14. Mai 2012 | Kategorie: Notizen zur Zeit, Richard Schuberth
Richard Alexander Schubert ist Schriftsteller – unter anderem – und lebt in Wien. Die Lektüre seiner Schriften sei nochmals dem empfohlen, der den Kopf nicht nur als Huthalter oder Frisierobjekt missbraucht, besonders der Text:
Richard Schuberth 30 Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus
238 S. , EUR 24, Broschur mit Fadenheftung ISBN 978-3-85132-531-7, 2008
Der folgende zeitlose Text erschien vor ein paar Jahren unter dem Titel « Ein Waterloo der westlichen Spaßkultur» im «Standard» und trifft auf viele Comedyköpfe und Comedy-Konsumos zu. Mit der Bezeichung „Abrissbirne“, in passivischer Bedeutung, sei deren Halsaufsatz eine angemessene sprachliche Behausung zugewiesen. W.K. Nordenham
Wer Arschlöcher verarscht, ohne eine Welt ohne Arschlöcher zu wünschen, ist kein Kritiker, sondern ein Bandwurm. Richard Schuberth
BORAT oder warum Sascha Cohen seinen Faustdildo behalten kann.von Richard Schuberth
Im rumänischen Romadorf Glod am Südhang der Karpaten lebt ein Mann namens Nicu Tudorache. Vor einigen Jahren hat der heute 56-jährige Großvater bei einem Arbeitsunfall seinen rechten Arm verloren. Als Prothese trug er bis vor einem Monat einen Faustdildo – ein Geschenk des britischen Comedy-Stars Sacha Baron Cohen –, bis die Journalistin Carmiola Ionescu ihn aufklärte, was er da mit Klebeband am Armstumpf fixiert hatte und warum Millionen Arschlöcher in westlichen Kinos über ihn lachen.
Es muss über 15 Jahre her sein, dass Freunde und ich eine zweifelhafte Travestie zu einiger Fertigkeit brachten. Wir mischten uns als Agents provocateurs unter Menschen wie du, aber nicht ich. Um aus ihnen Sexismus, Alltagsfaschismus und Dummheit herauszulocken, gebärdeten wir uns noch faschistischer, sexistischer und dümmer als sie und gefielen uns dann augenzwinkernd als tolle Hechte im Karpfenteich der kritischen Realsatire. Am besten bewährte diese Methode sich, wenn wir in unseren eigenen, linken Kreisen fündig wurden. Ansonsten jedoch traten bald ihre Mängel, aber auch ihre Motive zutage. Zuallererst, dass die Tore zur Wahrheit, die wir mit viel Lärm einschlugen, gar nicht verschlossen waren, dass sich der heroische Nachweis also, wie dumm Dummköpfe und wie rechts Rechte sind, bloß in eben dieser banalen Tautologie erschöpfte; weiters, unseren kritischen Anspruch aber ganz schön verdächtig machte, angesichts der wiehernden Freude, wenn uns wieder ein Opfer in die Falle gegangen war, und der Enttäuschung, wenn es nicht den Scheißnazi gab, als den wir es gern haben wollten. Es war ein Jammer, viele dieser Spaßverderber hätten bei uns, die wir alle Querverbindungen des falschen Bewusstseins, ja sogar zum falschen Bewusstsein kannten, zuerst in die Lehre gehen sollen, um das zu werden, dessen wir sie überführen wollten.
Unsere Art der Aufklärung offenbarte nicht die chemische Konsistenz des Abschaums, sondern bloß unsere angemaßte Allmacht im Abschaumbad, an der unsere Fans, zumeist Schnösel mit Mittelschulabschluss und Neigung zum „Titanic“-Abonnement, parasitär teilhatten, da sie nicht die vorgebliche Kritik des Zynismus, sondern den Zynismus unserer Methode, nicht die Kritik des Faschismus, sondern das Herrenmenschliche unserer Tabubrüche beklatschten. Als einziger Effekt der Parodie anitsemitischer Stereotype zum Beispiel blieb eine niedrigere Hemmschwelle bei deren Anwendung und das Kokettieren mit ihrer Immoralität. So erteilte uns die Wirklichkeit mit erhobenem Zeigefinger einmal mehr die Lehre, dass sie die Satire stets abzuhängen weiß. Zurück bleibt die automatisierte Persiflage, die, weil sie die Schäbigkeit nicht zu fassen bekommt, zum Lehrmodell neuer Schäbigkeit wird.
Wie interessant, anhand Sacha Baron Cohens Film „Borat“ zu beobachten, wie diese Methode erneut aus denselben Gründen scheitert, jedoch auf eine ausgefuchstere Wirklichkeit stößt als damals, bei uns, im vorigen Jahrhundert.
Durch offene Türen
Als Ali G hat Cohen die Provokationsrealsatire, die so genannte „Mockumentary“, zu manchem satirischen Höhepunkt geführt, mit der Figur des kasachischen Fernsehreporters Borat Sagdijev indes ist er so provokant wie ein Exhibitionist in einem dänischen Swinger-Club. Vielleicht möchte Baron Cohen ja gar nichts aufdecken, sondern nur um der Geschmacklosigkeit willen geschmacklos sein, also die Teenager der Cineplex-Center dieser Welt zum Lachen bringen.
Deren Lachen aber wird vom lauteren Poltern intellektueller Köpfe übertönt, welche unaufhörlich aus schwarzen Rollkrägen bloppen und alle gleich aussehen, weil sie in derselben Retorte gezüchtet wurden; in einer Nährlösung, die sich aus Spaßkultur und einigen Semestern Geisteswissenschaften zusammensetzt. Es sind dieselben Schnösel, die damals schon auf die Prolos eintraten, welche wir hinterrücks niedergestoßen hatten; später hörte man sie in Studentenkneipen in ihrem Mittelstandsakzent enthusiastisch „Das is dodaal politikäli ingorrekt“ krächzen, ehe der Caterpillar des Verwertungsschicksals sie in ihre Kulturbüros, Zeitungsredaktionen und Wein-&-Literatur-Abfüllkoben schob. Von dort aus bestimmen sie, weil sie sonst nichts gelernt haben, die kulturellen Diskurse und weiden sich an ihrem verhängnisvollen Irrtum, anderthalb Stunden über Muschiwitze kichern und sich Amis, verlausten Kasachen und anderen Balkannegern überlegen zu fühlen, seien Akte subversiver Gesellschaftskritik. Sie lassen sich’s nicht nehmen: Ihr Till Eulenspiegel handle in hohem intellektuellen und ethischen Auftrag. Daran ist er selbst nicht unschuldig, zumindest kokettiert der jüdischstämmige Brite, welcher an der Universität Cambridge über ethnische Minderheiten diplomiert hat, mit dieser Lesart seiner Satire.
Der wundersamste, völlig unerwartete Effekt von „Borat“ aber ist, dass die Wirklichkeit die Satire diesmal nicht übertreffen will, sondern es vorzieht, sie gelassen in ihre Schranken zu weisen. Sie lässt Cohen über den Zynismus seiner Gymnasiastenscherze stolpern und entkleidet diese durch unbeeindruckte Passivität ihres aufklärerischen Scheins. Einige Beispiele. Wann immer es Borat nicht gelingen will, seine Opfer als reaktionäre Idioten zu entlarven, flüchtet er sich in die sexuelle Provokation, doch seine Gesprächspartner, zumeist smarter als er, finden das nicht schockierend, sondern schlichtweg lächerlich. Die Feministin Linda Stein bricht souverän das Gespräch ab, anstatt ihn dorthin zu treten, wovon er am meisten spricht. Ein Fahrlehrer, in dessen markantes Gesicht das europäische Vorurteil sich gerne einen Redneck und Macho hineindenken würde, mahnt ihn zu mehr Respekt gegenüber Frauen, und die fundamentalistischen Christen, in deren Messe sich Borat schleicht, entpuppen sich als hilfsbereite, humorvolle Menschen. Cohens Versuche, die politisch Inkorrekten als auch die politisch zu Korrekten zu bashen, gehen allesamt in die Hose, aus der sie gekrochen sind – vorne wie hinten. Da hilft nur noch Niedertracht. Einem Autoverkäufer will er Minderheitenfeindlichkeit suggerieren, indem er ihn fragt, welchen Schaden eine Gruppe Zigeuner am Wagen anrichtete, wenn man sie damit rammen würde. Doch auch hier will die Rechnung nicht aufgehen, da das Publikum sofort merkt, dass der gute Mann nur deshalb Rede und Antwort steht, weil er das Wort „Zigeuner“ überhört hat und allgemein von Menschen ausging. Wieder nichts! Was tun? Ab in den Bible-Belt! Der ultrarechte Rodeoveteran Bobby Rowe spendet ihm endlich die Sager, um die er dauernd bettelt, doch selbst das Publikum im Rodeostadium von Salem, Virginia, reagiert mit Bestürzung, als Borat durchs Mikrofon seinem Wunsch Ausdruck verleiht, die Amerikaner würden jeden Mann, jede Frau und jedes Kind im Irak töten.
Wenn er aber dann mit dem Absingen einer fiktiven Hymne Kasachstans (zur Melodie der US-amerikanischen) die Dummheit jeglichen Nationalismus konzentriert, gibt Cohen eine Kostprobe davon, wozu er fähig wäre, wenn Klug- und Redlichkeit einander in den Sattel hülfen. Desgleichen die präzise Persiflage antisemitischer Paranoia, als er erkennen muss, bei Juden Bed & Breakfast bezogen zu haben, oder als netter Gag en passant: der Kopf des Bären im Kühlschrank seines Produzenten. Cohen hat das Zeug, subversive Unterhaltung zu liefern. Macht aber wenig Gebrauch davon. Auch die Figur des Borat ist im Grunde ein guter Wurf, der leider daneben geht.
Satire darf sich so viel Obszönität, Zynismus und Geschmacklosigkeit leisten, wie sie will, so diese als Mittel zur tieferen Einsicht in die verborgenen Obszönitäten, Zynismen und Geschmacklosigkeiten der Gesellschaft dienen. Dass das möglich ist, dafür bürgt eine würdige Traditionslinie, die sich von Jonathan Swift über Nestroy bis zu den „Simpsons“ spannt und der sich Baron Cohen nur in Ansätzen anschließen will. Denn der Spaß am Dreck ist größer als der Ekel davor, und der Witz affirmiert, indem er sich ihm angleicht, den Dreck, und wem das zu ethisch ist, dem möge das rationale Argument reichen, dass dieser Witz nur ein schlechtes Duplikat des Drecks schafft, und plötzlich vor der Erkenntnis staunen, dass Ethik und Ratio hierin als eineiige Zwillinge auftreten.
Ein Waterloo der westlichen Spaßkultur
Zeitgeistiger ausgedrückt: Wer Arschlöcher verarscht, ohne eine Welt ohne Arschlöcher zu wünschen, ist kein Kritiker, sondern ein Bandwurm. Wer aber unter dem Vorwand von Gesellschaftskritik die Bandwürmer mit Überlegenheitsgefühlen füttert, ist selbst ein Arschloch. Sacha Baron Cohen als solches zu bezeichnen, als so großes sogar, dass alle Faustdildos dieser Welt es nicht ausreichend stopfen könnten, würde jeder Ehrenbeleidigungsklage standhalten, so sich die Einwohner des Romadorfs Glod als Zeugen der Anklage gewinnen ließen. Denn was die Journalisten Bojan Pancevski und Carmiola Ionescu kürzlich über die Produktionsbedingungen des Films „Borat“ herausfanden, könnte den Ort zum Waterloo der westlichen Spaßkultur werden lassen. „Borats Heimatdorf“ liegt nämlich nicht in Kasachstan, sondern in Rumänien.
Und dass Cohen gerade einen realen Staat für sein fiktives Zurückgebliebistan aussuchte, dürfte gleichfalls kein Zufall sein. Kasachstan, multikulturell, gemäßigt islamisch und relativ frei von Judenfeindlichkeit, ist weit entfernt und würde keine als Pizzaboten verkleideten Gotteskrieger an Cohens Adresse schicken. Wir sehen: Feig- und Gemeinheit verabreichen sich in ihm die Bruderfaust.
Ob Rumänien oder Kasachstan, den westlichen Kulturjunkies ist es einerlei, sie bedürfen der ewigen Balkanfiktion eines schmierigen halbzivilisierten Ostens, um ihn wegen des Drecks, mit dem sie ihn beschmieren, zu verspotten – oder zu romantisieren.
Die Einwohner von Glod hätten bereits stutzig werden sollen, als Cohen ein Pferd vor sein Auto spannen ließ und sie dazu angehalten wurden, Kühe in ihre Wohnzimmer zu führen. Bis zu Drehschluss lebten sie in dem Glauben, wie Pancevski und Ionescu in ihrem Artikel für „Mail on Sunday“ berichten, man würde die Welt durch eine Sozialreportage auf die menschenunwürdigen Lebensbedingungen in ihrem Dorf aufmerksam machen. Diese Welt hingegen lernte sie als Menschen kennen, die es mit ihren Tieren und Kindern treiben, Pferdeurin trinken und gerne Juden jagen. Da lachen ganze Cambridger Rudermannschaften und die Schnösel krächzen wieder ihr unerträgliches „Hi Hi, politikäli ingorrekt!“
Der Mann, den Borat im Vorübergehen als „größten Vergewaltiger“ des Dorfes vorstellt, bekam – so wie der „Dorfschweißer und -abtreiber“, so wie die Frau, die er als seine Schwester und vierterfolgreichste Hure Kasachstans vorstellt – 14 Lei (4 Euro) für seine Statistenrolle. Cohen & Produzenten stiegen bei dem Deal erwartungsgemäß als Gewinner aus: Sie spielten mit „Borat“ an einem Wochenende 20 Millionen Dollar ein und bekamen als Mehrwert auch noch die Gastfreundschaft und die gegrillten Schweine einer Gemeinde ohne Arbeit, Hoffnung und Fließwasser.
Glod war gut gewählt, nirgends in Europa sind Menschen recht- und schutzloser. Gemäß der Hackordnung des kapitalistischen Systems ist es nur konsequent, dass die Unterhaltungsindustrie ihre Häufchen dorthin macht, wo Kläger unwahrscheinlich sind, und sich den Hintern mit der Gutgläubigkeit der so Erniedrigten auswischt. Da grunzen die rechten wie die linken Säue in Ein- und Niedertracht, Letztere mit der Rechtfertigung, Ali G alias Cohen sei ein Guter, weil er Antisemitismen aufdecke. Aber vielleicht macht er diese nur noch salonfähiger. Wer weiß!
