d a s s  d i r  k l e i n e r e  M i s s h a n d-  l u n g e n    g a r   n i c h t ,   u n d     g r o ß e    n u r    d u r c h    i h r e     W i e d e r h o l u n g   v o r  d i e   O h r e n   k o m m e n . Denn die Erlaubnis, zugleich zu töten und zu beerben, schließt jede kleinere in sich. Sogar der waffenlose Bürger tönt in die Miss- und Schreitöne ein, vertauschend alle Lebenspläne gegen Minutengenuss und ungesetzliche Freiheit und von den befreundeten Kriegern als ein halber, von den anfeindenden als ein ganzer Feind behandelt und aufgereizt. Dies bedenke, Fürst, bevor du in die Heuschreckenwolke des Kriegs alles dein Licht verhüllst und in dein bisher so treu verwaltetes Land alle Krieger eines fremden zu Obrigkeiten und Henkern einsetzest, oder deine Krieger ebenso ins fremde!« (Dies hat Karl Kraus  sowohl vorgelesen als auch in DIE FACKEL  Nr. 443-444 , 1916 veröffentlich.)

Jean Paul Richter: Levana oder Erziehlehre – Kapitel 45

E i g e n t l i c h   s o l l t e    n u r    d a s   V o l k  – dies könnte man wenigstens einem Erbprinzen erziehend sagen – ü b e r  d e n   K r i e g         m i t   e i n e m   a n d e r n , d. h. über die Rückkehr in den   e r s t e n         N a t u r s t a n d, besonders da nur dessen harte Früchte, nicht dessen süße auf dasselbe fallen, a b z u s t i m m e n   h a b e n , ob es sich als Totenopfer dem Gewitter und Sturm des Krieges weihe, oder nicht. Es ist schreiend gen Himmel, der noch nicht hört: dass ein Fürst für den Witzstich eines andern Fürsten zwei Völker unter die Streitaxt treiben darf. Man schaudert in der neuern Geschichte über die kleinen Zündruten der Kriegsminen; wie eine Weiber-Stecknadel, ein Gesandtenfinger oft der Leiter eines länderbreiten Gewitters geworden. Wenigstens sollte der Krieg der neuern Zeiten nur die Krieger treffen, nicht die entwaffneten Stände. Sobald der tätigere Anteil der letzten jene beeinträchtigt, z. B. Schießen aus Häusern: so berufen sie sich gern auf das Recht einer Absonderung und bestrafen und bekriegen zugleich; warum soll dann aber der wehrlose Stand ohne die Vorteile doch alle Leiden des bewehrten, die der Plünderung, Gefangennehmung u. s. w., teilen? – Von drei Zeiten muss einmal nach dieser schlechten vierten eine oder jede kommen, damit die Zukunft die Vergangenheit entsündige: dass es entweder Seekriege ohne Kaperbriefe gibt, und zum Landkrieg man sich, als zu einem vielstimmigen und vielhändigen Zweikampfe, in eine Wüste bestellt – oder dass wieder, wie in eingesunknen oder aufgeflognen Republiken, jeder Bürger Soldat, folglich jeder Soldat auch Bürger ist – oder endlich, dass vom Himmel die ewige Frieden-Fahne herunterflattert und über die Erde im Äther weht. –
Mir ist, als wenn Sie oder einer Ihrer Freunde einmal die Geschichte – diesen langen Kriegsbericht und Bulletin der Menschheit – für eine Kriegsansteckung junger Fürsten erklärt hätten. Fast aber wollt‘ ich ihr die Heilung von der Kriegslust anvertrauen. Karl XII. von Schweden wurde schwerlich bloß durch Curtius‘ Leben des Alexanders ruhm- und länderdurstig, da Alexander selber es gewesen, ohne seinen Biographen gelesen zu haben; wie auch Cäsar, der von Curtius nichts gekannt als dessen Helden. An der Geschichte lässt sich eben die Anker- und Klingenprobe des See- und Landkriegsschwertes machen. Sie allein zeigt dem ruhmdürstigen Prinzen, wie wenig bloße Tapferkeit auslange zum Ruhm.    D e n n   a u f   d e r    E r d e   i s t   e i n   f e i g e s   V o l k   n o c h   s e l t e n e r   a l s   e i n   k ü h n e r   M a n n ; welche Völker der alten und neuen Zeit waren nicht tapfer? Jetzo z. B. fast ganz Europa, die Russen, Dänen, Schweden, Österreicher, Sachsen, Engländer, Hessen, Franzosen, Bayern und Preußen. – Je tiefer Roms freier Geist einsank, desto wilder und kräftiger hob sich der tapfere empor; Katilina, Cäsar, August hatten siegende Knechte. Die häufige Bewaffnung der alten Sklaven (wie in der neuern die der Bettler) beweiset gegen den Wert der gemeinen Faust- und Wunden-Tapferkeit. Der Athener Iphikrates sagte: raub- und lustgierige Soldaten sind die besten; und der General Fischer setzte dazu: Landstreicher. – Kann ein Fürst in die Nachwelt mit nichts als mit den schönen Tigerflecken der Eroberer strahlen wollen, womit ihn die Timurs, Attilas, Dessalines und andere Geißeln Gottes oder Knuten des Teufels überbieten? –  Wie kalt geht man in der Geschichte über die unzähligen Schlachtfelder, welche die Erde mit Todes-Beeten umziehen! Und mit welchen Flüchen eilt man vor der Krone vorüber, welche, wie sogenannte Ajüstagen oder Blechaufsätze nur auf dem fortsprützenden Wasserstrahl der Fontänen, ebenso nur auf empor- springenden Blutströmen in der Höhe sich erhalten! Wo aber einige Helden davon ein ewiger Nachschimmer überschwebet, wie Marathons Ebene, Thermopyläs Tiefe: da kämpften und opferten andere Geister; – himmlische Erscheinungen, der Freiheit-Mut. U n d   w e l c h e r   E i n z e l n e   i n     d e r     G e s c h i c h t e      g  r o ß   d a s t e h t  u n d   i h r e   R ä u m e   er f ü l l t ,  d e r    t u t   e s   n i c h t     a u f      e i n e r      P y r a m i d e     v o n    T o t e n k ö p f e n   a u s    S c h l a c h t e n  , s o n d e r n   e i n e  g r o ß e     S e e le   s c h w e b e t ,   w i e     di e   G e s t a l t    e i n e r        ü b e r i r d i s c h e n   W e l t ,   v e r k l ä r t   i n   d e r   N a c h t   u n d     b e r ü h r t   S t e r n e   u n d   E r d e .

 


Karl Kraus und die Eitelkeit. Von Richard Schuberth

25. Januar 2012 | Kategorie: Artikel, Richard Schuberth, Über Karl Kraus

Richard Alexander Schubert ist Schriftsteller – unter anderem –  und lebt in Wien. Die Lektüre seiner Schriften sei dem empfohlen, der den Kopf nicht nur als Huthalter oder Frisierobjekt missbraucht. Der  erste Text, dem weitere folgen werden, wird hier mit seiner ausdrücklichen Genehmigung abgedruckt. Er entstammt dem Buch

Richard Schuberth                                                                                      30 Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus

238 S. , EUR 24,-
Broschur mit Fadenheftung
ISBN 978-3-85132-531-7, 2008

Wie Karl Kraus zitiert Richard Schuberth gern Denker und Zeitgenossen, um das  Wort von dem aus Geistverlassenheit erstandenen Unwort zu scheiden. Auf diese Weise kommt sogar der Literaturfatzki Reich-Ranicki zu zweifelhafter Ehre, dem nicht nur das zu erwartende Missverständnis unterläuft, Karl  Kraus zum Schriftsteller zu pejorisieren, sondern der darüber hinaus auch die Unverfrorenheit besitzt, ihm eignende Charaktereigenschaften flugs jenem zuschreiben zu wollen. Man bleibt unentschieden, ob Bösartigkeit und Verlogenheit  ihn trieben  oder  ob,  angesichts des ersichtlichen Versagens  im Vergleich zu  Karl Kraus, nur ein schlechtes Gedächtnis  unterstellen ist. Wünschte er sich doch weiland laut Fersehinterview in der Nachfolge begriffen zu sehen von  Tucholsky ( wie das?), Alfred Kerr (schon besser) und  Karl Kraus(Chuzpe).  Den letzten Namen  sprach er nach meinem Gedächtnis etwas leiser, damit jener ihn nicht etwa doch gehört und einen  Bannstrahl herabsandt hätte.

Richard Schuberth  beleuchtet in  30 Versuchen zur Anstiftung  das Verhältnis der Person Karl Kraus zu verschiedenen kultur- und gesellschaftspolitischen Themen seiner Zeit wie etwa dem Nationalsozialismus, den »Psychowissenschaften«, Journalismus, Satire, Frauen und Sexualität.Die Essays unterstreichen dabei die Bedeutung Kraus’ als Vordenker der Kritischen Theorie sowie die Wichtigkeit seiner Sprachkritik für zeitgenössische Gesellschaftskritik – »Kraus verstehen lernen hieße in der Sprache denken lernen – und nicht nur mit ungeahnten Schätzen belohnt werden, sondern dort, im sprachlichen Denken, vielleicht das letzte wehrhafte Asyl einer Individualität zu finden, die diesen Begriff einzig verdiente.« (Richard Schuberth)

 

Karl Kraus und die Eitelkeit

„Eitelkeit und Geltungssucht dieses Schriftstellers kannten keine Grenzen, sein Ehrgeiz wurde nur von seiner Selbstgerechtigkeit übertroffen.“           Marcel Reich-Ranicki

„Wenn es die Welt tadelt, dass ich zu viel über mich selbst rede, so tadle ich, dass diese nicht einmal über sich selbst denkt.“                                Michel de Montaigne

 

Reflex der Eitelkeit

Die Welt, die im Gewande lebt,

nach Genuss und Gewinn und nach Würden strebt,

an der Macht und am Schein, an der Meinung klebt,

ihr Nichts erhebt und vor nichts erbebt

und sich dünkt der Schöpfung Scheitel –

sie sagt, weil ich sah, wie sie, diese Welt,

sich täglich mit sich zufrieden stellt

und sich weitaus besser als mir gefällt,

der sie nicht für die beste der Welten hält:

ich sei eitel.           Karl Kraus

„Er war sich das Maß aller Dinge, musste sich das wohl sein, um als orthodoxer Einzelgänger sein Gleichgewicht unerschüttert zu bewahren.“    Alfred Polgar

Es gibt wohl keinen Vorwurf, der das Prinzip der Gegenprojektion in seiner Banalität dermaßen bestätigt, so sehr auf die Vorwerfer zurückfällt wie der der Eitelkeit. Der Eitelkeit, der Egomanie, des Narzissmus. Eine narzisstisch gestörte Gesellschaft muss ihre zwanghafte Sucht nach wechselseitiger Bestätigung, im Drängeln um knappe Güter wie Geltung und Kapital, als sozialen Sinn tarnen, um jeden, dem genug Kraft und Geist geblieben ist, sich dieser Konformität zu entziehen, mit der Eitelkeitskeule zu prügeln. In Abwandlung von Nietzsches Aphorismus sind es interessanterweise nicht die, welche das Licht suchen, um besser gesehen zu werden, sondern immer die, welche besser sehen wollen, denen man Selbstsucht vorwirft. Und wer das Spiegelkabinett der gegenseitigen Anerkennung, in das jegliche gesellschaftliche Ideologie ihre Zerrbilder wirft, zerbricht, der kann dies wohl nur tun – zu mehr reicht der psychologisierende Alltagsverstand nicht –, um sich in sich selbst zu spiegeln. Wer es nicht nötig hat, uns zu genügen, der genügt sich folglich selbst. Dass solch einer oder eine aber ganz anderen Werten, Idealen und Prinzipien genügen will als sich selbst, um eben diese – und mit ihnen sich – vor der Beschmutzung durch falschen sozialen Konsens zu retten, muss einer Gesellschaft, die keine Triebfeder mehr kennt als den Eigennutz, suspekt sein. Nichts erscheint ihr eitler als der freiwillige Verzicht auf Eitelkeit, der uns zu jener unbequemen Wahrhaftigkeit führen könnte, wo wir womöglich nicht mehr verstanden und lieb gehabt werden. Theodor Adorno beschreibt das Missverstehen solch eines Renitenten in seiner „Minima Moralia“: „Um nicht unter die Räder zu kommen, muss er die Welt an Weltlichkeit umständlich überbieten und wird des ungeschickten Zuviel leicht überführt. Argwohn, Machtgier, Mangel an Kameradschaft, Falschheit, Eitelkeit und Inkonsequenz lassen sich zwingend ihm vorhalten. Gesellschaftliche Zauberei macht unausweichlich den, welcher nicht mitspielt, zum Eigennützigen, und der ohne Selbst dem Prinzip der Realität nachlebt, heißt selbstlos.“