So viele modische walisische und iranische und jüdische Ethnizitäten Sacha Baron Cohen zur Legitimation seines Campushumors auch auffahren lässt, in seinem Witz verbiedert sich der Cambridge-Schnösel mit dem gehobenen linksliberalen Mittelstand gegen die Schwächeren. Warum, fragt sich die Feministin Linda Stein, welcher Borat im Film nichts anhaben konnte, in der „Times“ ganz zu Recht, „hat Cohen nicht die Heuchler aus Harvard oder andere Intelligentsia verspottet?“ Ganz einfach, weil’s sich Pionierinnen der Frauenrechte und rumänische Zigeuner einfacher beschmutzen lässt als das eigene Nest. Eine „Mockumentary“ von neuem, von höherem Niveau ließe Nicu Tudorache, den Einarmigen aus Glod, in den Westen reisen und souverän all die pseudolinken Spaßkultur-Schnösel in all ihrer prachtvollen Lächerlichkeit erstrahlen. Am Höhepunkt eines solchen satirischen Kunstwerks würde er an der Tür von Baron Cohens Luxusapartment in L. A. läuten, nicht um seinen und seines Dorfes Anteil an den 20 Millionen zu fordern, sondern den Faustdildo zurückzuerstatten, und zwar dort, wo er hingehört.
07. Mai 2012 | Kategorie: Artikel, Justiz, Menschenwürde, Seelenmord, Was ein Mensch wert ist
Spiegel-online 12.3.2012
Kind für Missbrauch gezeugt – Langjährige Haftstrafen für Paar aus NRW
Die Vorwürfe waren ungeheuerlich: Melanie R. und Benjamin P. sollen ein Kind gezeugt haben, nur um es später sexuell zu missbrauchen. Das tat der Vater dann auch, als das Baby fünf Wochen alt war. Jetzt muss das Paar ins Gefängnis.
Essen.- Der Plan war so entsetzlich, die Umsetzung so grausam, dass die Tat „außerhalb des Bereichs unserer Vorstellung“ liege, betonte Staatsanwalt Gabriel Wais am Landgericht Essen. Melanie R., 26, und Benjamin P., 27, sollen ein Kind gezeugt haben – aus einem einzigen Grund: Sie wollten es sexuell missbrauchen.
Am Montag wurde das Urteil in dem Fall gesprochen. Der 27-jährige Angeklagte aus Gelsenkirchen wurde zu a c h t , seine ein Jahr jüngere Partnerin zu f ü n f J a h r e n Haft wegen schweren sexuellen Kindesmissbrauchs verurteilt. D i e R i c h t e r b l i e b e n m i t d e m S t r a f m a ß für Benjamin P. u n t e r d e n von Staatsanwalt Wais g e f o r d e r t e n z e h n J a h r e n . Ein Gutachter hatte beide Angeklagten für v o l l s c h u l d f ä h i g erklärt.(…)
„Die Angeklagten haben einen schutzlosen Säugling zum bloßen Objekt ihrer sexuellen Begierde degradiert und seine M e n s c h e n- w ü r d e m i t F ü ß e n g e t r e t e n „, sagte der Vorsitzende Richter Heinz – Günter Busold in der Urteilsbegründung. Die Richter hätten im Verlauf des Prozesses in Abgründe menschlichen Handelns und Denkens geblickt, die sie “ f a s s u n g s l o s und b e t r o f f e n machen“, so der Vorsitzende.(…)
Wenn irgendjemand Zweifel an Sinn und Zweck der Frage gehabt hat, zu was eine human sich nennende Spezies nicht nur fähig, sondern auch imstande sei, welche Schandtat sie nie und nimmer begehen würde und was ihr unbedingt zuzutrauen sei, hier wird ihm Antwort zuteil. Das schlimmste Vorstellbare greift zu kurz, der Schrecken trifft mitten ins Herz. Sei es der schriftstellerische Auswurf des kranksten Gehirns oder seien es die Phantasieauswürfe psychopathischer Filmemacher, nichts, aber auch gar nichts, vermag die Ungeheuerlichkeit zu einzuholen, die durch die obige Mitteilung belegt wird und vor der noch der ärgste Alptraum kapitulieren muss. Der Artikel geht ins Detail. Ich sehe mich nicht in der Lage mehr von dem wiederzugeben, was niemand wissen will und keiner sich vorstellen kann. Lange habe ich gezögert überhaupt zu schreiben, da mir das Wort fehlte während der Zorn wuchs. Es gibt Ereignisse, die den Geist lähmen, in Lethargie verfallen lassen, wo man den Aufschrei der geschundenen Weltseele zu hören glaubt und sich das Bewusstsein aus Selbstschutz der Mitteilung verweigern will. Beim Ausbruch des 1.Weltkrieges, des großen aus einer Sektlaune begonnenen Völkermordens und als die Zeit durch die Nazis 1933 in Blut getaucht wurde, da wieder niemand Einhalt geboten hatte, gab es diese Momente für Karl Kraus. Das große Grauen beschreibt auf alle Zeit Auschwitz. Aber im scheinbar menschlich Kleinen, welches eben darum für groß zu gelten hat, wiederholt sich der tägliche Schrecken oder vielmehr, er setzt sich fort.
Die abgenutzte Metapher vom menschlichen Abgrund kann im vorliegenden Fall in ihrer Bedeutung vollendet und dem Wortsinn getreu erfahren werden, weil erst das Adjektiv „menschlich“ den Abstieg in die tiefsten Tiefen des Ekels und der Widerwärtigkeit beglaubigt und man allein deshalb dem Abgrund die Bodenlosigkeit zutraut, in die ein Tier sich nie je verirren würde. Kein noch so abgründiges Höllenwerk scheint der Unnatur des Menschen wesensfremd, eben gerade weil sie menschlich ist. Das ewig Menschliche zieht nicht hinan, sondern hinab. Die dünne Schicht kultureller Errungenschaften, welche die humane Unzulänglichkeit als Zivilisation ausgibt, kaschiert notdürftig, was dem Tier an Natur verloren ging, als es Mensch ward. Ohne das Menschsein je erlangt zu haben, gedachte dieser Missgriff der Schöpfung das scheinbar Animalische von sich abwerfen zu dürfen ohne sich über die Folgen Rechenschaft zu geben, die bloßes Menschsein nach sich ziehen würde. Nichts einfacher und daher unnützer als mit dem Kulturmäntelchen zudecken zu wollen, was selbst durch ein Zaubergewand nur unsichtbar, aber niemals ungeschehen gemacht werden könnte. Sophokles Wort aus Antigone – “ Ungeheuer ist viel, doch nichts ist ungeheurer als der Mensch“- habe ich immer so verstanden, dass im Ungeheuer Mensch nicht nur Ungeheures sondern vor allem Ungeheuerliches angelegt ist.
Der Abscheu wird verstärkt durch die Tatsache, dass die Justiz selbst dieses unfassbare Delikt nicht des Höchstmaßes der Strafe für würdig erachtete, sondern Gründe fand, die offenbar Gelegenheit zu Milde boten. Die Würde des schutzlosen Säuglings sei „mit Füßen getreten“ worden, so der Richter. Selten klang eine Phrase so dümmlich und deplaziert. Wenn doch nur dieses geschehen wäre! Und zwischen den sodann aufgebotenen Befindlichkeitsadjektiven „fassungslos und betroffen“ scheint mir sehr wohl ein wertiger Unterschied, wobei man auf die Reihenfolge achte, welche die Floskel zuverlässig von echter Empfindung scheidet und den Mangel an Tiefe aufdeckt. Es ist das Urteil des Gerichtes, das die Würde des Kindes nochmals missachtete, als es die Tat der Höchststrafe für unwürdig befand. Schon lange – spätestens seit dem Versagen der belgischen Justiz im Falle Dutroux – bedrängt mich eine perfide Ahnung, als ob nämlich ein Hodenträger dem anderen aus unbewusstem Skrotalkonformismus nolens-volens etwas nachzusehen hätte, wenn es um Missbrauch geht, der ja durchweg von Männern ausgeführt wird oder wurden schon einmal vermehrt weibliche Päderasten entdeckt, die sich an Kindern oder gar Säuglingen vergingen? Vergewaltigen Frauen reihenweise Jungen und Mädchen oder hat auch hier die Riege der Hodenträger inklusive der per ordre Vaticano Depravierten die absolute Hoheit? Viel zu oft habe ich noch nach Jahrzehnten den Schmerz der Opfer miterleben müssen, als sie mir davon sprachen, wie wenn es gestern gewesen wäre, da man ihre Seele mordete. Im Talmud und später im Koran heißt es, dass wenn jemand einen Menschen tötet, so solle es sein, als hätte er die ganze Menschheit getötet. Es ist an der Zeit, dass sich die Hodenträger aus der Gesetzgebung für männliche Sexualtäter heraushalten und bei der Aburteilung dieser Taten vom Richteramt wegen Befangenheit zurücktreten, vielmehr dies Frauen überlassen, in der zugegeben vagen Hoffnung, dass Würde nicht noch mehr beschädigt und der Seelenmord, den jede dieser Taten unstrittig zur Folge hat, als solcher wahrgenommen wird und strafrechtlich im Sinne des Opfers wahrhaft gewürdigt.
23. April 2012 | Kategorie: Artikel, Marc Aurel
Marc Aurel
Drittes Buch
1. Wir müssen uns nicht bloß sagen, dass das Leben mit jedem Tage schwindet und ein immer kleinerer Teil davon übrig bleibt, sondern auch bedenken, dass es ja ungewiss ist, wenn man ein längeres Leben vor sich hat, ob die Geisteskräfte immer gleichbleiben und zum Verständnis der Dinge, so wie zu all den Wahrnehmungen und Betrachtungen hinreichen werden, welche uns auf dem Gebiete des Göttlichen und Menschlichen erfahren machen. Denn wie viele werden nicht im Alter kindisch! Und bei wem ein solcher Zustand eingetreten ist, dem fehlt es zwar nicht an der Fähigkeit zu atmen, sich zu nähren, sich etwas vorzustellen und etwas zu begehren, aber das Vermögen, sich frei zu bestimmen, die Reihe der Pflichten, die ihm obliegen, zu überschauen, die Erscheinungen sich zu Stück für Stück zu verdeutlichen und darüber, ob’s Zeit zum Sterben sei oder was sonst einer durchaus geweckten Denkkraft bedarf, sich klar zu werden – das ist bei ihm erloschen. Also muss man sich beeilen, nicht bloß weil uns der Tod mit jedem Tage näher tritt, sondern auch weil die Fähigkeit, die Dinge zu betrachten und zu verfolgen, oft vorher aufhört.
2. Merkwürdig ist, wie an den Erzeugnissen der Natur auch die, welche nur beiläufige Merkmale sind, einen gewissen Reiz ausüben. So machen z.B. die Risse und Sprünge im Brot, die nicht in dieser Absicht vom Bäcker gesetzt waren, die Esslust besonders rege. Ebenso bei den Feigen, die, wenn sie überreif sind, aufbrechen, und bei den Oliven, die gerade wegen der Stellen geschätzt werden, wo sie nahe daran sind faul zu werden. Die niederhängenden Ähren, die Stirnfalte des Löwen, der Schaum am Munde des Ebers und manches andere dergleichen hat freilich keinen Reiz, wenn man es für sich betrachtet; aber weil es uns in den Werken der Natur und im Zusammenhange mit ihnen entgegentritt, erscheint es als eine Zierde und wirkt anziehend. Fehlt es uns also nur nicht an Empfänglichkeit und an Tiefe des Blicks in die Welt der Dinge, so werden wir kaum Etwas von solchen Nebenumständen auffinden, das uns nicht angenehm vorkäme. Ebenso werden wir dann aber auch z.B. wirkliche Tierkämpfe nicht weniger gern ansehen, als die Darstellungen, die uns Maler und Bildhauer davon geben; und unser keusches Auge wird mit gleichem Wohlgefallen auf der würdigen Gestalt des Greises wie auf der liebreizenden des Mädchens ruhen. Doch gehört dazu eben eine innige Vertrautheit mit der Natur und ihren Werken.
3. Hippokrates hat viele Krankheiten geheilt, dann ist er selbst an einer Krankheit gestorben. Die Chaldäer prophezeiten vielen den Tod, dann hat sie selber das Geschick ereilt. Alexander, Pompejus, Cäsar, nachdem sie so manche Stadt von Grund auf zerstört und in der Schlacht so viele Tausende ums Leben gebracht hatten, schieden sie selbst aus dem Leben. Heraklit, der über den Weltbrand philosophierte, starb an der Wassersucht, den Demokrit brachte das Ungeziefer um, den Sokrates ein Ungeziefer anderer Art. Kurz, zu einem jeden heißt es einmal: Du bist eingestiegen, gefahren, im Hafen eingelaufen, so steige nun aus! Geht es in ein anderes Leben, so gewiss in keines, das ohne Götter ist. Ist es aber ein Zustand ohne Empfindung, auch gut. Wir hören auf von Leid und Freude hingehalten zu werden und verlassen ein Behältnis von umso schlechterer Art, je edler der Eingeschlossene war; denn der ist Geist und göttlichen Wesens, jenes aber Staub und Materie.
4. Verschwende Deine Zeit nicht mit Gedanken über das, was andere angeht, es sei denn, dass Du jemand damit förderlich sein kannst. Du versäumst offensichtlich notwendigere Dinge, wenn Dich nichts weiter beschäftigt, als was der macht und aus welchem Grunde er so handelt, was er sagt oder will oder anstellt. So etwas zieht den Geist nur ab von der Beobachtung seiner selbst. Man muss alles Eitle und Vergebliche aus der Kette der Gedanken zu entfernen suchen, vornehmlich alle müßige und nichtswürdige Neugier, und sich nur an solche Gedanken gewöhnen, über die wir sofort, wenn uns jemand fragt, was wir gerade denken, gern und mit aller Offenheit Rechenschaft geben können, so dass man gleich sieht, hier ist alles lauter und gut, und so wie es einem Gliede der menschlichen Gesellschaft geziemt, hier wohnt nichts von Genusssucht und Lüsternheit, nichts von Zank oder Neid oder Misstrauen, nichts von alle dem, wovon der Mensch nur mit Erröten gestehen könnte, dass es seine Seele beschäftige. Und ein solcher Mensch – dem es, nun ja auch nicht an dem Streben nach Auszeichnung fehlen kann – ist ein Priester und Diener der Götter, der sich des Gottes in sich zu bedienen weiß, dass ihn keine Lust beflecken, kein Schmerz verwunden, kein Stolz berücken, nichts Böses überhaupt ihn reizen kann. Er ist ein Held in jenem großen Kampfe gegen die Leidenschaft, und eingetaucht in das Wesen der Gerechtigkeit vermag er jegliches Geschick von ganzer Seele zu begrüßen. Ein solcher Mensch aber denkt selten und nur, wenn es das allgemeine Beste erfordert, an das, was andere sagen oder tun oder meinen. Sondern die eigene Pflicht ist der einzige Gegenstand seines Tuns, so wie das, was ihm das Schicksal gesponnen, im Gewebe des Ganzen der Hauptgegenstand seines Nachdenkens. Dort hält er Tugend, hier den guten Glauben. Und in der Tat ist jedem zuträglich, was sich mit ihm zuträgt nach dem Willen des Schicksals. Stets ist er eingedenk, dass alle Vernunftwesen einander verwandt sind, und dass es zur menschlichen Natur gehört für andere zu sorgen. Nach Ansehen strebt er nur bei denen, die ein naturgemäßes Leben führen, da er ja weiß, wie die, die nicht so leben sind, was und mit wem sie zu Hause und außer Haus, am Tage und bei Nacht, ihr Wesen treiben. Das Lob derer also, die sich nicht selber zu genügen wissen, kann ihm nichts sein.
5. Tue nichts mit Widerwillen, nichts ohne Rücksicht auf das Gemeinwohl, nichts ungeprüft, nichts wobei Du noch Bedenken hast. Drücke Deine Gedanken aus ohne Ziererei. Sei kein Schwätzer und kein Vieltuer. Sondern mit einem Worte, der Gott in Dir führe das Regiment, welchem Geschlecht, Alter, Beruf, welcher Abkunft und Stellung Du nun auch angehören magst, so dass Du immer in der Verfassung bist, wenn Du abgerufen werden solltest, gern und willig zu folgen. – Eidschwur und Zeugenschaft musst Du immer entbehren können. – Innerlich aber sei heiter, nicht bedürfend, dass die Hilfe von Außen Dir komme, auch nicht des Friedens bedürftig, den andere uns geben können. – Steh‘, heißt es, nicht: lass` Dich stellen!
6. Kannst Du im menschlichen Leben etwas Besseres finden als Gerechtigkeit, Wahrheit, Mäßigung, Tapferkeit oder mit einem Wort, als den Zustand der Seele, wo Du in Allein – was eine Sache der Vernunft und Selbstbestimmung ist – mit Dir selbst, in dem aber, was ohne Dich geschieht, mit dem Schicksale zufrieden bist? Kannst Du, sage ich, etwas entdecken, das noch besser ist als dies, so wende Dich dem mit ganzer Seele zu und freue Dich, dass Du das Beste aufgefunden hast. Es sollte aber in Wahrheit nichts Besseres geben, als den in Dir wohnenden Gott, der Deine Begierden sich untertänig zu machen weiß, der die Gedanken prüft, den sinnlichen Empfindungen, wie Sokrates sagt, sich zu entziehen sucht, und der sich selbst den Göttern unterwirft und für das Wohl der Menschen Sorge trägt. Solltest Du finden, dass gegen dieses alles andere gering ist und verschwindet, so folge nun auch keiner anderen Stimme und lass in Deine Seele nichts eindringen, was, wenn es Dich einmal angezogen, an der ungeteilten Pflege jenes herrlichen Schatzes, Deines Eigentums, Dich hindert. Denn diesem Gute, dem Höchsten nach Wesen und Wirkung, irgendetwas anderes wie Ehre, Herrschaft, Reichtum, Genuss an die Seite setzen zu wollen, wäre Torheit, weil uns all dieses, selbst wenn wir es nur ein wenig anziehend finden, dann mit einem Male ganz in Beschlag nimmt und verführt. Darum sage ich, man solle einfach und unbedingt das Bessere wählen und ihm anhängen. Das Bessere ist aber auch immer zugleich das Zuträgliche, sei es deswegen, dass es uns gut ansteht als denkenden oder als empfindenden Wesen. Finden, wir nun Etwas, das uns als Vernunftwesen zu fördern verspricht, so müssen wir es festhalten und pflegen. Ist es aber nur unserem Empfinden vereinbar, so haben wir es mit Bescheidenheit und schlichtem Sinn hinzunehmen, und nur dafür zu sorgen, dass wir uns unser gesundes Urteil bewahren und fortgesetzt die Dinge gehörig prüfen. –
7. Bilde Dir nie ein, dass etwas gut für Dich sein könnte, was Dich nötigt, irgendwann einmal die Treue zu brechen, die Scham hintanzusetzen, jemanden zu hassen, argwöhnisch zu sein, in Verwünschungen auszubrechen, Dich zu verstellen oder Dinge zu begehren, bei denen man Vorhänge und verschlossene Türen braucht. Derjenige, welcher die Vernunft, seinen Genius und deren kultische Würdigung jederzeit die erste Rolle spielen lässt, wird nie zu einer Tragödie Anlass geben oder seufzen oder die Einsamkeit oder große Gesellschaft suchen, weder auf der Jagd noch auf der Flucht sein, und er wird leben im höchsten Sinne des Worts. Ob seine Seele auf lange oder kurze Zeit im Leibe eingeschlossen bleiben soll, kümmert ihn wenig; er würde, auch wenn er bald scheiden müsste, dazu ganz ebenso sich auf den Weg machen, wie wenn es gälte, irgendetwas anderes mit Anstand und mit edlem Wesen auszuführen; sondern wofür er durch das ganze Leben Sorge trägt, ist nur das, dass seine Seele sich stets in einem Zustande befinde, der einem in Bezug auf das Zusammenleben mit andern, angewiesenen vernünftigen Wesen geziemt.
8. In der Seele eines Menschen, der in Zucht und Schranken gehalten worden und so gehörig geläutert ist, findet man nun auch jene Wunden und Schäden nicht mehr, die so häufig unter einer gesunden Oberfläche heimlich fortwuchern. Nichts Knechtisches ist in ihm und nichts Geziertes; sein Wesen hat nichts besonders Verbindliches, aber auch nichts Abstoßendes; ihn drückt keine Schuld und Nichts, was ihn zu Heimlichkeiten nötigte. Auch hat ein solcher Mensch wirklich »vollendet«, wenn ihn das Schicksal ereilt, was man von andern oft nur mit demselben Rechte sagt, wie von dem Helden eines Dramas, dass er ein Tragischer sei, noch wie das Stück geendet hat.
9. Was die Fähigkeit zu urteilen und Schlüsse zu machen anbetrifft, so musst Du sie in Ehren halten. Denn es wohnt ihr die Kraft bei, zu verhüten, dass sich in Deiner Seele irgendeine Ansicht festsetze, welche widernatürlich ist oder einem vernunftbegabten Wesen unangemessen. Ihre Bestimmung ist, uns geistig unabhängig zu machen, den Menschen zugetan und den Göttern gehorsam.
10. Alles Übrige ist Nebensache. Das Wenige, was ich gesagt habe, reicht völlig hin. Dabei bleibe man sich bewusst, dass jeder eigentlich nur dem gegenwärtigen Augenblicke lebe. Denn alles Übrige ist entweder durchlebt oder in Dunkel gehüllt. Also ein Kleines ist es, was jeder lebt, und ein Kleines, wo er lebt – das Winkelchen Erde, und ein Kleines der Ruhm, den er hinterlässt, sei es auch der Größte, damit er sich forterbe in der Kette dieser Menschenkinder, die so geschwind sterben müssen und die nicht einmal sich selbst begreifen, geschweige denn den, der längst vor ihnen gestorben!
11. Den aufgestellten Maximen ist aber noch eine hinzuzufügen. Von jedem Gegenstande, der sich Deinem Nachdenken darbietet, suche Dir stets einen klaren und bestimmten Begriff zu machen, so dass Du weißt, was er an sich und was er nach allen seinen Beziehungen ist, damit Du ihn selbst sowohl wie seine einzelnen Momente nennen und bezeichnen kannst. Denn nichts erzeugt in dem Grade hohen Sinn und edle Denkungsart, als wenn man imstande ist, sich von jeder im Leben gemachten Erfahrung, dem Wesen ihres Gegenstandes und ihrer Vermittlung nach, Rechenschaft zu geben, und alle Begebenheiten so anzusehen, dass man bei sich überlegt, in welchem Zusammenhang sie erscheinen und welche Stelle sie in demselben einnehmen, welchen Wert sie für das Ganze haben und was sie dem Menschen bedeuten, diesem Bürger eines höchsten Reiches, zu dem sich die übrigen Reiche wie die einzelnen Häuser zu der ganzen Ortschaft verhalten; dass man weiß, was man jedes Mal vor sich hat, von wo es sich überliefert hat und wie lange es bestehen wird, und wie sich der Mensch dazu zu verhalten habe, ob milde oder tapfer, zweifelnd oder vertrauensvoll, sich hingebend oder in sich selbst ruhend; so dass man von jedem Einzelnen sagen muss, entweder es kommt von Gott oder es ist ein Stück jenes großen Gewebes, das das Schicksal spinnt, und so und so gefügt, oder endlich, dass es von einem unsrer Genossen und Brüder kommt, der nicht gewusst hat, was naturgemäß ist. Du aber weißt es, und darum begegnest Du ihm, wie es das natürliche Gesetz der Gemeinschaft fordert, mit Liebe und Gerechtigkeit. Und auch in den gleichgültigen Dingen zeigst Du ein ihrem Wert entsprechendes Verhalten.
12. Wenn Du der gesunden Vernunft folgst und bei dem, was Dir zu tun gerade obliegt, mit Eifer, Kraft und Liebe tätig bist, ohne dass Dich ein anderer Gedanke dabei leitet, als der, Dein Inneres rein zu erhalten, als solltest Du bald Deinen Geist aufgeben, so ist es recht. Wenn Du Dich auf diese Weise zusammennimmst und dabei weder zögerst noch eilst, sondern es Dir genügen lässt, an der Dir von Natur aus zu Gebote stehenden Energie und an der Wahrhaftigkeit, die aus jedem Deiner Worte hervorleuchten muss, so wirst Du ein glückliches Leben führen. Und ich wüsste nicht, wer Dich daran hindern sollte.
13. Wie die Ärzte zu raschem Kurieren stets ihre Instrumente und Eisen zur Hand haben, so musst Du zum Zwecke der Erkenntnis göttlicher und menschlicher Dinge die Lehren der Philosophie in steter Bereitschaft halten, damit Du in allem, auch im Kleinsten, immer so handelst wie einer, der sich des Zusammenhanges beider bewusst ist. Denn Menschliches lässt sich ohne Beziehung auf Göttliches ebenso wenig richtig behandeln als umgekehrt.
14. Hör endlich auf, Dich selbst zu verwirren! Es ist nicht daran zu denken, dass Du dazu kommst, was Du Dir für spätere Zeiten Deines Lebens vorbehalten hattest, dies und jenes zu treiben und zu lesen und wieder hervorzusuchen. Darum gib solche törichte Pläne auf, und wenn Du Dich selber lieb hast, schaffe Dir – noch vermagst Du es – eiligst die Hilfe, derer Du bedarfst!
15. In manchem Wort, das unbedeutend scheint, liegt oft ein tieferer Sinn. Wie Mancher sagt: »Ich will doch sehen, was es gibt«, und denkt nicht daran, dass es dazu eines anderen Schauens bedarf, als des der Augen.
16. Leib, Seele, Geist – das war jene Dreiheit: der Leib mit seinen Empfindungen, die Seele mit ihren Begierden und der Geist mit seinen Erkenntnissen. Aber Bilder und Vorstellungen haben auch unsere Haustiere; von Begierden in Bewegung gesetzt werden auch die wilden Tiere oder Menschen, die nicht mehr Menschen sind, ein Phalaris, ein Nero; in allem sich vom dem Geiste, was vorteilhaft scheint, leiten zu lassen, ist auch die Sache solcher, welche das Dasein der Götter leugnen, welche das Vaterland verraten, welche die schändlichsten Dinge tun, sobald es nur niemand sieht. Wenn insofern also jenes etwas allen Gemeinsames ist, so bleibt als das dem Guten Eigentümliche nur übrig, das ihm vom Schicksal Bestimmte willkommen zu heißen, das Heiligtum in seiner Brust nicht zu entweihen, sich nicht durch die Mengen der Gedanken zu verwirren, sondern im Gleichmaß zu verharren, der Stimme des Gottes zu folgen, nichts zu reden wider die Wahrheit und nichts zu tun wider die Gerechtigkeit. Und dass man dabei ein einfaches, züchtiges und wohlgemutes Leben führt, daran sollte eigentlich niemand zweifeln. Geschähe es aber, wir würden deshalb doch keinem zürnen, noch von dem Wege weichen, der an das Ziel des Lebens führt, bei welchem wir unbefleckt, gelassen, wohlgerüstet und willig dem Schicksal gehorchend ankommen müssen.
09. April 2012 | Kategorie: Artikel, Grass, Notizen zur Zeit
Stern.de 08.04.2012
Nach kritischem Gedicht: Israel lässt Grass nicht mehr einreisen.
Die Empörung über das Gedicht von Günter Grass hat jetzt handfeste Folgen: Der israelische Innenminister erklärt den deutschen Schriftsteller zur Persona non grata – und verhängt ein Einreiseverbot.
Literaturnobelpreisträger Günter Grass darf wegen seines israelkritischen Gedichts nicht mehr nach Israel einreisen. Die israelische Regierung erklärte ihn am Sonntag zur Persona non grata, bestätigte ein Sprecher des Innenministers Eli Jischai.
Die Sache ist zu ernst, um sie dem Boulevard und den Tagschreibern zu überlassen. Günter Grass darf also nicht mehr nach Israel reisen, was er wohl auch so nicht vorgehabt hätte, obwohl er doch nur eine abwegige, unsinnige Meinung geäußert hat, die des Aufhebens nicht wert gewesen wäre. Manchmal jedoch hat Dummschwätzerei unerwartete Folgen, denn offensichtlich ist es Herrn Grass gelungen, ein ganzes Land, bzw. dessen Regierung persönlich zu beleidigen. Demokratien pflegen mit abweichenden Meinungen minderer Qualität souveräner umzugehen und sich mit dem Wort zu wehren, ohne ordnungspolitische Mittel bemühen zu müssen. Übertriebene Empfindlichkeit und überzogene Reaktionen kennt man gemeinhin nur von totalitären Regimen. Man könnte die israelische Reaktion mit Fug und Recht als die Fortsetzung des groben Unfugs ansehen, den Herr Grass verzapft hat, gäbe es da nicht die Worte des großen Mahners Leibowitz, der hier zitiert sei. Im Jahre 1987 beschrieb Leibowitz die Situation eines Staates, der am siebten Tag des Sechs-Tage-Krieges mit der Besetzung eroberten Landes sein Gesicht veränderte. Er sah einen Staat geprägt von den Notwendigkeiten der Geheimpolizei und des Geheimdienstes voraus, der sich zwangsläufig verändern müsste.