Wirklich kritischer Instinkt sucht und findet Selbstlosigkeit aber immer dort, wo höchste Selbstsucht vermutet wird. Bei tieferer Betrachtung entpuppt sich zum Beispiel das frivole Posieren eines Oscar Wilde als zielgenaue Provokation einer heuchlerischen Bürgerwelt, die ihren ökonomischen Egoismus mit einer moralistischen Verachtung alles Dekadenten zu bemänteln versuchte. Nicht anders, wenn sich Kraus einmal selbstironisch „vielgeliebter, schöner, grausamer Mann“ nannte, was die narzisstischen Dummköpfe heute noch bei ihrer Suche nach Beweisen für seinen Narzissmus für bare Münze nehmen. Gerade hinter Wildes Anmaßungen wird man eine selbstvergessene Humanität finden, die all den falsch Bescheidenen die Schamesröte ins Gesicht triebe, brächten sie nur einen Teil davon auf.

Wer nicht mitspielt, ist eitel! Sucht er nach Verständnis, ist das pure Eitelkeit, verzichtet er darauf, erst recht! Selbst die Schüchternheit des Einzelgängers in der letzten Reihe wurde noch in jeder Schulklasse als Arroganz missverstanden; so bekundet der Mehrheitskonsens seine gefährliche Unsicherheit gegenüber der Minorität.

Ambrose Bierce (1842–1913), jenes amerikanische Pendant zu Karl Kraus, definierte in seinem „Devil’s Dictionary“ den „Egoisten“ als „Person minderen Geschmacks, mehr an sich als an mir interessiert“. Und entlarvte den Wunsch nach Bestätigung als den wahren Egoismus. Dieser Wunsch wäre eine sympathische menschliche Schwäche, knüpfte sich an ihn nicht so viel ideologische Konformität. Doch Karl Kraus ist nur insofern an sich interessiert, als er sich zum Prisma seiner Gesellschaftskritik macht: „Ich spreche von mir und meine die Sache. Sie sprechen von der Sache und meinen sich.“

Wem Stil über Mitteilung geht, ist eitel?

Mit dem Vorwurf der Selbstverliebtheit hatte Kraus sein Leben lang zu kämpfen, doch er wuchs an ihm und bescherte der Nachwelt die wohl scharfsinnigsten Reflexionen zum Thema. Gerade im geistigen Schöpfungsakt funktioniert die Retournierung des Eitelkeitsvorwurfs bestens. „Eitel ist bloß die Zufriedenheit, die nie zum Werk zurückkehrt.“ Denn: „Ein guter Stilist muss bei der Arbeit die Lust eines Narzissus empfinden. Er muss sein Werk so objektivieren können, dass er sich bei einem Neidgefühl ertappt und erst durch Erinnerung draufkommt, dass er selbst der Schöpfer sei. Kurzum, er muss jene höchste Objektivität bewahren, die die Welt Eitelkeit nennt.“ So hart an Werk, an Gedanke und Stil zu arbeiten, dass diese würdig werden, sich in sie zu verlieben, ist nicht Hybris, sondern höchste ethische Maxime, ein dermaßen selbstloser Weihedienst am Stoff, dass zur Belohnung auch ein paar Brosamen fürs Ego abfallen. Eitelkeit, für eine höhere Sache gebändigt, wie ein Pferd vor die Kutsche gespannt, hat sich den Hafer brav verdient. Wir hingegen spannen Sache wie Sprache gleich Ackergäulen vor unser Selbst, das wegen als Menschenliebe getarnter Eigenliebe dem stallwarmen Konsens keinesfalls davonpreschen darf – ganz gleich ob wir kommunikativ oder objektiv sein wollen, und beschimpfen jene als eitel, die des Stalls nicht bedürfen.

Kraus will nicht sich, sondern der Sprache gefallen, im Vergleich zu jenen, die Sprache wie Sache nur dazu missbrauchen, um überhaupt „Ich“ zu sagen.

„Ich spreche nie von mir“, bekennt er, „sondern an mir von der Sprache. Ich habe nie einen Satz über mich geschrieben, ohne selbst noch an diesem Stilproblematisches zu erörtern. Ich bin nur das nächstbeste Beispiel für mich. Das nächste, wie ich selbst zugeben muss, das beste, wie auch mein Kritiker zugibt. (…) Ich sagte einmal, dass, ‚wer mit einer Sache verschmolzen ist, immer zur Sache spricht und am meisten, wenn er von sich spricht’. Dass, ‚was sie Eitelkeit nennen, jene nie beruhigte Bescheidenheit ist, die sich am eigenen Maß prüft und das Maß an sich, jener demütige Wille zur Steigerung, der sich dem unerbittlichsten Urteil unterwirft, welches stets sein eigenes ist’.“

Wer auf Ruhm, aber nicht auf Ehre verzichtet, ist eitel?