„Mein politisches Programm fordert die Teilung des Landes zwischen dem jüdischen und palästinensischen Volk. Ich lehne den Autonomieplan in aller Schärfe ab, den dieser Plan ist nichts anderes als ein heuchlerischer und gemeiner Trick um die jüdische Gewaltherrschaft über das palästinensische Volk aufrechtzuerhalten. (…)
Wir müssen uns damit abfinden, dass weder Nablus, noch Hebron und Jericho zu unserem Hoheitsgebiet gehören werden, die Araber aber werden sich damit abfinden müssen, dass Galiläa nicht zu ihrem Staat gehören wird. Wenn beide Seiten einer derartigen Teilung nicht zustimmen, dann wird es keine Lösung geben – dann gehen beide Völker einer Katastrophe entgegen. (…)
Die Welt bringt heute dem Staat Israel keinerlei Achtung und Wertschätzung mehr entgegen, von aufrichtiger Sympathie erst gar nicht zu sprechen, so wie es in den ersten Jahren nach der Staatsgründung in weiten Kreisen üblich war. Aber noch viel entscheidender ist, dass der Staat Israel dem meisten Juden selbst immer fremder wird – und gerade nicht den schlechtesten unter ihnen –, weil der Staat in seinem heutigen Zustand wirklich keinen Lorbeerkranz für das Jüdische Volk darstellt. Der ehemalige Ministerpräsident Jitzhak Rabin hat einmal in einem Moment geistiger Erleuchtung gesagt: Warum ist es eine Katastrophe, wenn wir nach Etz-Zion (ein Block jüdischer Siedlungen in Westjordanien, zurzeit unter israelischer Herrschaft) mit einem jordanischen Visum fahren? Wenn wir das Land teilen, dann werden die Einwohner von Etz-Zion an ihrem Platz bleiben, mitsamt der großen Talmudschule, und es wird dort zahlreiche jüdische Siedlungen geben, so wie es arabische Dörfer in Israel gibt. (…)
(…) Heute bin ich sicherlich gegen diese Siedlungen, denn sie verhindern die Teilung des Landes. Das ist ja auch Zweck und Absicht dieser Siedlungen. Aber, wenn die Teilung durchgeführt ist, und beide Staaten in friedlicher Koexistenz leben, dann sehe ich durchaus die Möglichkeit für eine Errichtung von jüdischen Siedlungen jenseits der Grenzlinie. Wenn wir den Weg, auf dem wir uns befinden fortsetzen – dann wird das zum Untergang des Staates Israel führen, und zwar im Zeitraum von ein paar Jahren, dazu braucht es noch nicht einmal Generationen. Im Inneren wird Israel ein Staat mit Konzentrationslagern für Menschen wie mich werden, sobald Vertreter der rechtsnationalen Parteien (…) an die Macht kommen. (…)“
Eine Gesellschaft unter andauernden Belagerungs und Besetzung muss sich verändern. Dieser Zustand dauert für die israelische Gesellschaft seit schon fünfundvierzig Jahren an und hat inzwischen bis zu einer freiwilligen Einmauerung geführt. Es gibt seither kaum noch Attentate, aber was ist mit der Freiheit? Der Freiheit für Andersdenkende? Religiöse Fanatiker verwischen die Trennung von Kirche und Staat. Avigdor Liebermann darf auf Grund seiner Äußerungen schon als Faschist betrachtet werden, und er ist nicht allein. Die Regierung Israels hat empfindlicher, reaktionärer und intoleranter reagiert, als es von einem demokratischen Gemeinwesen zu erwarten gewesen wäre. Anstatt den Unfug eines Grass zu ignorieren, folgt sie dem Muster totalitärer Staaten und gibt sich hochoffiziell beleidigt. Das ist mehr als Unfug. Leibowitz hätte es nicht überrascht, und mich macht es traurig. Auf welchem Wege ? Israel muss umkehren und Frieden mit sich machen, indem es ihn mit den anderen macht – im eigenen Interesse, bevor es vollends in Faschismus abgleitet. Und wenn die Palästinenser nicht wollen wie gewöhnlich und auch das Lebensrecht Israels nicht anerkennen, dann muss man raus aus der Westbank – auf eigene Faust. Dann kann man sich um sich selbst kümmern und da es niemand sonst tut, die Welt vor der Bedrohung durch eine iranische Atombombe bewahren.
06. April 2012 | Kategorie: Artikel, Grass, Notizen zur Zeit
Welt online 6.4.2012
Hamburger Autorenvereinigung
Grass-Gedicht „Viel Lärm um nichts“
Hamburg (dpa/lno) – Die Hamburger Autorenvereinigung rät in der kontroversen Debatte um das jüngste Gedicht von Günter Grass zu mehr Gelassenheit. «Man sollte alles ein wenig tiefer hängen», sagte der Vorsitzende der Vereinigung, Gino Leineweber, am Freitag in Hamburg. «Betrachtet man das sogenannte Gedicht ohne den Namen des Verfassers, wäre es dieser Kunstform kaum zugeordnet worden. Es ist literarisch ein Nichts, dessen Bewertung die Mühe nicht lohnt.» Wenn Günter Grass seinen Ruf schädige, sei das bedauerlich für einen Schriftsteller, der Großes geleistet habe, betrachte man sein gesamtes künstlerisches Schaffen.
Der Hamburger Autorenvereinigung ist zu danken, auch dafür, dass sie das Lebenswerk von dem „Gedicht“ trennt. Wenn sie meint, eine Bewertung lohne d e r Mühe nicht, so trifft das zu, unterschlägt aber die Wirkung der Grass-Polemik auf antisemitische Wirrköpfe und Schweinehunde im Geiste, deren Gebell aus dumpfen Tiefen umgehend herauftönt und die deutsch-reflexartig den Täter für das Opfer halten möchten. Darin gibt es seit den Tagen des SS-Mannes Grass eine stillschweigende Übereinstimmung im Lande der Vollstrecker, die sich mit übertreibender Kritik am Opfer zu exkulpieren versucht. Welche Atombombe wir man fürchten müssen? Die israelische oder die Iranische? Das zu verwechseln erfordert eine betrrächtliche Atherosklerose. Die Folgen hätten einem Günter Grass bewusst gewesen sein müssen. Dennoch hat er sich geäußert. Aber so wenig ich zum Beispiel von einem Bäcker etwas über Fleischwaren erfahren möchte oder umgekehrt vom Metzger über Backwaren, so wenig will ich von einem Schriftsteller pseudopolitisch , ja was eigentlich, informiert, belehrt, belästigt, ungebeten mit dem Wort überfallen werden? Es ist von Allem etwas dabei. Profundere Köpfe haben sich zu dem Thema geäußert, allen voran sei Jeschajahu Leibowitz genannt, der schon 1987 mit vierundachtzig Jahren mehr wusste, als Günther Grass bis heute offenbar vergessen hat.
Dass Selbstgerechtigkeit als einzig verwirklichte Gerechtigkeit zu gelten hat, ist weder neu noch überraschend. Aber es stößt in diesem Falle besonders unangenehm auf, wenn Herr Grass sich nämlich nach der Veröffentlichung seiner Polemik, als zu Recht Kritisierter, selbstredend in die Opferrolle begibt und sich darin gefällt, plötzlich das ein oder andere an seinem Text zu relativieren, der doch „mit letzter Tinte“ in die Tastatur getippt, als ultima ratio angelegt war und dem nun minima ratio nachgewiesen wird. Denn was da als „Gedicht“ daherkommt, erfüllt weder nach Form noch nach Inhalt die Erwartung oder den Anspruch, den man nur an einen Prosatext des noblen Preisträgers stellen dürfte. Es erweist sich , dass er vom Subjekt, über das er schreibt, keine Ahnung hat und daher objektiv nur fehlen kann, und er beweist sich daher weniger als Antisemit, denn als alter Simpel. Karl Kraus hätte ihn unter die „Mausis“ eingereiht. Der Herr macht sich eben nur mausig, und der bislang bemerkenswerteste Vorschlag, auf den Unsinn zu reagieren, stammt von dem scharfsinnigen Menschen Sebastian K., der vorschlug, Günter Grass anzuzeigen, wegen groben Unfugs nämlich!
02. April 2012 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Notizen zur Zeit, Zeitzeugnisse/Zeitzeugen
Es gibt eine Aktualität, die zeitlos ist. Die Frage, warum Karl Kraus von Jahr zu Jahr lebendiger wird, kann von niemandem besser beantwortet werden als im Folgenden von ihm selbst. Haufenweise haben sich an ihm die Geister, Plagegeister und Ungeister abgearbeitet und mit dem Versuch ihres Gegenbeweises den Beweis geführt, dass er recht hat. W.K.Nordenham
DIE FACKEL
Nr. 261—62 WIEN, 13. OKTOBER 1908 X. JAHR
Apokalypse.
(Offener Brief an das Publikum.)
»Den Überwinder will ich genießen
lassen von dem Lebensholze, das in
meines Gottes Paradiese steht.«
Am 1. April 1909 wird aller menschlichen Voraussicht nach die ‚Fackel‘ ihr Erscheinen einstellen. Den Weltuntergang aber datiere ich von der Eröffnung der Luftschiffahrt.
Eine Verzögerung beider Ereignisse aus äußeren Gründen könnte an meiner Berechtigung nichts ändern, sie vorherzusagen, und nichts an der Erkenntnis, dass beide ihre Wurzel in demselben phänomenalen Übel haben: in dem fieberhaften Fortschritt der menschlichen Dummheit.
Es ist meine Religion, zu glauben, dass Manometer auf 99 steht. An allen Enden dringen die Gase aus der Welthirnjauche, kein Atemholen bleibt der Kultur und am Ende liegt eine tote Menschheit neben ihren Werken, die zu erfinden ihr so viel Geist gekostet hat, dass ihr keiner mehr übrig blieb, sie zu nützen.
Wir waren kompliziert genug, die Maschine zu bauen, und wir sind zu primitiv, uns von ihr bedienen zu lassen. Wir treiben einen Weltverkehr auf schmalspurigen Gehirnbahnen.
Aber siehe, die Natur hat sich gegen die Versuche, eine weitere Dimension für die Zwecke der zivilisatorischen Niedertracht zu missbrauchen, aufgelehnt und den Pionieren der Unkultur zu verstehen gegeben, dass es nicht nur Maschinen gibt, sondern auch Stürme! »Hinausgeworfen ward der große Drache, der alle Welt verführt, geworfen ward er auf die Erde … Er war nicht mächtig genug, einen Platz im Himmel zu behaupten.« Die Luft wollte sich verpesten, aber nicht »erobern« lassen. Michael stritt mit dem Drachen, und Michel sah zu. Vorläufig hat die Natur gesiegt. Aber sie wird als die Klügere nachgeben und einer ausgehöhlten Menschheit den Triumph gönnen, an der Erfüllung ihres Lieblingswunsches zugrundezugehen. Bis zum Betrieb der Luftschiffahrt geduldet sich das Chaos, dann kehrt es wieder! Dass Montgolfieren vor hundert Jahren aufstiegen, war durch die dichterische Verklärung, die ein Jean Paul davon gab, gerechtfertigt für alle Zeiten; aber kein Gehirn mehr, das Eindrücke zu Bildern formen könnte, wird in den Tagen leben, da eine höhenstaplerische Gesellschaft zu ihrem Ziel gelangen und der Parvenü ein Maßbegriff sein wird. Es ist ein metaphysisches Bubenspiel, aber der Drache, den sie steigen lassen, wird lebendig. Man wird auf die Gesellschaftsordnung spucken können, und davon würde sie unfehlbar Schaden nehmen, wenn ihr nicht schlimmere Sendung zugedacht wäre …
Die Natur mahnt zur Besinnung über ein Leben, das auf Äußerlichkeiten gestellt ist. Eine kosmische Unzufriedenheit gibt sich allenthalben kund, Sommerschnee und Winterhitze demonstrieren gegen den Materialismus, der das Dasein zum Prokrustesbett macht, Krankheiten der Seele als Bauchweh behandelt und das Antlitz der Natur entstellen möchte, wo immer er ihrer Züge gewahr wird: an der Natur, am Weibe und am Künstler. Einer Welt, die ihren Untergang ertrüge, wenn ihr nur seine kinematographische Vorführung nicht versagt bleibt, kann man mit dem Unbegreiflichen nicht bange machen. Aber unsereins nimmt ein Erdbeben als Protest gegen die Einrichtungen der Demokratie ohneweiters hin und zweifelt keinen Augenblick an der Möglichkeit, dass ein Übermaß menschlicher Dummheit die Elemente empören könnte.
Die Tragik einer gefallenen Menschheit, die für das Leben in der Zivilisation viel schlechter taugt als eine Jungfer fürs Bordellwesen, und die sich mit der Moral über die Syphilis trösten möchte, ist verschärft durch den unaufhörlichen Verzicht auf alle seelische Erneuerung. Ihr Leib ist ethisch geschmiert und ihr Hirn ist eine camera obscura, die mit Druckerschwärze ausgepicht ist. Sie möchte vor der Presse, die ihr das Mark vergiftet hat, in die Wälder fliehen, und findet keine Wälder mehr. Wo einst ragende Bäume den Dank der Erde zum Himmel
hoben, türmen sich Sonntagsauflagen. Hat man nicht ausgerechnet, dass eine amerikanische Zeitung für eine einzige Ausgabe eine Papiermasse braucht, für deren Herstellung zehntausend Bäume von zwanzig Metern Höhe gefällt werden müssen? Es ist schneller nachgedruckt als nachgeforstet. Wehe, wenn es so weit kommt, dass die Bäume bloß täglich zweimal, aber sonst keine Blätter tragen! »Und aus dem Rauche kamen Heuschrecken über die Erde, welchen Macht gegeben wurde, wie die Skorpionen Macht haben … Menschen ähnlich waren ihre Gesichter … Und es wurde ihnen geboten, weder das Gras auf der Erde, noch etwas Grünes, noch irgend einen Baum zu beschädigen, sondern bloß die Menschen, die nicht haben das Siegel Gottes an ihren Stirnen.« Aber sie beschädigten die Menschen, und schonten die Bäume nicht.
Da besinnt sich die Menschheit, dass ihr der Sauerstoff vom Liberalismus entzogen wurde und rennt in den Sport. Aber der Sport ist ein Adoptivkind des Liberalismus, er trägt schon auf eigene Faust zur Verdummung der Familie bei. Kein Entrinnen! Auch wenn sie auf dem Misthaufen des Lebens Tennis spielen, die Schmutzflut kommt immer näher und das Sausen aller Fabriken übertönt so wenig ihr Geräusch wie die Klänge der Symphoniekonzerte, zu denen die ganz Verlassenen ihre Zuflucht nehmen.
Inzwischen tun die Politiker ihre Pflicht. Es sind Märtyrer ihres Berufs. Ich habe gehört, dass Österreich Bosnien annektiert hat. Warum auch nicht? Man will alles beisammen haben, wenn alles aufhören soll. Immerhin ist solch ein einigend Band eine gewagte Unternehmung, — in Amerika, wo man uns so oft verwechselt hat, heißt es dann wieder, Bosnien habe Österreich annektiert. Erst die Auflösung unseres Staates, von der in der letzten Zeit so viel die Rede war und die sich separat vollziehen wird, weil die anderen Weltgegenden nicht in solcher Gesellschaft zugrundegehen wollen, dürfte allem müßigen Gerede ein Ende machen. Aber es ist eine weitblickende Politik, den Balkan durcheinanderzubringen. Dort sind die Reserven zur Herstellung des allgemeinen Chaos. Die Wanzen mobilisieren schon gegen die europäische Kultur.
Die Aufgabe der Religion, die Menschheit zu trösten, die zum Galgen geht, die Aufgabe der Politik, sie lebensüberdrüssig zu machen, die Aufgabe der Humanität, ihr die Galgenfrist abzukürzen und gleich die Henkermahlzeit zu vergiften.
Durch Deutschland zieht ein apokalyptischer Reiter, der für viere ausgibt. Er ist Volldampf voraus in allen Gassen. Sein Schnurrbart reicht von Aufgang bis Niedergang und von Süden gen Norden. »Und dem Reiter ward Macht gegeben, den Frieden von der Erde zu nehmen, und dass sie sich einander erwürgten.« Und alles das ohne Absicht und nur aus Lust am Fabulieren.