Niemand hat die intellektuellen Eitelkeiten seiner Zeit so gekränkt wie Karl Kraus, zumal er sich die Objekte seiner Satire nicht einmal als Personen, sondern als Marionetten allgemeiner Missstände vornahm – und zu allem Überdruss mit keiner Zeile auch nur den geringsten Zweifel offen ließ, dass seine Kritik, welche Anhänger ebenso wenig schonte wie Gegner, nicht von persönlicher Ranküne, sondern ethischem Ernst angetrieben wurde. Wie aber, so fragten sich die, welche letztlich nur ihr eigenes Süppchen kochten, konnte er, der sich anmaßte, den Zeitgeist in brodelnder Sintflut zu ertränken, dermaßen konsequent auf Anerkennung verzichten, wenn nicht aus purer Selbstgerechtigkeit. Wer seinen Inhalten nichts entgegenzusetzen wusste, musste sich mit Psychologie, jener Religion der Kleingeister, behelfen und narzisstische Störung an ihm diagnostizieren. Und gemäß dem Axiom der bürgerlichen Bewusstseinsindustrie, dass, worüber nicht berichtet wird, nicht existiert, mehr noch, nicht existieren darf, griff diese zu ihrer effektivsten Waffe: Totschweigen! Ihre Vertreter hielten dieses aber weniger aus als er und schlugen zumeist mit Anspielungen zurück, oft ohne Nennung seines Namens, und wenn doch, dann ohne Nennung des eigenen. Anspielungen auf seinen Misswuchs oder seine jüdische Herkunft reichten aber nicht an die Häufigkeit heran, mit der seine Eitelkeit verspottet wurde. Auf seine indirekten Kritiker traf zu, was der Dichter und Philologe Friedrich Wilhelm Riemer (1774–1845) auch den anonymen Internet-Postern unserer Tage auf den Leib geschrieben haben könnte: „Ein offener, dem Gesicht sich stellender Gegner ist ein ehrlicher, gemäßigter, einer mit dem man sich verständigen, vertragen, aussöhnen kann; ein versteckter hingegen ist ein niederträchtiger, feiger Schuft, der nicht so viel Herz hat, sich zu Dem zu bekennen, was er urtheilt, dem also nicht ein Mal etwas an seiner Meinung liegt, sondern nur an der heimlichen Freude, unerkannt und ungestraft sein Müthchen zu kühlen.“

Karl Kraus charakterisierte die übliche Kritik an seiner Kritik folgendermaßen: „Die Schwäche sieht sich im Spiegel und wirft ihn wütend nach mir und hofft, nun werde es mein Bild sein. Weil mich der Spiegel getroffen hat. (…) Die von mir gekränkte Zeit nimmt das nächste Wort, das ihr zur Hand, als Wurfgeschoß. Mir hat noch nie ein anderes Echo geantwortet, als der unartikulierte Aufschrei.“ Zu dieser Abfolge von Aufschrei und Totschweigen schuf er in der „Fackel“ eine Gegenöffentlichkeit, indem er jeden seiner Auftritte sowie manche publizistische, zumeist aus dem Ausland kommende Reaktion auf sein Wirken dokumentierte – für seine Feinde einmal mehr Beweis seiner Egomanie. Eine der letzten, aber gründlichsten und souveränsten Stellungnahmen zum Eitelkeitsvorwurf gab er 1926 im Text „Ich und Wir“ ab.

„Die Verbreitung des Rufs meiner Eitelkeit, die eine der stärksten Sicherungen gegen die Verbreitung meines Werks bildet, ist die Parole, auf die sich die Würdenträger der geistigen Zentren des deutschen Sprachgebiets geeinigt haben, und sie begründen sie damit, dass ich in Ermangelung ihrer guten Nachrede eben selber von mir spreche.
Aber wenn sie einen freien Augenblick hätten, um einmal nicht zu lügen, müssten sie zugeben, dass ich schon wegen der größeren Unbeliebtheit ein interessanteres Thema bin als sie; dass der, der nur aus sich selbst besteht, es schwerer hat, bei der Betrachtung der Welt von sich abzusehen, als einer, der aus nichts besteht; und dass, was bei mir herauskommt, allgemeiner ist, als wenn die Journalisten von der Welt sprechen, und persönlicher, als wenn sie von sich selbst zu sprechen anhüben. (…) Der der Sache mit seiner Person dient und vor sie tritt, um für sie einzutreten, ist selbstgefällig in den Augen solcher, die ihrer Person mit einer Sache dienen, sie um persönlicher Ziele willen verfolgen, mithin allen Grund haben, ihr dürftiges Ich hinter ihr zu verbergen und denen es auch mühelos gelingt. Sie sind so bescheiden, sich in ein »Wir« zu multiplizieren, das Sicherheit, Kredit und Machtzuwachs gewährt. Sie finden es schicklich, mit ihrer Persönlichkeit hinter den Dreck, den sie schreiben, zurückzutreten — mit Recht, denn wer wollte da auch hineintreten? Außer mir, dem vor nichts graust und der mit seinem Ich noch solche Spur verfolgt! Aber ist dieses Ich nicht gemeinschaftlicher als jenes Wir? (…)

Spiegle ich mich in diesen Erscheinungen oder lasse ich nicht vielmehr sie in mir sich spiegeln? Ist da nicht eine Phrase gegenteiligen Sinnes als Vorwurf gegen mich erstanden, wenn sie sagen, ich spräche von mir selbst, während ich doch eigentlich nichts tue als dass ich von der Welt spreche und dabei allerdings unaufhörlich Gott danke, dass ich nicht bin wie jene – ein Stoßgebet, bei dem ich wohl kaum von meiner Person ganz abstrahieren könnte. Meine Eitelkeit, die ich in gewisser Hinsicht zugebe, ist somit keine solche, die auf irdische Erfolge abzielt, sondern vielmehr eine, die sich in dem Verzicht auf Ehren, welche mir nicht gebühren, genugtut, also die rechte Bescheidenheit, ja wahre Demut, die weiter herauszustreichen ich unterlassen muss, weil es mir den Vorwurf der Eitelkeit eintragen würde.“

Wer der Schwäche, es sich in und mit der Gesellschaft zu richten, widersteht, wird zuerst als Versager gebrandmarkt, und kann er glaubhaft machen, dass er nicht aus Schwäche dieser Schwäche nicht erliegt, als größenwahnsinniger Egomane. „Ich habe mich im Laufe der Jahre zum Streber nach gesellschaftlichen Nachteilen entwickelt“, schreibt Karl Kraus im Jahre 1908 kokett. „Ich lauere, spüre, jage, wo ich eine Bekanntschaft abstoßen, eine einflussreiche Verbindung verlieren könnte. Vielleicht bringe ich’s doch noch zu einer Position.“ Solch Unverfrorenheit, die vor keinem gesellschaftlichen Vorteil, vor keiner Mode das Knie beugt, aber vor dem Ideal kritischer Wahrheit sich demütig in den Staub wirft, die sich von dem, was schlechthin ist, zugunsten dessen, was sein könnte, nie beeindrucken lässt, ist heute undenkbarer als je. Wie damals in der Schule verhält es sich auch jetzt auf dem Bewusstseinsmarkt – ganz gleich, ob links oder rechts: Wer das Konsumangebot an Identitäten verschmäht, kommt sich als was Besseres vor, und behält Recht, wenn die Ich-AGs sich seinen Verzicht auf Eigennutz nicht anders denn als Eigennutz der Selbsterhöhung erklären können. Karl Kraus sprach in Anlehnung an die Worte Montaignes und in dem Wissen, dass jede Stellungnahme zu solchen Vorwürfen als Verteidigung, folglich als Schwäche, folglich als Eitelkeitsproblem ausgelegt würde, ein Machtwort: „Wenn einer es tadelt, dass ich eitel bin, so tadle ich, dass er ein Trottel ist.“