Dann aber sehe ich ihn wieder als das Tier mit den zehn Hörnern und den sieben Köpfen und einem Maul gleich dem Rachen eines Löwen. »Man betete das Tier an und sprach: Wer ist dem Tiere gleich? Und wer vermag mit ihm zu streiten? Ein Maul ward ihm zugelassen, große Dinge zu reden.«
Neben diesem aber steht die große Hure, »die mit ihrer Hurerei die Welt verdarb«. Indem sie sich allen, die da wollten, täglich zweimal hingab. »Von dem Wollustwein ihrer Unzucht haben alle Völker getrunken, und die Könige der Erde buhlten mit ihr.«
Wie werden die Leute aussehen, deren Großväter Zeitgenossen des Max Nordau gewesen sind? Bei Tage Börsengeschäfte abgewickelt und am Abend Feuilletons gelesen haben? Werden sie aussehen?! Weh dir, dass du der Enkel eines alten Lesers der ‚Neuen Freien Presse‘ bist! Aber so weit lässt es die Natur nicht kommen, die ihre Beziehungen zur Presse streng nach deren Verhalten gegen die Kultur eingerichtet hat. Einer journalisierten Welt wird die Schmach eines lebensunfähigen Nachwuchses erspart sein: das Geschlecht, dessen Fortsetzung der Leser mit Spannung entgegensieht, bleibt im Übersatz. Die Schöpfung versagt das Imprimatur. Der intellektuelle Wechselbalg, den eine Ratze an innerer Kultur beschämen müsste, wird abgelegt. Der Jammer ist so groß, dass er gleich den Trost mitbringt, es komme nicht so weit. Nein, der Bankert aus Journalismus und Hysterie pflanzt sich nicht fort! Über die Vorstellung, dass es ein Verbrechen sein soll, der heute vorrätigen Menschensorte die Frucht abzutreiben, lacht ein Totengräber ihrer Missgeburten. Aber die Natur arbeitet schon darauf hin, den Hebammen jede Versuchung zu ersparen! Die Vereinfachung der Gehirnwindungen, die ein Triumph der liberalen Bildung ist, wird die Menschen selbst zu jener geringfügigen Arbeit unfähig machen, deren Leistung die Natur ihnen eigens schmackhaft gemacht hat. So könnte die Aufführungsserie des »Walzertraums« einen jähen Abbruch erfahren!
Aber glaubt man, dass die Erfolgsziffern der neuen Tonwerke ohne Einfluss auf die Gestaltung dieser Verhältnisse bleiben werden? Dass sie noch vor zwanzig Jahren möglich gewesen wären? Eine Welt von Wohllaut ist versunken, und ein krähender Hahn bleibt auf dem Repertoire; der Geist liegt auf dem Schindanger, und jeder Dreckhaufen ist ein Kristallpalast … Hat man den Parallelismus bemerkt, mit dem jedesmal ein neuer Triumph der »Lustigen Witwe« und ein Erdbeben gemeldet werden? Wir halten bei der apokalyptischen 666 … Die misshandelte Urnatur grollt; sie empört sich dagegen, dass sie die Elektrizität zum Betrieb der Dummheit geliefert haben soll. Habt ihr die Unregelmäßigkeiten der Jahreszeiten wahrgenommen? Kein Frühling kommt mehr, seitdem die Saison mit solcher Schmach erfüllt ist!
Unsere Kultur besteht aus drei Schubfächern, von denen zwei sich schließen, wenn eines offen ist, nämlich aus Arbeit, Unterhaltung und Belehrung. Die chinesischen Jongleure bewältigen das ganze Leben mit einem Finger. Sie werden also leichtes Spiel haben. Die gelbe Hoffnung! … Unseren Ansprüchen auf Zivilisation würden allerdings die Schwarzen genügen. Nur, dass wir ihnen in der Sittlichkeit über sind. In Illinois hat es eine weiße Frau mit einem Neger gehalten. Das Verhältnis blieb nicht ohne Folgen. »Nachdem eine Menge Weißer zahlreiche Häuser im Negerviertel in Brand gesteckt und verschiedene Geschäfte erbrochen hatten, ergriffen sie einen Neger, schossen zahlreiche Kugeln auf ihn ab und knüpften die Leiche an einem Baum auf. Die Menge tanzte dann unter ungeheurem Jubelgeschrei um die Leiche herum.« In der Sittlichkeit sind wir ihnen über.
Humanität, Bildung und Freiheit sind kostbare Güter, die mit Blut, Verstand und Menschenwürde nicht teuer genug erkauft sind. Nun, bis zu dem Chinesentraum versteige ich mich nicht: aber einem gelegentlichen Barbarenangriff auf die Bollwerke unserer Kultur, Parlamente, Redaktionen und Universitäten, könnte man zujauchzen, wenn er nicht selbst eine politische Sache wäre, also eine Gemeinheit. Als die Bauern eine Hochschule stürmten, wars nur der andere Pöbel, der seines Geistes Losung durchsetzen wollte. Die Dringlichkeit, die Universitäten in Bordelle zu verwandeln, damit die Wissenschaft wieder frei werde, sieht keine politische Partei ein. Aber die Professoren würden als Portiers eine Anstellung finden, weil die Vollbärte ausgenützt werden können und die Würde nun einmal da ist, und die Kollegiengelder wären reichlich hereingebracht.
»Den Verzagten aber, und Ungläubigen, und Verruchten, und Totschlägern, und Götzendienern, und allen Lügnern, deren Teil wird sein in dem Pfuhl, der mit Feuer und Schwefel brennt«.
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Was vermag nun ein Satirenschreiber vor einem Getriebe, dem ohnedies in jeder Stunde ein Hohngelächter der Hölle antwortet? Er vermag es zu hören, dieweil die anderen taub sind. Aber wenn er nicht gehört wird? Und wenn ihm selbst bange wird?
Er versinkt im Heute und hat von einem Morgen nichts zu erwarten, weil es kein Morgen mehr gibt, und am wenigsten eines für die Werke des Geistes. Wer heute noch eine Welt hat, mit dem muss sie untergehen.
Umso sicherer, je länger die äußere Welt Stand hält. Der wahre Weltuntergang ist die Vernichtung des Geistes, der andere hängt von dem gleichgiltigen Versuch ab, ob nach Vernichtung des Geistes noch eine Welt bestehen kann.
Darum glaube ich einige Berechtigung zu dem Wahnwitz zu haben, dass die Fortdauer der ‚Fackel’ ein Problem bedeute, während die Fortdauer der Welt bloß ein Experiment sei.
Die tiefste Bescheidenheit, die vor der Welt zurücktritt, ist in ihr als Größenwahn verrufen. Wer von sich selbst spricht, weil kein anderer von ihm spricht, ist lästig. Wer niemand mit seiner Sache zu belasten wagt und sie selbst führt, damit sie nur einmal geführt sei, ist anmaßend. Und dennoch weiß niemand besser als ich, dass mir alles Talent fehlt, mitzutun, dass mich auf jedem Schritt der absolute Mangel dessen hemmt, was unentbehrlich ist, um sich wenigstens im Gedächtnis der Mitlebenden zu erhalten, der Mangel an Konkurrenzfähigkeit. Aber ich weiß auch, dass der Größenwahn vor der Bescheidenheit den Vorzug der Ehrlichkeit hat und dass es eine untrügliche Probe auf seine Berechtigung gibt: seinen künstlerischen Ausdruck. Darüber zu entscheiden, sind freilich die wenigsten Leser sachverständig, und man ist auch hier wieder auf den Größenwahn angewiesen. Er sprach: Selbstbespiegelung ist erlaubt, wenn das Selbst schön ist; aber sie erwächst zur Pflicht, wenn der Spiegel gut ist. Und jedenfalls ist es sogar ehrlicher, zum dionysischen Praterausrufer seiner selbst zu werden, als sich von dem Urteil der zahlenden Kundschaft abhängig zu machen. Die Journalisten sind so bescheiden, die Keime geistiger Saat für alle Zeiten totzutreten. Ich bin größenwahnsinnig: ich weiß, dass meine Zeit nicht kommen wird.
Meine Leser! Wir gehen jetzt ins zehnte Jahr zusammen, wir wollen nicht nebeneinander älter werden, ohne uns über die wichtigsten Missverständnisse geeinigt zu haben.
Die falsche Verteilung der Respekte, die die Demokratie durchführte, hat auch das Publikum zu einer verehrungswürdigen Standesperson gemacht. Das ist es nicht. Oder ist es bloß für den Sprecher, dem es die unmittelbare Wirkung des Worts bestätigt, nicht für den Schreibenden; für den Redner und Theatermann, nicht für den Künstler der Sprache. Der Journalismus, der auch das geschriebene Wort an die Pflicht unmittelbarer Wirkung band, hat die Gerechtsame des Publikums erweitert und ihm zu einer geistigen Tyrannis Mut gemacht, der sich jeder Künstler selbst dann entziehen muss, wenn er sie nur in den Nerven hat. Die Theaterkunst ist die einzige, vor der die Menge eine sachverständige Meinung hat und gegen jedes literarische Urteil behauptet. Aber das Eintrittsgeld, das sie bezahlt, um der Gaben des geschriebenen Wortes teilhaft zu werden, berechtigt sie nicht zu Beifalls- oder Missfallsbezeigungen. Es ist bloß eine lächerliche Vergünstigung, die es dem einzelnen ermöglicht, um den Preis eines Schinkenbrots ein Werk des Geistes zu beziehen. Dass die Masse der zahlenden Leser den Gegenwert der schriftstellerischen Leistung bietet, so wie die Masse der zahlenden Hörer den des Theatergenusses, wäre mir schon eine unerträgliche Fiktion. Aber gerade sie schlösse ein Zensurrecht des einzelnen Lesers aus und ließe bloß Kundgebungen der gesamten Leserschar zu. Der vereinzelte Zischer wird im Theater überstimmt, aber der Briefschreiber kann ohne akustischen Widerhall seine Dummheit betätigen. Worunter ein Schriftsteller, der mit allen Nerven bei seiner Kunst ist, am tiefsten leidet, das ist die Anmaßung der Banalität, die sich ihm mit individuellem Anspruch auf Beachtung aufdrängt. Sie schafft ihm das furchtbare Gefühl, dass es Menschen gibt, die sich für den Erlag zweier Nickelmünzen an seiner Freiheit vergreifen wollen, und seine Phantasie öffnet ihm den Prospekt einer Welt, in der es nichts gibt als solche Menschen. Dagegen empfände er tatsächlich den organisierten Einspruch der Masse als eine logische Beruhigung, als die Ausübung eines wohlerworbenen Rechtes, als die kontraktliche Erfüllung einer Möglichkeit, auf die er vorbereitet sein musste und die demnach weder seinem Stolz noch seinem Frieden ein Feindliches zumutet. Wenn sich die Enttäuschungen, die meine Leser in den letzten Jahren an mir erleben, eines Tages in einem Volksgemurmel Luft machten, ich würde mich in diesem eingerosteten Leben an der Bereicherung der Verkehrsformen freuen. Aber dass ein Chorist der öffentlichen Meinung sich vorschieben darf, meine Arie stört und dass ich die Nuancen einer Stupidität kennen lernen muss, die doch nur in der Einheit imposant wirkt, ist wahrhaft grässlich. Es ist eine demokratische Wohlfahrtsinstitution, dass der Leser seine Freiheit gegen den Autor hat und dass seine Privilegien über das Naturrecht hinausreichen, den Bezug einer unangenehmen Zeitschrift aufzugeben; dass Menschen, mit denen ich wirklich nicht mehr als Essen und Verdauen und auch dies nur ungern gemeinsam habe, es wagen dürfen, mir ihr Missfallen an meiner »Richtung« kundzutun oder gar zu motivieren. Es schafft bloß augenblickliche Erleichterung, wenn ich in solchem Fall sofort das Abonnement auf die ‚Fackel‘ aufgebe und die Entziehung, so weit sie möglich ist, durchführen lasse. Deprimierend bleibt die Zähigkeit, mit der diese Leute auf ihrem Recht bestehen, meine Feder als die Dienerin ihrer Lebensauffassung und nicht als die Freundin meiner eigenen zu betrachten; vernichtend wirkt die Hoffnung, die sie noch am Grabe ihrer Wünsche aufpflanzen, das lästige Zureden ihrer stofflichen Erwartungen. Wie weit es erst, wie unermesslich weit es mich all den Sachen entrückt, die zu vertreten oder zu zertreten einst mir inneres Gebot war, ahnt keiner. Dem Publikum gilt die Sache. Ob ich mich über oder unter die Sache gestellt habe, das zu beurteilen, ist kein Publikum der Erde fähig, aber wenn es verurteilt, dass ich außerhalb der Sache stehe, so ist es berechtigt, schweigend seine Konsequenz zu ziehen.
Dass ich die publizistische Daseinsberechtigung verloren habe, ist hoffentlich der Fall; die Form periodischen Erscheinens dient bloß meiner Produktivität, die mir in jedem Monat ein Buch schenkt. Zieht mir der redaktionelle Schein dauernd Missverständnisse zu, bringt er mir Querulanten ins Haus und die unerträglichen Scharen jener, denen Unrecht geschieht und denen ich nicht helfen kann, und jener, die mir Unrecht tun und denen ich nicht helfen will, so mache ich ihm ein Ende. Jetzt ist die Zeit zur Aussprache gekommen, aber ich bin immer noch nachgiebig genug, den Lesern die Entscheidung zu überlassen. Ich betrüge ihren Appetit, indem ich ihre Erwartung, Pikantes für den Nachtisch zu kriegen, enttäusche und ihnen Gedanken serviere, die der Nachtruhe gefährlich sind. Mich selbst bedrückt ihr Alp; denn es ist nicht meine Art, ahnungslose Gäste zu misshandeln. Aber sie sollen im zehnten Jahre nicht sagen, dass sie ungewarnt hereingefallen sind. Wer dann noch mit dem Vorurteil zu mir kommt, dass ich ein Enthüller stofflicher Sensationen sei, dass ich berufsmäßig die Decken von den Häusern hebe, um lichtscheue Wahrheiten oder gar nur versteckte Peinlichkeiten emporzuziehen, der hat das Kopfweh seiner eigenen Unvorsichtigkeit zuzuschreiben. Ein Teil dieser Leser will die Wahrheit hören um ihrer selbst willen, der andere will Opfer bluten sehen. Das Instinktleben beider Gruppen ist plebejisch. Aber ich täusche sie, weil meine Farbe rot ist und mit der Verheißung lockt, zu erzählen, wie sichs ereignet hat. Dass ich heimlich in eine Betrachtungsweise abgeglitten bin, die als das einzige Ereignis gelten lässt: wie ichs erzähle, — das ist die letzte Enthüllung, die ich meinen Lesern schuldig bin. Ich täuschte, und war allemal tief betroffen, allemal wusste ich, dass ich mir dergleichen nicht zugetraut hätte, aber ich blieb dabei, Aphorismen zu sagen, wo ich Zustände enthüllen sollte. So schmarotze ich nur mehr an einem alten Renommee.
Glaubt einer, dass es auf die Dauer ein angenehmes Bewusstsein ist? Nun, ich wollte den Lesern helfen und ihnen den Weg zeigen, der zur Entschädigung für den Ausfall an Sensationen führt. Ich wollte sie zu einem Verständnis für die Angelegenheiten der deutschen Sprache erziehen, zu jener Höhe, auf der man das geschriebene Wort als die naturnotwendige Verkörperung des Gedankens und nicht bloß als die gesellschaftspflichtige Hülle der Meinung begreift. Ich wollte sie entjournalisieren. Ich riet ihnen, meine Arbeiten zweimal zu lesen, damit sie auch etwas davon haben. Sie waren entrüstet und sahen im nächsten Heft nur nach, ob nicht doch etwas gegen die Zustände bei der Länderbank darin stände … Nun wollen wir sehen, wie lange das noch weiter geht. Ich sage, dass der einzige öffentliche Übelstand, den noch aufzudecken sich lohnt, die Dummheit ist. Das Publikum wünscht so allgemeine Themen nicht und schickt mir Affären ins Haus. Aber wie selten ist es, dass das Interesse der Skandalsucht mit meinen separatistischen Bestrebungen zusammentrifft! Wenns einen Fall Riehl gibt, verzeiht mir das Publikum die Gedanken, die ich mir dazu mache, und freut sich, dass es einen Fall Riehl gibt. Es ist ein schmerzliches Gefühl, eine Wohltat nicht zu verdienen; aber es ist geradezu tragisch, sein eigener Parasit zu sein.
Denn das ist es ja eben, dass von meinem Wachstum, welches die Reihen meiner Anhänger so stark gelichtet hat, die Zahl meiner Leser im Durchschnitt nicht berührt wurde, und dass ich zwar kein guter Geschäftsmann bin, so lange ich die ‚Fackel‘ bewahre, aber gewiss ein schlechter, wenn ich sie im Überdruss hinwerfe. Und weil es toll ist, auf die Flucht aus der Aktualität Wiener Zeitungsleser mitzunehmen, so ist es anständig, sie zeitweise vor die Frage zu stellen, ob sie sich die Sache auch gründlich überlegt haben.
In Tabakgeschäften neben dem Kleinen Witzblatt liegen zu müssen und neben all dem tristen Pack, das mit talentlosen Enthüllergebärden auf den Kunden wartet, es wird immer härter und es ist eine Schmach unseres Geisteslebens, an der ich nicht allzu lange mehr Teil haben möchte. Um den wenigen, die es angeht, zugänglich zu sein, lohnt es nicht, sich den vielen Suchern der Sensation hinzugeben. Im besten Falle dünke ich diesen ein Ästhet. Denn in den allgemeinen, gleichen und direkten Schafsköpfen ist jeder ein Ästhet, der nur durch staatlichen Zwang zur Ausübung des Wahlrechts sich herbeilässt. Der Ästhet lebt fern von der Realität, sie aber haben den Schlüssel zum wahren Leben; denn das wahre Leben besteht im Interesse für Landtagswahlreform, Streikbewegung und Handelsvertrag. So sprechen vorzüglich jene Geister, die in der Politik die Viehtreiber von St. Marx vorstellen. Der Unterschied: dem Ästheten löst sich alles in eine Linie auf, und dem Politiker in eine Fläche. Ich glaube, dass das nichtige Spiel, welches beide treiben, beide gleich weit vom Leben führt, in eine Ferne, in der sie überhaupt nicht mehr in Betracht kommen, der Herr Hugo von Hofmannsthal und der Herr Abgeordnete Doleschal. Es ist tragisch, für jene Partei reklamiert zu werden, wenn man von dieser nichts wissen will, und zu dieser gehören zu müssen, weil man jene verachtet. Aus der Höhe wahrer Geistigkeit aber sieht man die Politik nur mehr als ästhetischen Tand und die Orchidee als eine Parteiblume. Es ist derselbe Mangel an Persönlichkeit, der die einen treibt, das Leben im Stoffe, und die anderen, das Leben in der Form zu suchen. Ich meine es anders als beide, wenn ich, fern den Tagen, da ich in äußeren Kämpfen lebte, fern aber auch den schönen Künsten des Friedens, mir heute den Gegner nach meinem Pfeil zurechtschnitze.
Die Realität nicht suchen und nicht fliehen, sondern erschaffen und im Zerstören erst recht erschaffen: wie sollte man damit Gehirne beglücken, durch deren Windungen zweimal im Tag der Mist der Welt gekehrt wird? Über nichts fühlt sich das Publikum erhabener als über einen Autor, den es nicht versteht, aber Kommis, die sich hinter einer Budel nicht bewährt hätten oder nicht haben, sind seine Heiligen. Den Journalisten nahm ein Gott, zu leiden, was sie sagen. Mir aber wird das Recht bestritten werden, meiner tiefsten Verbitterung Worte zu geben, denn nur den Stimmungen des Lesers darf eine Feder dienen, die für Leser schreibt. Meine Leser sind jene Weißen, die einen Neger lynchen, wenn er etwas Natürliches getan hat. Ich leiste feierlichen Verzicht auf die Rasse und will lieber überhaupt nicht gelesen sein, als von Leuten, die mich für ihre Rückständigkeit verantwortlich machen. Sie ist im Fortschritt begriffen: wie wird es mir ergehen? Die intellektuelle Presse macht dem Schwachsinn des Philisters Mut und erhebt die Plattheit zum Ideale: so sind die Folgen meiner Tätigkeit unabsehbar. Der letzte Tropf, der sich am sausenden Webstuhl der Zeit zu schaffen macht, wird mich als Müßiggänger verachten. Ich wollte nach Deutschland gehen, denn wenn man unter Österreichern lebt, lernt man die Deutschen nicht genügend hassen. Ich wollte meine Angstrufe in Deutschland ausstoßen, denn in Österreich bezieht man sie am Ende auf die Kappen und nicht auf die Köpfe. Aber ein satanischer Trieb verlockt mich, die Entwicklung der Dinge hier abzuwarten und auszuharren, bis der große Tag des Zornes kommt und die tausend Jahre vollendet sind. Bis der Drache losgelassen ist und mir eine Stimme aus den Wolken ruft: »Flieg’n m’r, Euer Gnaden?«
Karl Kraus.
29. März 2012 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Tagebuch
DIE FACKEL
Nr. 254—255. 22. Mai 1908. X. Jahr. S. 33 -35
Tagebuch
Auch ein anständiger Mensch kann, vorausgesetzt, dass es nie herauskommt, sich heutzutage einen geachteten Namen schaffen.
In Lourdes kann man geheilt werden. Welcher Zauber sollte aber von einem Nervenspezialisten ausgehen?
Ich habe um mancher guten Entschuldigung willen gesündigt und darum wird mir vergeben werden.
Selbstbespiegelung ist erlaubt, wenn das Selbst schön ist. Aber sie erwächst zur Pflicht, wenn der Spiegel gut ist.
Der persönliche Umgang mit Dichtern ist nicht immer erwünscht. Vor allem mag ich die Somnambulen nicht, die immer auf die richtige Seite fallen.
Ihm gebührt das Verdienst, in die Anarchie des Traums eine Verfassung eingeführt zu haben. Aber es geht darin zu, wie in Österreich.
»Zu neuen Taten, tapferer Helde, wie liebt’ ich dich, ließ’ ich dich nicht!« So spricht das Weib Wagners. Dem Helden müsste bei solcher Bereitschaft die Lust an den Taten und die Lust am Weibe vergehen. Denn die Lust an den Taten entstammt der Lust am Weibe. Nicht zu den Taten lasse sie ihn, sondern zur Liebe: dann kommt er zu den Taten. Solcher Psychologie aber entspräche auch das Wort Wagners, wenn nur die Interpunktion verändert wäre. Die Alliteration mag bleiben. Man lese also: »Zu neuen Taten, tapferer Helde! Wie liebt’ ich dich, ließ’ ich dich nicht …«
Omne animal triste. Das ist die christliche Moral. Aber auch sie nur post, nicht propter hoc.
*
Die wahre Beziehung der Geschlechter ist es, wenn der Mann bekennt: Ich habe keinen andern Gedanken als dich und darum immer neue!
Zur Vollkommenheit fehlt ihr nur ein Mangel.
Die Sündenmoral ist darauf aus, die Ursachen, auf die das Kinderkriegen zurückzuführen ist, zu beseitigen. Sie sagt, die Abtreibung der Lust sei ungefährlich, wenn sie unter allen Kautelen der theologischen Wissenschaft durchgeführt wird.
Was leicht ins Ohr geht, geht leicht hinaus. Was schwer ins Ohr geht, geht schwer hinaus. Das gilt vom Schreiben noch mehr als vom Musikmachen.
Wer nichts der Sprache vergibt, vergibt auch nichts der Sache.
Die alten Bücher sind selten, die zwischen Unverständlichem und Selbstverständlichem einen lebendigen Inhalt bewahrt haben.
Auch die sprachliche Trivialität kann ein Element des künstlerischen Ausdrucks sein, nämlich des Witzes. Der Schriftsteller, der sich ihrer bedient, ist echter Feierlichkeit fähig. Das Pathos an und für sich ist ebenso wertlos wie die Trivialität als solche.
Werdegang des Schreibenden: Im Anfang ist mans ungewohnt und es geht deshalb wie geschmiert. Aber dann wirds schwerer und immer schwerer, und wenn man erst in die Übung kommt, dann wird man mit manch einem Satz nicht fertig.
Die bange Frage steigt auf, ob der Journalismus, dem man getrost die besten Werke zur Beute hinwirft, nicht auch kommenden Zeiten schon den Geschmack an der sprachlichen Kunst verdorben hat.
Eine exklusive Kunst ist ein Unding. Es heißt die Kunst dem Pöbel ausliefern. Denn wenn der ganze Pöbel Zutritt hat, ist es immer noch besser, als wenn nur ein Teil Zutritt hat. Ein jeder will dann exklusiv sein, und die Kunst beginnt von der Nebenwirkung des Exklusiven zu leben. Es besteht der Verdacht, dass die ganze moderne Kunst von Nebenwirkungen lebt. Die Musik von Nebengeräuschen, die Schauspielerei von Mängeln.
Da das Halten wilder Tiere gesetzlich verboten ist, und die Haustiere mir kein Vergnügen machen, so bleibe ich lieber unverheiratet.
Die Gesellschaft braucht Frauen, die einen schlechten Charakter haben. Solche, die gar keinen haben, sind ein bedenkliches Element.
Das höchste Vertrauensamt: Ein Beichtvater unterlassener Sünden.
Ein Leierkasten im Hof stört den Musiker und freut den Dichter.
Viele haben den Wunsch, mich zu erschlagen. Viele den Wunsch, mit mir ein Plauderstündchen zu verbringen. Gegen jene schützt mich das Gesetz.
Man könnte größenwahnsinnig werden: so wenig wird man anerkannt!
K a r l K r a u s .
18. März 2012 | Kategorie: Anthologie der Menschheit, Aus "Die Fackel", Sprache
DIE FACKEL
Nr. 885—887 ENDE DEZEMBER 1932 XXXIV. JAHR
Die Sprache
Der Versuch: der Sprache als Gestaltung, und der Versuch: ihr als Mitteilung den Wert des Wortes zu bestimmen — beide an der Materie durch das Mittel der Untersuchung beteiligt — scheinen sich in keinem Punkt einer gemeinsamen Erkenntnis zu begegnen. Denn wie viele Welten, die das Wort umfasst, haben nicht zwischen der Auskultation eines Verses und der Perkussion eines Sprachgebrauches Raum! Und doch ist es dieselbe Beziehung zum Organismus der Sprache, was da und dort Lebendiges und Totes unterscheidet; denn dieselbe Naturgesetzlichkeit ist es, die in jeder Region der Sprache, vom Psalm bis zum Lokalbericht, zum Lokalbericht, den Sinn dem Sinn vermittelt. Kein anderes Element durchdringt die Norm, nach der eine Partikel das logische Ganze umschließt, und das Geheimnis, wie um eines noch Geringern willen ein Vers blüht oder welkt. Die neuere Sprachwissenschaft mag so weit halten, eine schöpferische Notwendigkeit über der Regelhaftigkeit anzuerkennen: die Verbindung mit dem Sprachwesen hat sie jener nicht abgemerkt, und dieser so wenig wie die ältere, welche in der verdienstvollen Registrierung von Formen und Missformen die wesentliche Erkenntnis schuldig blieb. Ist das, was sie dichterische Freiheit nennen, nur metrisch gebunden, oder verdankt sie sich einer tieferen Gesetzmäßigkeit? Ist es eine andere als die, die am Sprachgebrauch wirkt, bis sich ihm die Regel verdankt? Die Verantwortung der Wortwahl — die schwierigste, die es geben sollte, die leichteste, die es gibt —, nicht sie zu haben: das sei keinem Schreibenden zugemutet; doch sie zu erfassen, das ist es, woran es auch jenen Sprachlehrern gebricht, die dem Bedarf womöglich eine psychologische Grammatik beschaffen möchten, aber so wenig wie die Schulgrammatiker imstande sind, im psychischen Raum des Wortes logisch zu denken.
Die Nutzanwendung der Lehre, die die Sprache wie das Sprechen betrifft, könnte niemals sein, dass der, der sprechen lernt, auch die Sprache lerne, wohl aber, dass er sich der Erfassung der Wortgestalt nähere und damit der Sphäre, die jenseits des greifbar Nutzhaften ergiebig ist. Diese Gewähr eines moralischen Gewinns liegt in einer geistigen Disziplin, die gegenüber dem einzigen, was ungestraft verletzt werden kann, der Sprache, das höchste Maß einer Verantwortung festsetzt und wie keine andere geeignet ist, den Respekt vor jeglichem andern Lebensgut zu lehren. Wäre denn eine stärkere Sicherung im Moralischen vorstellbar als der sprachliche Zweifel? Hätte er denn nicht vor allem materiellen Wunsch den Anspruch, des Gedankens Vater zu sein? Alles Sprechen und Schreiben von heute, auch das der Fachmänner, hat als der Inbegriff leichtfertiger Entscheidung die Sprache zum Wegwurf einer Zeit gemacht, die ihr Geschehen und Erleben, ihr Sein und Gelten, der Zeitung abnimmt. Der Zweifel als die große moralische Gabe, die der Mensch der Sprache verdanken könnte und bis heute verschmäht hat, wäre die rettende Hemmung eines Fortschritts, der mit vollkommener Sicherheit zu dem Ende einer Zivilisation führt, der er zu dienen wähnt. Und es ist, als hätte das Fatum jene Menschheit, die deutsch zu sprechen glaubt, für den Segen gedankenreichster Sprache bestraft mit dem Fluch, außerhalb ihrer zu leben; zu denken, nachdem sie sie gesprochen, zu handeln, ehe sie sie befragt hat. Von dem Vorzug dieser Sprache, aus allen Zweifeln zu bestehen, die zwischen ihren Wörtern Raum haben, machen ihre Sprecher keinen Gebrauch. Welch ein Stil des Lebens möchte sich entwickeln, wenn der Deutsche keiner andern Ordonnanz gehorsamte als der der Sprache!