Notizen aus Medienland. Wulff im Schafspelz. Von W.K. Nordenham

24. Januar 2012 | Kategorie: Artikel, Notizen aus Medienland, Wulff

§1 Die Würde des Menschen ist antastbar. Sie zu missachten und zu benutzen ist Aufgabe aller medialen Gewalt.                                              (Entwurf für ein Grundgesetz der Tagespresse)

Mit der Geburt des Tagschreibers aus der Geistverlassenheit des Dünkels schloss sich der Ring der modernen demokratischen Unkultur.                    Karl Hauer (Das Gehirn des Journalisten.  Aus „Die Fackel“ und DAS ROTE HEFT )

Kölner Stadtanzeiger      05.01.12

Schausten und die 150-Euro-Frage

Bundespräsident Christian Wulff im TV-Interview

Eigentlich sollte es ja um den Bundespräsidenten gehen. Aber der heimliche – und unfreiwillige – Mittelpunkt von Bürogesprächen und Internetforen ist seit der Ausstrahlung des Wulff-Interviews am Mittwochabend Bettina Schausten.(…)

Nach dem Interview des Bundespräsidenten in ARD und ZDF bleibt vor allem eine Frage offen: Zahlt Bettina Schausten wirklich (so viel) Geld für Übernachtungen bei Freunden? (…)

Wulff war nervös, aber gut vorbereitet. (…)

(…)Aber vielleicht passte es auch. Der biederen Mittelmäßigkeit dieses Bundespräsidenten standen die Interviewer an diesem Abend an biederer Mittelmäßigkeit nichts nach. Humorlos, pharisäerhaft, uninspiriert. Mehr als die 150-Euro-Frage wird von diesem Gespräch deshalb nicht bleiben. Und ein schlagkräftiger Bundespräsident hätte das genutzt. (…)

„Bild“ will Nachricht veröffentlichen 05.01.12

Die „Bild“-Zeitung geht in die Offensive und will nun die umstrittene Mailbox-Nachricht veröffentlichen, die der Bundespräsident bei Chefredakteur Kai Diekmann hinterlassen hat. Dazu will das Blatt die Zustimmung von Wulff einholen.

Hamburger Abendblatt   6.1.12

Berlin. „Die Redaktion bedauert diese Entscheidung.“ Kurz nach 16 Uhr am Donnerstag bildete die finale Reaktion der „Bild“-Zeitung den Schlusspunkt eines Briefwechsels, der für Bundespräsident Christian Wulff noch ein Nachspiel haben könnte. Einer Veröffentlichung seines Anrufs auf der Mobilbox von „Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann stimmte der Präsident trotz der Bitte Diekmanns nicht zu.

Hamburger Abendblatt   16.01.2012

Dem „Spiegel“ liegt nach eigenen Angaben eine Hotelrechnung vor, die Groenewold während des Oktoberfestes beglichen habe. Dieser habe damit nach eigener Aussage auch einen Teil der Kosten für die Unterbringung des Ehepaares Wulff übernommen. Wulffs Anwalt sagte dem Magazin dazu, sein Mandant habe eine eigene Hotelrechnung bekommen.(…) Groenewolds Anwalt sagte dem Blatt: „Mein Mandant hat dafür, dass Herr Wulff eine bessere Zimmerkategorie erhält, 200 Euro pro Übernachtung bezahlt. Es waren insgesamt zwei Nächte, also 400 Euro.“ Von der Kostenübernahme habe Wulff nichts gewusst.