Nichts wäre törichter, als zu vermuten, es sei ein ästhetisches Bedürfnis, das mit der Erstrebung sprachlicher Vollkommenheit geweckt oder befriedigt werden will. Derlei wäre kraft der tiefen Besonderheit dieser Sprache gar nicht möglich, die es vor ihren Sprechern voraus hat, sich nicht beherrschen zu lassen. Mit der stets drohenden Gewalt eines vulkanischen Bodens bäumt sie sich dagegen auf. Sie ist schon in ihrer zugänglichsten Region wie eine Ahnung des höchsten Gipfels, den sie erreicht hat: Pandora; in unentwirrbarer Gesetzmäßigkeit seltsame Angleichung an das symbolträchtige Gefäß, dem die Luftgeburten entsteigen:
Und irdisch ausgestreckten Händen unerreichbar jene, steigend jetzt empor und jetzt gesenkt. Die Menge täuschten stets sie, die verfolgende. Den Rätseln ihrer Regeln, den Plänen ihrer Gefahren nahezukommen, ist ein besserer Wahn als der, sie beherrschen zu können. Abgründe dort sehen zu lehren, wo Gemeinplätze sind — das wäre die pädagogische Aufgabe an einer in Sünden erwachsenen Nation; wäre Erlösung der Lebensgüter aus den Banden des Journalismus und aus den Fängen der Politik. Geistig beschäftigt sein — mehr durch die Sprache gewährt als von allen Wissenschaften, die sich ihrer bedienen — ist jene Erschwerung des Lebens, die andere Lasten erleichtert. Lohnend durch das Nichtzuendekommen an einer Unendlichkeit, die jeder hat und zu der keinem der Zugang verwehrt ist. »Volk der Dichter und Denker«: seine Sprache vermag es, den Besitzfall zum Zeugefall zu erhöhen, das Haben zum Sein. Denn größer als die Möglichkeit, in ihr zu denken, wäre keine Phantasie. Was dieser sonst erschlossen bleibt, ist die Vorstellung eines Außerhalb, das die Fülle entbehrten Glückes umfasst: Entschädigung an Seele und Sinnen, die sie doch verkürzt. Die Sprache ist die einzige Chimäre, deren Trugkraft ohne Ende ist, die Unerschöpflichkeit, an der das Leben nicht verarmt. Der Mensch lerne, ihr zu dienen!
12. März 2012 | Kategorie: Anthologie der Menschheit, Artikel, Marc Aurel
Das erste Buch enthält im Wesentlichen autobiographische Einzelheiten und bleibt deshalb zunächst unberücksichtigt.
Marc Aurel
Zweites Buch
1.Morgens früh sagst Du Dir: Ich werde einen aufdringlichen, undankbaren, frechen, falschen, missgünstigen, unfreundlichen Menschen treffen. All diese Eigenschaft haben sie ja nur, weil sie sich im Unklaren darüber sind, was gut und was böse ist. Ich aber, der das Wesen des Guten erkannt hat, dass es schön ist und des Bösen, dass es hässlich ist, wie auch die Natur des gegen mich Zuwiderhandelnden. Das heißt zwar, dass er mit mir verwandt ist- hat er auch nicht an demselben Blut oder der Keimzelle mit mir teil, so doch an demselben Geist und der gleichen göttlichen Abkunft-, aber ich kann von ihm keine Schaden erleiden. Denn in Schande kann mich keiner stürzen. Ich kann auch meinem Verwandten nicht zürnen oder ihm ein feindlich gesinnt sein. Denn wir sind zur Zusammenarbeit bestimmt, wie die Füße, die Hände, die Augenlider, die Reihen der oberen und unteren Zähne. Einander entgegenzuarbeiten ist daher wider die Natur. Wir arbeiten uns aber entgegen, wenn wir einander zürnen oder uns meiden.
2. Was ich auch sein mag, dieses Gebilde hier: es ist ein wenig Fleisch, ein wenig Atem und die herrschende Vernunft. Weg mit den Büchern! Lass Dich durch sie nicht länger ablenken! Das darfst Du nicht! Sondern verachte das elende Fleisch, als wenn Du schon sterben müsstest. Es ist nur Unrat des Darms und Knochen und ein Gewebe aus Sehnen, Venen und Arterien. Bedenke auch, was für ein Ding Dein Atem ist. Ein Lufthauch nur, aber nicht immer derselbe, sondern jeden Augenblick wird er ausgestoßen und wieder eingezogen. Das Dritte in Dir ist also die herrschende Vernunft. Das bedenke nun, Du bist ein alter Mann. Lass sie also nicht länger Sklavin sein, sich nicht länger durch selbstsüchtige Triebe hin und her gezerrt werden lassen, sich nicht länger aufzuregen über das Dir vom Schicksal Auferlegte oder über Deine jetzige Lage oder über das Kommende jammern.
3. Das Walten der Götter lässt überall die Vorsehung erkennen. Das des Zufalls erfolgt nicht ohne die Allnatur oder ohne die Verkettung der Verflechtung mit dem Walten der Vorsehung. Alles hat von dort seinen Ursprung. Es wirkt aber auch die Notwendigkeit mit und das Wohl des ganzen Kosmos, von dem Du ein Teil bist. Für jedes Teil der Natur aber ist gut, was die Natur mit sich bringt und was zu ihrer Erhaltung dient. Den Kosmos aber erhalten die Wandlungen der Elemente wie auch die der zusammengesetzten Körper.- Diese Einsichten müssen Dir genügen und stets Grundsätze sein. Den Durst nach Büchern aber wirf ab, damit Du nicht irgendwann murrend stirbst, sondern guten Mutes und von Herzen dankbar gegen die Götter.
4. Erinnere Dich, seit wann Du das nun schon aufschiebst, und wie oft Dir die Götter Zeit und Stunde dazu gegeben haben, ohne dass Du sie genutzt hast. Du musst doch endlich einmal einsehen, was das für eine Kosmos ist, dem Du angehörst, und wie der die Welt regiert, dessen Ausfluss Du bist und dass Dir eine Zeit zugemessen ist, die vergangen sein wird wie Du selbst, wenn Du sie nicht dazu verwendest Dich abzuklären, und die nicht wiederkommt.
5. Immer sei darauf bedacht, bei allem was es zu tun gibt, eine entschiedene und ungekünstelte Gewissenhaftigkeit, Liebe, Freimut und Gerechtigkeit zu üben, wie es einem Manne geziemt, und dabei alle Nebengedanken von Dir fern zu halten. Und Du wirst sie Dir fern halten, sobald Du jede Deiner Handlungen als die Letzte im Leben ansiehst, fern von jeder Unbesonnenheit und der Erregtheit, die Dich taub macht gegen die Stimme der richtenden Vernunft, frei von Verstellung, von Selbstliebe und von Unwillen über das, was das Schicksal daran anhängt. Du siehst, wie wenig es ist, was man sich aneignen muss, um ein glückliches und gottgefälliges Leben zu führen. Denn auch die Götter verlangen von dem, der dies beobachtet, nicht mehr.
6. Fahre nur immer fort, Dir selbst zu schaden, liebe Seele! Dich zu fördern wirst Du kaum noch Zeit haben. Denn das Leben flieht einen jeglichen. Für Dich ist es aber schon so gut als zu Ende, der Du ohne Selbstachtung Dein Glück außer Dir verlegst in die Seelen anderer.
7. Trotz Deines Bestrebens, an Erkenntnis zu wachsen und Dein unstetes Wesen aufzugeben, zerstreuen Dich die Außendinge noch immer? Mag sein, wenn Du jenes Streben nur so festhältst. Denn das bleibt die größte Torheit, sich müde zu arbeiten ohne ein Ziel, auf das man all sein Denken und Trachten ausrichtet.
8. Wenn man nicht herausbekommen kann, was in des Andern Seele vorgeht, so ist das schwerlich ein Unglück; aber notwendig unglücklich ist man, wenn man über die Regungen der eigenen Seele im Unklaren ist.
9. Daran musst Du immer denken, was das Wesen der Welt und was das Deinige ist, und wie sich beides zu einander verhält, nämlich was für ein Teil des Ganzen Du bist und zu welchem Ganzen Du gehörst, und dass Dich niemand hindern kann, stets nur das zu tun und zu reden, was dem Ganzen entspricht, dessen Teil Du bist.
10. Theophrast in seinem Vergleich der menschlichen Fehler – wie diese denn jeweils verglichen werden können – sagt, schwerer seien die, die aus Begierde, als die, welche aus Zorn begangen werden. Und wirklich erscheint ja der Zornige als ein Mensch, der nur mit einem gewissen Schmerz und mit innerem Widerstreben von der Vernunft abgekommen ist, während der aus Begierde Fehlende, weil ihn die Lust überwältigt, zügelloser erscheint und schwächer in seinen Fehlern. Wenn er nun also behauptet, es zeuge von größerer Schuld, einen Fehler zu begehen mit Freuden als mit Bedauern, so ist das gewiss richtig und der Philosophie nur angemessen. Man erklärt dann überhaupt den einen für einen Menschen, der gekränkt worden ist und zu seinem eigenen Leidwesen zum Zorn gezwungen wird, während man bei dem andern, der etwas aus Begierde tut, die Sache so ansieht, als begehe er das Unrecht mit unversehrter Haut.
11. Jegliches Tun bedenken wie einer, der im Begriff ist das Leben zu verlassen, das ist das Richtige. Das Fortgehen von den Menschen aber, wenn es Götter gibt, ist kein Unglück. Denn das Übel hört dann doch wohl gerade auf. Gibt es aber keine, oder kümmern sie sich nicht um die menschlichen Dinge, was soll mir das Leben in einer götterleeren Welt, in einer Welt ohne Vorsehung? Doch sie sind, und sie kümmern sich um die menschlichen Dinge. Mehr noch, sie haben, was die Übel betrifft, und zwar die eigentlichen, sie ganz in des Menschen Hand gelegt, sich davor zu bewahren. Ja auch hinsichtlich der sonstigen Übel, kann man sagen, haben sie es so eingerichtet, dass es nur auf uns ankommt, ob sie uns widerfahren werden. Denn wobei der Mensch nicht schlimmer wird, wie sollte dies sein Leben verschlimmern? Selbst für die bloße Natur – sei es, dass wir sie uns ohne Bewusstsein oder mit Bewusstsein begabt vorstellen – ist gewiss, dass sie nicht vermag, dem Übel vorzubeugen oder es wieder gut zu machen. Auch hätte sie dergleichen nicht übersehen, hätte nicht in dem Grade gefehlt aus Ohnmacht oder aus Mangel an Anlage, dass sie Gutes und Böses in gleicher Weise guten und bösen Menschen unterschiedslos zuteilwerden hieß. Tod aber und Leben, Ruhm und Ruhmlosigkeit, Leid und Freude, Reichtum und Armut und alles dieses wird den guten wie den bösen Menschen ohne Unterschied zuteil, als Dinge, die weder sittliche Vorzüge noch sittliche Mängel begründen, also sind sie auch weder gut noch böse, weder ein Glück noch ein Unglück.
12. Wie doch alles so schnell verbleicht! In der sichtbaren Welt die Leiber, in der Welt der Geister deren Gedächtnis! Was ist doch alles Sinnliche, zumal was durch Vergnügen anlockt oder durch Schmerz abschreckt oder in Stolz und Hochmuth sich breit macht, wie nichtig und verächtlich, wie schmutzig, hinfällig, tot! – Man folge dem Zuge des Geistes, man frage nach denen, die sich durch Werke des Geistes berühmt gemacht haben, man untersuche, was eigentlich sterben heißt, und man wird, wenn man der Phantasie keinen Einfluss auf seine Gedanken gestattet, darin nichts anderes als ein Werk der Natur erkennen. Kindisch aber wäre es doch, vor einem Werke der Natur, das derselben ohnehin auch noch zuträglich ist, sich zu fürchten. Man mache sich klar, wie der Mensch Gott ergreift und mit welchem Teile seines Wesens, und wie es mit diesem Teile des Menschen bestellt ist, wenn er Gott ergriffen hat.
13. Nichts Elenderes als ein Mensch, der um alles und jedes sich kümmert, auch um das, woran sonst niemand denkt, der nicht aufhört über die Vorgänge in der Seele des Nächsten seine Mutmaßungen anzustellen und nicht begreifen mag, dass es genug ist, für den Gott in der eignen Brust zu leben und ihm zu dienen, wie es sich gebührt. Das aber ist sein Dienst, ihn rein zu erhalten von Leidenschaft, von Unbesonnenheit und von Unlust über das, was von Göttern und Menschen geschieht. Denn die Handlungen der Götter zu ehren, gebietet die Tugend und mit denen der Menschen sich zu befreunden die Gleichheit der Abkunft, obwohl die letzteren allerdings auch zuweilen etwas Klägliches haben, weil so viele nicht wissen, was Güter und was Übel sind; eine Blindheit, nicht geringer als die, wie wenn man Schwarz und Weiß nicht unterscheiden kann.
14. Und wenn Du dreitausendJahre leben solltest, ja noch zehnmal mehr, hat doch niemand ein anderes Leben zu verlieren, als eben das, was er lebt, so wie niemand ein anderes lebt, als das, was er einmal verlieren wird. Und so läuft das Längste wie das Kürzeste auf dasselbe hinaus. Denn das Jetzt ist das Gleiche für alle, wenn auch das Vergangene nicht gleich ist, und der Verlust des Lebens erscheint doch so als ein Jetzt, indem niemand verlieren kann, weder was vergangen noch was zukünftig ist. Oder wie sollte man einem etwas abnehmen können, was er nicht besitzt? – An die beiden Dinge also müssen wir denken. Einmal, dass alles seiner Idee nach unter sich gleichartig ist und von gleichem Verlauf, und dass es keinen Unterschied macht, ob man hundert oder zweihundert Jahre lang oder ewig ein und dasselbe sieht. Und dann, dass auch der, der am Längsten gelebt hat, doch nur dasselbe verliert, wie der, der sehr bald stirbt. Denn nur das Jetzt ist es, dessen man beraubt werden kann, weil man nur dieses besitzt, und niemand etwas verlieren kann, was er nicht hat.
15. Alles beruht nur auf Meinung. Denn klar ist der Ausspruch des Kynikers Monimos. Auch der Wert des Ausspruches ist klar, wenn man den Kern erfasst.
16. Die Seele des Menschen tut sich selbst den größten Schaden, wenn sie sich von der Allnatur abzusondern, gleichsam aus ihr geschwürartig herauszuwachsen strebt. So, wenn sie unzufrieden ist über irgendetwas, das sich ereignet. Es ist dies ein entschiedener Abfall von der Natur, in der ja diese eigentümliche Verkettung der Umstände begründet ist. Ebenso, wenn sie jemand verabscheut oder anfeindet oder im Begriff ist, jemand weh zu tun, wie üblicherweise im Zorn. Ebenso wenn sie von Lust oder von Schmerz sich hinnehmen lässt oder wenn sie heuchelt, heuchlerisch und unwahr etwas tut oder spricht oder wenn ihre Handlungen und Triebe keinen Zweck haben, sondern ins Blaue hinausgehen und über sich selbst völlig im Unklaren sind. Denn auch das Kleinste muss in Beziehung zu einem Zweck gesetzt werden. Der Zweck aber aller vernunftbegabten Wesen ist, den Prinzipien und Normen des ältesten Gemeinwesens Folge zu leisten.