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Der nette Kalauer „Wulff im Schafspelz“ ist mir, anders herum gedacht, auch eingefallen; spielt Herr Wulff eben nicht den verkleideten Wolf, sondern gibt die Rolle des Schafs, das mit seinem Blöken die Aufmerksamkeit nimmersatter Pressewölfe auf sich zieht. Aber lassen wir den Mann mal einen Augenblick beiseite, der es offensichtlich nicht recht kann und auch für sich selbst nichts. Ebenso zu vernachlässigen ist die „biedere Mittelmäßigkeit“ obiger Artikel, deren vollständige Lektüre ich dem Leser deshalb erspare. Auch das verkniffene, blutleere Geschwafel eines Hubertus Heil oder eines Oppermann zu dem Thema sei übergangen; denn ein Skandal ist immer zuerst ein Skandal des Journalismus, wie auch die obigen Zeilen zum Präsidenteninterview belegen. In anderen Gazetten findet sich Ähnliches. Da werden die Fragen an den Präsidenten kritisiert, die Art der Formulierung und dessen Antworten, versteht sich. Was hat er getan? Er hat sich einen Privatkredit mit Hilfe der Frau eines Freundes beschafft, dem er keinen Posten oder Auftrag verschafft hat und einen Bankkredit zu Konditionen, die er – als Präsident – bei etwas Nachdenken nicht hätte annehmen sollen. Aber der Präsident war und ist eben nur der Herr Wulff.  Dazu leistete er sich als Präsident einen unbeherrschten Anruf, was nur insofern unter seiner Würde war, als der  ihm gut bekannte Angerufene des Anrufs unwürdig war; handelte es sich doch um einen der Vordenker des gemeinen Bundesbürgers. Da versteht der Bundesblätterwald, in den man nichts hineinrufen muss, damit um so mehr herausschallt, keinen Spaß. Die selbsternannte Generalinquisition der Organe der Presse in Wort, Bild und Bild-Zeitung, der keine Organtransplantation gegen den täglichen Aussatz hülfe, wo die undeutlichste Ahnung für eine deutliche Meinung ausreicht und deren Falschheit die Bigotterie des mittelalterlichen Originals um Längen überragt, vertritt eine Anklage, der kein anderes Gesetz zugrunde liegt, als das ihrer Selbstgerechtigkeit. Eine Spezies, die noch für jede Veranstaltung Freikarten bekommt und verlangt, sich überall mit Presseausweis vordrängt, hohe Spezialrabatte bei Autokauf, bei Banken, Versicherungen, für Reisen, in Geschäften, Hotels, bei insgesamt 1700 Firmen von weit über 400 € erhält und selbstverständlich für lau als geladener Gast in fast jedem Regierungsflugzeug für sitzt, spielt sich auf als arbiter elegantiarum. Dass der Bundespräsident im dritten Wahlgang gewählt wurde, sich naiv und dumm verhalten hat und dass er, wie man da sieht, der zweitbeste Kandidat war, das ist ab sofort ganz allgemein bekannt und nachweisbar. Der Journaille reicht aber noch nicht, was mir schon bis oben hin steht, dass sich nämlich die Bild-Zeitung zum Kronzeugen seriöser Berichterstattung stilisiert sehen darf. Eine Pressefreiheit, die sich ohne Gewissensbisse überall und immer herausnimmt, was sie nichts angeht, soll durch einen dümmlichen, aber keineswegs strafbaren Anruf bei ausgerechnet der Bild-Zeitung bedroht worden sein, die täglich ungeahndet den Geist der Leser allein durch ihr bloßes Erscheinen nicht nur bedroht, sondern Seite für Seite mit Phrase und Halbwahrheit massakriert? Wie zum Beweis dessen streckte das Produkt fortlaufender  Enthirnung vor Schloss Bellevue Schuhe in die Höhe und hielt diese Beleidigung aus Geistesschwäche für eine Demonstration, über die das Fernsehen betroffenheitschuldigst berichtete. Schon über das unlautere Motiv, von der Nachricht auf dem Anrufbeantworter gezielt verspätet zu sprechen, muss man nicht spekulieren, weil es Absicht war. Zwar hatte Herr Wulff hat sich bei Herrn Diekmann umgehend entschuldigt, und der hatte die Entschuldigung akzeptiert, aber das bedeutet nichts im Journalismus, weil akzeptierte Entschuldigungen eine Charakterschwäche darstellen, wenn dadurch die Steigerung der Auflage behindert wird, und diese Charakterschwäche kann sich kein Journalist erlauben, der einen Charakter hat, wie ein Journalist. Dennoch darf  die  Bild-Zeitung auf präsidiales Veto hin, das mitgeschnittene Telefonat nicht veröffentlichen, wo doch der Chefredakteur persönlich den Bundespräsidenten gebeten hatte, gewissermaßen auf  Augenhöhe. Warum hatte er gebeten, der angenommenen Entschuldigung zum Trotz? Um für Transparenz zu sorgen. Transparenz mit Hilfe der Bildzeitung? Das bedeutete die Wendung des Begriffs ins Gegenteil. Der geschäftstüchtige Täter gibt sich als selbstloser Zeuge  und erhofft, wie ein  ertappter Dieb, durch Verlage des vertraulichen Guts den zu Bestehlenden zu blamieren. Privatsphäre? Da könnte jeder kommen, und jeden hätte man gar nicht erst gefragt. Was Herr Wulff  losgelassen hat, kann sich ein jeder denken. Nur ein Redakteur  und der  Bundes-Bild-Bürger denken nicht. Der eine muss verweigern wegen der Auflage, der andere wegen der Geisteslage. Der Wortlaut wurde beiden auch nur solange erspart, bis die Diskretion der Bild-Zeitung dafür gesorgt hatte, dass der eher belanglose Inhalt unter dem Siegel der Verschwiegenheit bekannt wurde. Inzwischen weiß man, dass es nichts wirklich Überraschendes nur Ungeschicktes auf Band gab, und also zieht vor-Bild-lich investigativ das Extrablatt für den Nachrichtengourmet, der „Spiegel“, eine alte Hotelrechnung aus dem journalistischen Verdauungstrakt, zu Nutz und Frommen jenes Blattes, das Meinung produzieren muss, weil es sich zum ordentlichen Urteil schon immer unfähig wusste, damit auch die Leserschaft  nichts genau weiß und immer mehr von dem wissen will, was man nicht weiß und nicht wissen muss, und es  deshalb glaubt und daher immer ganz genau weiß, was kaum zu glauben ist.

Was auch nicht zu glauben ist, ist allerdings das, was sich die geballte Seriosität der journalistischen Diagonalintelligenz in Form von Herrn Deppendorf – der sich in Zukunft endgültig von Wilfried Schmickler vertreten lassen sollte – und vor allem Frau Schausten im Interview mit Christian Wulff leistete, beide legitimiert durch nichts, aber auch gar nichts, als ihr berufsbedingtes Dasein in Berlin. Über vierhundert Fragen der Presse zu den letzten zwanzig Jahren seines Lebens hatte Herr Wulff nach eigener Aussage im Vorfeld des Interviews zu bearbeiten und musste sich des Vorwurfs der Verzögerung erwehren, dass er es nicht schnell genug hinbekommen hätte mit seinen Antworten, wohingegen die ihm gegenüber sitzenden Nachrichtenhyänen, jeden auch nur Druckfehler umgehend zum Charakterdefizit erhoben hätten. Wer legitimierte überhaupt die Fragen auch nach Privatestem?  Wie schon gesagt, Herr Wulff war und ist Herr Wulff, und er ist Bundespräsident, aus welchen Gründen auch immer. Er ist der, von dem man wissen konnte und musste, dass er so ist, wie er ist und dass Angela Merkel ihn eben deshalb zum Präsidenten wählen ließ:  Als Biedermann für den deutschen Biedermann in all seiner Mittelmäßigkeit, und ohne jedes Genie gerät Anstand zur Minimalanforderung. Fast hat man den Eindruck, man nähme ihm eben das übel, „einfach“ – in des Wortes doppelter Bedeutung – nur so zu sein, wie das Schlitzohr von nebenan, dem man sich selbst auch ähnlich weiß oder es gern wäre. Er sagte im Interview das, was man sagen muss, wenn man bei Unanständigem erwischt wurde und sich zunächst vor unangenehmen Nachfragen drücken will. Das tat er im Rahmen seiner Möglichkeiten so überzeugend, wie sein jeweiliges Gegenüber Überzeugenderes umfänglich verabsäumte. Von Anbeginn spürte man bei allen  Fragen die unlautere  Absicht, einen Bundespräsidenten vorzuführen, vor allem bei Frau Schausten. Das war nicht degoutant, sondern einfach zum Kotzen. „Präsident auf Bewährung“ war noch die gelungenste der  missratenen Metaphern. Aber wenn die Dame vorwurfsvoll-gelogen, mit treuem Augenaufschlag mitteilt, „Ja,“ sie zahle bei ihren „Freunden“  für eine Übernachtung und zwar 150 €, dann wird es hochnotpeinlich. Inzwischen hat sie „relativiert“, was genügen muss für eine Journalistin, die schlicht gelogen und nicht nur  relativiert hat, wie etwa ein Bundespräsident, der nicht gelogen, kein Gesetz sicher gebrochen hat, wie ein Kanzler Kohl, aber alles relativiert und erst zu wenig gesagt und dann zu viel verschwiegen hat. Frau Schausten darf beim Fernsehen bleiben, Herr Wulff soll gehen. Das ZDF, dem es wohl die Sprache verschlagen hatte, mochte dazu  nichts sagen, weil es „um Herrn Wulff“ gehe. Ach so!  Ich bezahle übrigens Freunde nie, weil ich damit nachwiese, dass ich keine Freunde hätte und mich die, die ich habe, schon beim Angebot einer Bezahlung rauswerfen würden. Zugegeben, eine Ausnahme würde ich machen und würde Frau Schausten immer bezahlen, aber nie hereinlassen und wenn doch, dann hätte sie tatsächlich zu zahlen und zwar im Voraus. Man muss kein Prophet sein, um weitere, Enthüllung genannte Halbwahrheiten der Medien vorherzusagen, die sich um den Anstand, den sie bei anderen einfordern, keine Sorgen machen, weil dessen Missachtung das Pfund ist, mit dem sie Wucher treiben. Die Frage bleibt, wer oder was diese unkontrollierte Macht und ihr Unwesen legitimiert, die Leben umgehend aussaugt, wo sie allenfalls zu informieren gehabt hätte. Sie werden das Kind wie üblich in den von ihnen aufgedeckten Brunnen stürzen lassen, dann den Deckel wieder drauflegen, bis zum nächsten Mal. Sie werden alles darüber berichten und – mit Peinlichkeitsabstand – irgendwann später davon, dass sie sich für ihr Tun entschuldigt haben. Die Person Wulff ist mir mehr oder weniger gleichgültig, die Rolle der Presse nicht.  Wie gesagt, ein Skandal ist immer zuerst ein Skandal des Journalismus.


Entwicklung. Von Karl Kraus.

22. Januar 2012 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Entwicklung, Notizen zur Zeit

Was ich einmal fürs Leben gern möchte, das ist, einer sogenannten »Entwicklung« beiwohnen. Ich war schon dabei, wie Gerüchte entstanden, ich habe die Ausbreitung mancher Epidemie aus nächster Nähe miterlebt, aber das, was man eine Entwicklung nennt, habe ich noch nie mit eigenen Augen gesehen.    Karl Kraus

DIE FACKEL

Nr. 261—62 WIEN, 13. OKTOBER 1908 X. JAHR


Entwicklung.

Kürzlich las ich einen Vorschlag zur Abschaffung der deutschen Satire. Hätte ein Greisler nachgewiesen, dass auch der gesalzene Kaviar keine Volksnahrung sei, ich wär’s zufrieden gewesen. Aber er sagte, das Volk verlange bessere Nahrung. Die Satire auf vaterländische Übel habe sich überlebt, denn das Vaterland habe kein Übel mehr. Die bösen Zeiten der kulturellen Zerrissenheit seien vorüber und seit genau fünf Jahren sei die Entwicklung abgeschlossen. Und da es keinen Schwindel und keine Hässlichkeit mehr gibt, so ist auch kein ersichtlicher Grund für die geringste satirische Anstrengung vorhanden. Also ein Vorschlag zur Güte, der annehmbar wäre, wenn er nicht selbst die Satire auf ein noch wenig bebautes Feld verwiese, nämlich auf die Dummheit.

Was ich einmal fürs Leben gern möchte, das ist, einer sogenannten »Entwicklung« beiwohnen. Ich war schon dabei, wie Gerüchte entstanden, ich habe die Ausbreitung mancher Epidemie aus nächster Nähe miterlebt, aber das, was man eine Entwicklung nennt, habe ich noch nie mit eigenen Augen gesehen. Nicht einmal die Entwicklung eines Kindes, geschweige denn die eines Volkes. Wenn ich nach fünf Jahren in ein Familienhaus kam, so war es wohl nicht zu verkennen, dass der kleine Rudolf inzwischen gewachsen war, aber ich fragte mich sogleich, ob mir der Unterschied zwischen einst und jetzt auch aufgefallen wäre, wenn ich die ganze Zeit dabei gestanden, meine Hand auf seinem Kopfe gehalten oder wenigstens jeden Morgen nachgesehen hätte, ob er größer geworden sei. Ich glaube, um eine Entwicklung recht zu genießen, muss man sich von ihr überraschen lassen. Aber fünf Jahre im Leben eines Volkes sind vielleicht nicht einmal so viel wie ein Tag im Leben eines Kindes, und wenn man dort alle fünf Jahre nachsieht, so fällt einem keine Veränderung auf. Die Fähigkeit, eine Entwicklung zu übersehen, wächst mit der Entfernung, in der man von ihr steht, und nur dem sogenannten »historischen Sinn« ist es gegeben, sie aus unmittelbarer Nähe aufzuspüren. Der historische Sinn ist aber eine Eigenschaft, die man gerade bei den jüngeren Zeitgenossen antrifft, weil für sie jede Erfahrung den Reiz des Ungewohnten hat, jedes zeitliche Erlebnis zum Ereignis wird und jeder Glockenschlag eine Ewigkeit einläutet. Gewiss wäre der kleine Rudolf, von dessen Entwicklung ich mir erst Rechenschaft geben kann, wenn sie abgeschlossen sein wird, schon jetzt imstande, die Entwicklung des deutschen Volkes von gestern auf heute festzustellen. Die Häufigkeit dieser Erscheinung ist selbst wieder eine Tatsache der kulturellen Entwicklung, die man nicht übersehen darf. Denn seitdem die Zeitgeschichte täglich zweimal erscheint,  ist jeder in die Lage versetzt, Phrasen zu gebrauchen,  die sonst erst nach einem Jahrhundert in der Leute Mund kämen. So kann einer zum Beispiel behaupten, die deutsche Nation sei bis vor fünf Jahren in der Umbildung begriffen gewesen, seit damals aber habe sie pünktlich die Verpflichtung erfüllt, eine »aus heterogensten Ständen plötzlich nach außen einsgewordene Gemeinschaft innerlich zur homogenen Rasse zu verarbeiten«. Wer sollte leugnen, dass dies ein Ziel sei, aufs innigste zu wünschen? Wer außer den Satirikern ist so blind, nicht zu sehen, dass es über Nacht erreicht wurde? Jene glauben noch immer, an der Tafel einer Kultur zu sitzen, in deren Hause Prahlhans Küchenmeister ist. Wie Petron vom Gastmahl des Trimalchio sagt: »Nun folgte ein Gang, welcher unserer Erwartung nicht entsprach, doch zog er durch seine Neuheit aller Augen auf sich«, so sehen sie Wunder über Wunder,  und sind unzufrieden. Ein »Mischmasch von einem Spanferkel und anderem Fleische«, »ein Hase mit Flügeln, damit er dem Pegasus gleiche«, und »in den Ecken des Aufsatzes vier Faune, aus deren Schläuchen Brühe auf die Fische herunterfließt, die in einem Meeresstrudel schwimmen«. Zum Lob der Brühe singt ein ägyptischer Sklave mit abscheulicher Stimme ein Liedchen. Aber die satirischen Gäste finden sie trotzdem nicht schmackhaft und erdreisten sich, all ihr Salz hineinzuschütten. Und nachdem sie sich noch an der protzigen Aufschrift des hundertjährigen Falerners berauscht haben, träumen sie diesen Traum:

Die Entwicklung ist eine G. m. b. H., das Schicksal ist ein Kaufhaus des Westens, das Leben ist eine Stehbierhalle. Um die Seele des Menschen ringen Wertheim und Tietz. Zweimal täglich löst eine Generation die andere ab, aber die Zeitrechnung beginnt mit der Einführung der orthozentrischen Kneifer, der Reformglücksehe und der Eröffnung der Halenseer Terrassen. Alles, was vorher geschah, hat nur dazu gedient, die sogenannte Entwicklung vorzubereiten, wenn es sich nicht etwa zum Beweise der Homosexualität des Fürsten Eulenburg heranziehen lässt. Nicht nur die Geschichte, auch die Bibelforschung hat wertvolles Material geliefert, aus dem klar hervorgeht, wie seit Erschaffung der Welt alles auf eine Entwicklung hingearbeitet hat, die erst jetzt abgeschlossen vor uns liegt. Schon die Häufigkeit der Bemerkung »Und der Herr sprach« scheint darauf hinzudeuten. »Und der Herr sprach: Es ist ein Geschrei zu Sodom, das ist groß und ihre Sünden sind schwer … Da ließ der Herr Schwefel regnen auf Sodom …« Merkwürdig ist auch der Hinweis auf die Affäre von Loths Töchtern: »Also gaben sie ihrem Vater Wein zu trinken in dieser Nacht … Und sie wurden schwanger von ihrem Vater. Und die älteste gebar einen Sohn, den nannte sie Moab. Von dem kommen her die Moabiter, bis auf den heutigen Tag«. Und dann war wieder eine Leiter da, »die stand auf Erden und rührete mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel des Herrn stiegen daran auf und nieder«, denn es waren Flügeladjutanten Gottes … Hier verlässt der Traum die logische Linie und ist plötzlich an dem Punkt, wo die eigentliche Entwicklung ansetzt. Es braust ein Ruf wie Donnerhall:

Pauline, au au, au au, au au
Wie haben sie dir verhaun!

Fünf Jahre später schon ist der Spieß umgekehrt:

Und er rief: Geliebte Krause — immer mit der Hand lang
Machen Se doch ’ne kleine Pause — immer mit der Hand lang!

Die Entwicklung ist im Zuge, wir wissen, wie viel’s geschlagen hat. Zuerst hieß es bloß: Wir Deutsche fürchten Gott, aber sonst nichts in der Welt! Bald aber wird schüchtern hinzugesetzt: Und höchstens noch die strengen Masseusen! Es ist nicht schimpflich, sich im Frieden schlagen zu lassen, und kriegerische Tüchtigkeit steht nach wie vor in hohem Ansehen. Aber die Zeiten haben sich geändert. Früher versicherte die Schangsonette:

Ja, so ein Leudenant, so fesch und sauber,
Wirkt auf ein Mädchenherz als wie ein Zauber.

Jetzt singt zwar noch immer eine ganze Kompagnie:

Ja, wir sind doch ’ne eigne Rasse,
Zivil ist ganz ’ne faule Klasse!

Aber die es singen, sind uniformierte Mädchen … Die Satiriker träumen weiter. Von einer Politik, die durch eine eifrige Ausnützung der Verkehrsmittel, wie Post und Telegraph, sich in der ganzen Welt Geltung verschafft, da man einsehen gelernt hat, dass das gesprochene Wort nicht ausreicht. Von einer Justiz, die den Tod eines Angeklagten für keinen Vertagungsgrund hält, von einem Lauf der Gerechtigkeit, bei dem zuerst sie vor den Fürsten und dann die Fürsten vor ihr ohnmächtig werden, und überhaupt von all den Dingen, die man Schmutzereien nennt. Der Schlaf der Satiriker wird unruhig, aber sie haben nichts zu fürchten, denn zu ihren Häupten stehen die Schutzmänner Michael und Gabriel. Sie träumen von einer Welt der Speisehäuser, deren Portiers auf die Frage, was die Göttinnen im Stiegenraum mit der Verdauung zu tun haben, prompt die Auskunft geben: Herr, das hat doch den Zweck, um dem Schönheitssinne Rechnung zu tragen! … Die Satiriker wälzen sich auf ihrem Lager. Da sehen sie Böcklins Toteninsel mit allem Komfort der Neuzeit ausgestattet. Es ist erreicht. Die Entwicklung ist soeben auf ihrem Höhepunkt angelangt, die Nation zur homogenen Rasse verarbeitet. Und fünfundzwanzig Jahre hat es gebraucht, bis das Volk in den Besitz der unentbehrlichsten Schmutzereien gelangte, und nur fünf,  bis es die Kultur bekam … Die Satiriker erwachen. Die Polizeihunde Edith und Ruß bellten so laut.

Karl Kraus.