17. Das menschliche Leben ist, was seine Dauer betrifft, ein Endpunkt, des Menschen Wesen flüssig, sein Empfinden trübe, die Substanz seines Leibes leicht verweslich, seine Seele einem Kreisel vergleichbar, sein Schicksal schwer zu bestimmen, sein Ruf eine zweifelhafte Sache. Kurz, alles Leibliche an ihm ist wie ein Strom, und alles Seelische ein Traum, ein Rauch, sein Leben Krieg und Wanderung, sein Nachruhm die Vergessenheit. Was ist es nun, das ihn über das alles zu erheben vermag? Einzig die Philosophie, sie, die uns lehrt, den göttlichen Funken, den wir in uns tragen, rein und unverletzt zu erhalten, dass er Herr sei über Freude und Leid, dass er nichts ohne Überlegung tue, nichts erlüge und erheuchle und stets unabhängig sei von dem, was andere tun oder nicht tun, dass er alles, was ihm widerfährt und zugeteilt wird, so aufnehme, als komme es von da, von wo er selbst gekommen, und dass er endlich den Tod mit heiterem Sinn erwarte, als den Moment der Trennung aller der Elemente, aus denen jegliches lebendige Wesen besteht. Denn wenn den Elementen dadurch nichts Schlimmes widerfährt, dass sie fortwährend in einander übergehen, weshalb sollte man sich scheuen vor der Verwandlung und Lösung aller auf einmal? Vielmehr ist dies das Naturgemäße, und das Naturgemäße ist niemals vom Übel.
05. März 2012 | Kategorie: Artikel, Aus "Die Fackel", Vorurteile
Die Fackel
Nr. 241 WIEN, 15. JÄNNER 1908 IX. JAHR S. 1-8
Es gibt zweierlei Vorurteil. Das eine steht über allem Urteil. Es nimmt die innere Wahrheit vorweg, ehe das Urteil der äußern nahegekommen ist. Das andere steht unter allem Urteil; es kommt auch der äußern Wahrheit nicht nahe. Das erste Vorurteil ist über die Zweifel des Rechts erhaben, es ist zu stolz, um nicht berechtigt zu sein, es ist unüberwindlich und führt zur Absonderung. Das zweite Vorurteil lässt mit sich reden; es macht seinen Träger beliebt und ist auch als Verbindung eines Urteils mit einem Vorteil praktikabel.
Der Philister langweilt sich und sucht die Dinge, die ihn nicht langweilen. Den Künstler langweilen die Dinge, aber er langweilt sich nicht.
Ich unterschätze den Wert der wissenschaftlichen Erforschung des Geschlechtslebens gewiss nicht. Sie bleibt immerhin eine schöne Aufgabe. Und wenn ihre Resultate von den Schlüssen künstlerischer Phantasie bestätigt werden, so ist das schmeichelhaft für die Wissenschaft und sie hat nicht umsonst gelebt.
Man glaubt gar nicht, wie schwer es oft ist, eine Tat in einen Gedanken umzusetzen!
Diese finden jenes, jene dieses schön. Aber sie müssen es »finden«. Suchen will es keiner.
Ich habe den Satz von der ersten Geliebten, die eine Kletterstange war, wörtlich, nicht metaphorisch gemeint. Ich werde doch nicht einer Frau den Rang einer Kletterstange anweisen. Wohl aber umgekehrt.
Das Gefühl, das man bei der Freude des andern hat, ist in jedem Fall selbstsüchtig. Hat man ihm die Freude selbst bereitet, so nimmt man die größere Hälfte der Freude für sich in Anspruch. Die Freude aber, die ihm ein anderer vor unseren Augen bereitet, fühlen wir ganz mit: die Hälfte ist Neid, die Hälfte Eifersucht.
Frauen sind hohle Koffer oder Koffer mit Einlage. In die hohlen packe man keinen geistigen Inhalt, er könnte in Verwirrung geraten. In die andern lässt er sich gut hineinlegen.
Wenn man einmal durch Erleben zum Denken gelangt ist, gelangt man auch durch Denken zum Erleben. Man genießt die wollüstigen Früchte seiner Erkenntnis. Glücklich, wem Frauen, auf die man Gedachtes mühelos anwenden kann, zu solcher Erholung beschieden sind!
Es ist die wichtigste Aufgabe, das Selbstunbewusstsein einer Schönen zu heben. Und das Selbstbewusstsein derer, die um sie sind.
Wenn ich eine Frau so auslegen kann, wie ich will, ist es das Verdienst der Frau.
Mein Gehör ermöglicht es mir, einen Schauspieler, den ich vor zwanzig Jahren in einer Dienerrolle auf einem Provinztheater und seit damals nicht gesehen habe, als Don Carlos zu imitieren. Das ist ein wahrer Fluch. Ich höre jeden Menschen sprechen, den ich einmal gehört habe. Nur die Wiener Schriftsteller, deren Feuilletons ich lese, höre ich nie sprechen. Darum muß ich jedem erst eine besondere Rolle zuweisen. Wenn ich einen Wiener Zeitungsartikel lese, höre ich einen Zahlkellner oder einen Hausierer, der mir vor Jahren einmal einen Taschenfeitel angehängt hat, reden. Oder es ist eine Vorlesung bei der Hausmeisterin. Mit einem Wort, ich muss mich auf irgend einen geistigen Dialekt einstellen, um hindurchzukommen. Mit meiner eigenen Stimme bringe ich’s nicht fertig.
Es müsste ein geistiger Liftverkehr etabliert werden, um einem die unerhörten Strapazen zu ersparen, die mit der Herablassung zum Niveau des Wiener Schrifttums verbunden sind. Wenn ich wieder zu mir komme, bin ich immer ganz außer Atem.
Dem Erotiker wird das Merkmal des Geschlechts nie Anziehung, stets Hemmung. Auch das weibliche Merkmal. Darum kann er zum Knaben wie zum Weib tendieren. Den durchaus Homosexuellen zieht das Merkmal des Mannes an, gerade so wie den hypersexuellen »Normalen« das Merkmal des Weibes als solches anzieht. Jack the ripper ist also viel »normaler« als Sokrates.
Der sexuelle Mann sagt: Wenn’s nur ein Weib ist! Der erotische sagt: Wenn’s doch ein Weib wäre!
Das Weib kann Sinnlichkeit auch zum Weib führen. Den Mann die Phantasie auch zum Mann. Hetären und Künstler. »Normwidrig« ist der Mann, den Sinnlichkeit, das Weib, das Phantasie zum eigenen Geschlecht führt. Der Mann, der mit Phantasie auch zum Mann gelangt, steht höher als jener, den nur Sinnlichkeit zum Weib führt. Das Weib, das Sinnlichkeit auch zum Weib führt, höher, als jenes, das erst mit Phantasie zum Mann gelangt. Der Normwidrige kann Talente haben, nie eine Persönlichkeit sein. Der andere beweist seine Persönlichkeit schon in der
»Perversität«. Das Gesetz aber wütet gegen Persönlichkeit und Natur, gegen Werte und Defekte.Es straft Sinnlichkeit, die das Vollweib zum Weib und den Halbma nn zum Mann, es straft Phantasie, die den Vollmann zum Mann und das Halbweib zum Weib führt. — Ich spreche diese Erkenntnis, die die Analphabeten aus meiner Abhandlung über »Perversität« nicht entnehmen konnten, hier noch einmal aus. Es muss mir vor allem darauf ankommen, die Analphabeten zu überzeugen, da sie ja die Strafgesetze machen.
Wenn man vom Sklavenmarkt der Liebe spricht, so fasse man ihn doch endlich so auf: die Sklaven sind die Käufer. Wenn sie einmal gekauft haben, ist’s mit der Menschenwürde vorbei; sie werden glücklich. Und welche Mühsal auf der Suche des Glücks! Welche Qual der Freude! Im Schweiße deines Angesichts sollst du deinen Genuss finden. Wie plagt sich der Mann um die Liebe! Aber wenn eine nur Wanda heißt, wird sie mit der schönsten sozialen Position fertig.
Ein schauerlicher Materialismus predigt uns, dass die Liebe nichts mit dem Geld zu tun habe und das Geld nichts mit der Liebe. Die idealistische Auffassung gibt wenigstens eine Preisgrenze zu, bei der die wahre Liebe beginnt. Es ist zugleich die Grenze, bei der die Eifersucht dessen aufhört, der um seiner selbst willen geliebt wird. Sie hört auf, wiewohl sie jetzt beginnen könnte. Das Konkurrenzgebiet ist verlegt.
Die Rechtsstellung des Zuhälters in der bürgerlichen Gesellschaft ist noch nicht geklärt. Ethisch ist seine Rolle, wenn er bloß achtet, wo geächtet wird. Ethisch ist er als Antipolizist. Also ein Auswurf der Gesellschaft. Vollends, wenn er für seine Überzeugung Opfer bringt. Wenn er aber für seine Überzeugung Opfer verlangt, fügt er sich in den Rahmen der Gesellschaftsordnung, die zwar dem Weibe Prostitution nicht verzeiht, aber dem Manne Korruption.
Verachtung der Prostitution? Die Huren schlechter als Diebe? Wisst: Liebe nimmt nicht nur Lohn, Lohn gibt auch Liebe!
Hierzulande gibt es unpünktliche Eisenbahnen, die sich nicht daran gewöhnen können ihre Verspätungen einzuhalten.
Ein skrupelloser Maler, der unter dem Vorwand, eine Frau besitzen zu wollen, sie in sein Atelier lockt und dort malt.
Das Gesetz enthält leider keine Bestimmung gegen die Männer, die ein unschuldiges junges Mädchenunter der Zusage der Verführung heiraten und wenn das Opfer eingewilligt hat, von nichts mehr wissen wollen.
Die einen verführen und lassen sitzen; die andern heiraten und lassen liegen. Diese sind die Gewissenloseren.
Versorgung der Sinne! Die bangere Frauenfrage.
Ich bin doch gewiss bereit, einen Gegner nachsichtig zu beurteilen. Aber ich muss so gerecht sein und zugeben, dass die Artikel, die H. über seinen Prozess geschrieben hat, der letzte Schund sind.
Eine untrügliche Probe der Dummheit: Ich frage einen Diener, um welche Zeit gestern ein Besuch da war. Er sieht auf seine Uhr und sagt: »Ich
weiß nicht, ich hab’ nicht auf die Uhr gesehen!« Einen gewissen Grad von Unfähigkeit, sich geistig zu regen, wird man jenen »ausübenden« Künstlern, die nicht das Wort gestalten, den Malern und Musikern, zugutehalten dürfen. Aber man musssagen, dass die Künstler darin die Kunst zumeist überbieten und an den Schwachsinn einer Unterhaltung Ansprüche stellen, die über das erlaubte Maß hinausgehen. Dies gilt nicht von den vollen Persönlichkeiten, die auch außerhalb der Kunst von Anregungsfähigkeit bersten, nur von den Durchschnittsmenschen mit Talent, denen die Kunst fürs Leben nichts übriggelassen hat. Zuweilen ist es unmöglich, einen Menschen, dessen Denken in Tönen oder Farben zerrinnt, auf der Fährte eines primitiven Gedankens zu erhalten. Es war ein preziöser Dichter, der einmal, als man ihm eine Gleichung mit zwei Unbekannten erklärte, unterbrach und sein vollstes Verständnis durch die Versicherung kundgab, die Sache erscheine ihm nunmehrviolett. Ein Maler wäre auch dazu nicht imstande und ließe einfach die Zunge heraushängen. Ein Musiker aber täte nicht einmal das. Ich habe Marterqualen in Gesprächen mit Geigenspielern ausgestanden. Als einmal eine große Bankdefraudation sich ereignete, gratulierte mir einer. Da ich bemerkte, dass ich nicht Geburtstag habe, meinte er, ich hätte mich als Propheten bewährt. Da ich replizierte, dass ich meines Erinnerns die Defraudation nicht vorhergesagt hätte, wusste er auch darauf eine Antwort und sagte: »Nun, überhaupt diese Zustände«; und ließ in holdem Blödsinn sein volles Künstlerauge auf mir ruhen. Es war ein gefeierter Geigenspieler. Aber solche Leute sollte man nicht ohne Geige herumlaufen lassen. So wenig wie es erlaubt sein sollte, in das Privatleben eines Sängers einzugreifen. Für Männer und Frauen kann die Erfahrung nur eine Enttäuschung bedeuten. Sobald ein Sänger den Mund auftut, um zu sprechen, oder sich sonst irgendwie offenbaren möchte, gehts übel aus. Der Maler, der sich vor seine Leinwand stellt, wirkt als Klecks, der Musiker nach getaner Arbeit als Misston. Wer’s notwendig hat, soll in Gottes Namen Töne und Farben auf sich wirken lassen. Aber es kann nicht notwendig sein, den Dummheitsstoff, der in der Welt aufgehäuft ist, noch durch die Möglichkeiten der unbeschäftigten Künstlerseele zu vermehren.
Ein pornographischer Schriftsteller kann leicht Talent haben. Je weiter die Grenzen der Terminologie, desto geringer die Anstrengung der Psychologie. Wenn ich den Geschlechtsakt populär bezeichnen darf, ist das halbe Spiel gewonnen. Die Wirkung eines verbotenen Wortes wiegt alle Spannung auf und der Kontrast zwischen dem Überraschenden und dem Gewohnten ist beinahe ein Humorelement.
Es gibt seichte und tiefe Hohlköpfe. In der Vogelperspektive aber ist zwischen einem Paul Goldmann und einem Professor der Philosophie kein
Unterschied.
Es wäre immerhin möglich, dass eine Sitzung des Vereins reisender Kaufleute sich als eine Versammlung der Väter unserer jungwiener Dichter
entpuppte.
Die Boheme hat sonderbare Heilige. Ein Einsiedler, der von Wurzen lebt!
Ein amerikanischer Denker: Deutsche Philosophie, die auf dem Transport Wasser angezogen hat.
Die Persönlichkeit hat’s in sich, das Talent an sich.
Es ist etwas Eigenes um die gebildeten Schönen. Sie krempeln die Mythologie um. Athene ist schaumgeboren und Aphrodite in eherner Rüstung dem Haupt Kronions entsprossen. Klarheit entsteht erst wieder, wenn die Scheide am Herkulesweg ist.
Sie gewährt, an die Pforte ihrer Lust zu pochen und lässt alle die Schätze sehen, von denen sie nicht gibt. Die Unlust des Wartenden bereichert indes ihre Lust: sie nimmt dem Bettler ein Almosen ab und sagt ihm, hier werde nichts geteilt.
Wir kürzen uns die Zeit mit Kopfrechnen ab. Ich ziehe die Wurzel aus ihrer Sinnlichkeit und sie erhebt mich zur Potenz.
In der Nacht sind alle Kühe schwarz, auch die blonden.